Der Topos der Menschenverbesserung
Der Mensch kann sich verbessern. Setzt man diese Überzeugung als allgemeingültig voraus, so wird der Mensch dadurch automatisch zu einem Vorhaben – weil er sich dann nämlich immer noch vor sich hat. Innerhalb eines kosmischen bios stellt er jene Spezies dar, mit der sich noch etwas anfangen lässt. Und wenn der Mensch etwas mit sich anfängt, trägt dies naturgemäß den Stempel des anderen, nicht nur im Blick darauf, was der Mensch von sich selbst hält, sondern auch, was er von sich hat. Der Kern unserer westlichen kulturellen Selbsterfahrung führt uns regelmäßig zu der Erkenntnis: Der Mensch ist mit sich noch nicht fertig. Und wir verfehlen seinen Sinn, wenn wir ihn nicht als ein Tier mit Tendenz auffassen, das mit sich woanders hinwill – biologisch, kulturell, intel lektuell, stilistisch.
Spätestens seit der griechischen Antike nimmt Europa den Menschen als ein Wesen wahr, das »in sich selbst über das Prinzip der Entstehung verfügt«22. Das Spektrum der unterschiedlichen Möglichkeiten, sich selbst hervorzubringen, umfasst dabei sowohl Richtung als auch Ziel. Dieses Prinzip der Entstehung modelliert damit neben einer äußeren (kosmischen) auch eine intrinsische (individuelle) Bewegung. Die Differenz in der Zeit wiederum, die durch die Bewegung entsteht, eröffnet die Chance, ein Früher und ein deutlich unterscheidbares Später zu zeichnen. So wird es möglich, gleichzeitig mit anderen anders werden zu können – im Sinn von Entelechie, die die Welt strukturiert.
Mit diesen Überlegungen gibt Aristoteles dem europäischen Denken ein energetisches Modell des Lebens vor. Der Begriff der energeia eröffnet eine Sichtweise, die im bios eine Bewegung der Verwirklichung von Potenzialen erkennt. Das Leben ist zweckbestimmt, bestimmt dazu, noch etwas aus sich machen zu müssen, und dazu, dass es »im Sinne der ihm eigentümlichen Leistungsfähigkeit vollendet wird«23. Man verstünde das Menschsein also nur höchst ungenügend, würden die Bedeutung des Performativen (energeia) und der Ausrichtung des selbstentwickelnden Handelns (Entelechie) darin dauerhaft verkannt werden. Denn in Wahrheit besteht Leben in aktiver Selbstformung. Sie erfolgt entlang einer Richtung, deren Ziel, die vollendete Fähigkeitskapazität, nahezu identisch ist mit dem geglückten und glücklichen Leben: »Das entsprechende Prinzip ist der Mensch«24.
Dieses anthropologische Konzept war sicherlich eines der wirkmächtigsten, das die westliche Kultur geprägt hat. Ihm zufolge musste sich jeder Einzelne seiner energetischen Bestimmung stellen und sein Möglichstes unternehmen, sich durch verstandesgeleitetes (dianoetisches) und tugendgeleitetes (ethisches) Tun zur Entfaltung zu bringen. Nach der Neuübersetzung der maßgeblichen aristotelischen Schriften durch Leonardo Bruni schließt die Neuzeit unmittelbar an dieses Denken an, durch die Formulierung des humanistischen Bildungsprogramms der Renaissance. Agricola gründete seinen Bildungsgedanken bereits auf den Begriff des Werks (ergon), als das der Mensch sich zu schaffen und zu vollenden hat.25 Dieser Prozess soll, folgt man seinem Ratgeber De formando studio, durch akademische Studien in einer entscheidenden Bildungsphase intensiviert und stabilisiert werden. Drei Dinge stehen dabei im Vordergrund: Wissenserwerb, Urteilsfähigkeit und intellektuelle Kreativität.
Dass Menschen nicht als Menschen geboren, sondern durch Bildung erst dazu gemacht werden, ist eine Auffassung, mit der Erasmus im 16. Jahrhundert den Konsens einer neuen Wissenselite zum Ausdruck brachte. Das humanistische Lehrprogramm ist ein Lebensprogramm, dessen Grundlage die neueste Medientechnik bildete, der Buchdruck. Bei Erasmus offenbart dieses Programm vielleicht am deutlichsten seine antibarbarische, zivilisierende Stoßrichtung. Nicht zuletzt entwickelt die pädagogische und wissenstechnische Zurichtung des Individuums aber auch eine Spitze gegen die herrschende, auf Herkunft und Stand fußende Gesellschaftsordnung. Wenn das am Einzelnen ansetzende selbstbildnerische Leistungsprinzip nämlich zusehends ins Zentrum einer allgemeinen sozialen Neubewertung rückt, entstehen daraus – wie etwa durch Melanchthons nova schola – Reformkräfte, die einer bürgerlichen Ordnung den Weg ebneten. Nur schwer wird man darum Stefan Zweig in seiner Bewertung widersprechen können, dem humanistischen Bildungsidealismus ein »fast religiöses Vertrauen in die Veredlungsfähigkeit der menschlichen Natur durch beharrliche Pflege des Lernens und Lesens« zu attestieren, dessen politischer Traum »eine Herrschaft der Bildungsaristokratie«26 war.
Die Frage, ob der Mensch gut oder böse ist, von der die Neuzeit umgetrieben wird, lässt sich also mit Aristoteles und dessen Nachfolgern durch eine Logik der Vervollkommnung beantworten: Der Mensch ist weder böse noch ist er gut, jedoch kann er immer besser werden. Das Wunder Mensch, von dem der antike Asklepius-Traktat spricht, bedarf, damit es sich wirklich vollziehen kann, der Selbstentfaltung. Der Sinn von Individualität erfüllt sich erst in einem ehrgeizigen Qualifikationsprozess mit Blick auf die eigenen Möglichkeiten.
Allerdings wird der Epoche des Humanismus dabei ebenfalls bewusst, dass das menschliche Ingenium auch bedenkliche und dunkle Seiten aufweist. Es setzt nämlich voraus, dass jeder in grundsätzlich ungesicherter Position in der Welt lebt. So unfertig wir sind, so offen, so unbestimmt und riskant ist unser Leben. Nicht bloß sieht sich das selbstgestaltende Sollen einer beträchtlichen Orientierungslosigkeit gegenüber, es wird überdies von Motiven der Waghalsigkeit und Vermessenheit durchsetzt. Gerade der Idealtypus des uomo universale muss erkennen, dass seine Freiheitsgrade ihre Kehrseite nicht verbergen: von allen anderen Lebewesen abgetrennt und als kosmischer Sonderling ausgesetzt zu sein. Diese Erkenntnis prägt ein neuartiges Gefühl existenzieller Unsicherheit und Einsamkeit. In einem extremen Sinn zeigt sich menschliches Leben plötzlich als prekär und anders.
Das eindrucksvollste Zeugnis für diese neuzeitliche Selbsterfahrung gibt Giovanni Pico della Mirandola. Seine Schrift De dignitate hominis formuliert die menschliche Ausnahmestellung in Form einer majestätisch-göttlichen Proklamation an den Menschen: »Wir haben dir keinen bestimmten Wohnsitz noch ein eigenes Gesicht, noch irgendeine besondere Gabe verliehen, o Adam, damit du jeden beliebigen Wohnsitz, jedes beliebige Gesicht und alle Gaben, die du dir entschieden wünschst, auch nach deinem Willen und deiner Meinung haben mögest. Den übrigen Wesen ist die Natur durch die von uns vorgeschriebenen Gesetze bestimmt und wird dadurch in Schranken gehalten. Du bist durch keinerlei unüberwindliche Schranken gehemmt, sondern du sollst nach deinem eigenen Willen, in dessen Hand ich dein Geschick gelegt habe, sogar jene Natur dir selbst vorbestimmen. […] Es steht dir frei, in die Unterwelt des Viehs zu entarten. Es steht dir ebenso frei, in die höhere Welt des Göttlichen dich durch den Entschluß deines eigenen Geistes zu erheben.«27
Damit scheint dem Menschen alles offen, Großartiges und Schreckliches gleichermaßen. Es wird Machiavelli sein, für den sich in diesem ungeheuren anthropologischen Raum die Grundzüge einer politischen Moderne abzeichnen: jene Machttechnik, die aus individueller Qualität entsteht, die politischen Verstand, strategisches Raffinement und einen überwältigenden Willen zusammenführt und die sich in ihrer Herrschaftsgewalt schließlich auch zur Unterdrückung und Ausrottung von Gegnern bereitfindet.28 Ein Faszinosum entsteht: der Ausnahmemensch im Negativen, der große, geniale Verbrecher im Shakespeare-Format, das menschliche Monstrum.
Damit taucht zum ersten Mal eine moderne Ahnung davon auf, der Mensch könnte zur Freiheit verurteilt sein. Sein Schöpfungsprivileg, sich selbst bestimmen und Träume eigener Größe umsetzen zu können, verstärkt jedoch gleichzeitig das Gefühl der kreatürlichen Misere, die sich mit seiner stofflichen Natur verbindet. Denn bei aller Freiheit zur Selbstschöpfung bleibt jeder Mensch dazu bestimmt, zu verfallen und zu verschwinden. Im Hintergrund jenes Selbstbearbeiters und autoreferenziellen Künstlers, als der der Mensch der Neuzeit sich formt, rumort beständig ein anderes, schmerzliches Wissen: dasjenige um eine unverfügbare, nicht in einen Werkbegriff einzuschließende Natur. Die Unruhe des verderblichen Fleischs bleibt virulent und wird – so erklärt es uns Agricola – durch die Beschäftigung mit der Natur und der Materie besonders gegenwärtig gehalten.
Gleichwohl ist es das bildungsbasierte Programm der Menschenverbesserung, das einer weltlichen Reformation ihr zentrales Motiv verschafft. Für die westliche Welt wird es zu einem entscheidenden Teil ihres Selbstverständnisses. Es prägt, über den Humanismus der Renaissance und die Aufklärung hinaus, nicht nur den kollektiven Daseinsstil, sondern...