Land ohne Volk?
Der Krieg von 1948 ist nicht zu erklären ohne die britische Kolonialpolitik in Palästina (1916–1939) und die daraus folgenden Konsequenzen. Aber der Kampf um Palästina währt im Grunde schon über einhundert Jahre. So lange gibt es bereits den Zuzug jüdischer Siedler aus Europa ins Gelobte Land. Die Besiedlung war eine Folge der Pogrome in Russland und der Unterdrückung der Juden in anderen osteuropäischen Ländern, insbesondere in den Jahren 1882 bis 1903.
Am Vorabend dieser ersten jüdischen Einwanderungswelle lebten in Palästina nur rund 24000 Juden. Und dies von alters her. Damals spielte die Zionistische Organisation von Theodor Herzl noch keine Rolle, denn sie wurde erst 1897 gegründet. Bis zum ersten Zionistenkongress in Basel waren 18 jüdische Siedlungen entstanden, in denen 5000 Menschen lebten. Die meisten Siedlungen konnten nur überleben, weil sie finanziell von Baron Edmond de Rothschild unterstützt wurden. Der Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 fiel mit dem Ende der zweiten jüdischen Einwanderungswelle nach Palästina zusammen, die wiederum durch die Judenverfolgung in Osteuropa ausgelöst worden war. Von den 47 neuen jüdischen Siedlungen standen jetzt aber schon 14 unter dem Einfluss der Zionistischen Organisation. Bemerkenswert ist, dass von den verfolgten Ostjuden nur etwa zwei Prozent den Weg nach Palästina fanden. Die überwältigende Mehrheit wanderte nach Amerika und Westeuropa aus. Das lag vor allem an der Haltung der osmanischen Regierung in Konstantinopel, unter deren Oberhoheit Palästina damals stand. Sie wollte eine stärkere jüdische Einwanderung verhindern, weil sie die Gefahr eines jüdischen Staates im Staate und den Widerstand der arabischen Bevölkerung fürchtete.
Die Behauptung, Palästina sei ein »Land ohne Volk« gewesen, bevor es die zionistischen Zuwanderer aus Europa in Besitz nahmen, hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun, wie die Zahlen belegen. Denn 1914 lebten in Palästina 85000 Juden. Das waren jedoch nur 12,3 Prozent der Gesamtbevölkerung von 689000 Menschen.[10] Die Juden stellten zu diesem Zeitpunkt also eine kleine Minderheit dar im Verhältnis zu der fast 90-prozentigen arabischen Mehrheit.
Lange bevor Theodor Herzl seine programmatische Schrift »Der Judenstaat« verfasste, verstand sich das britische Empire als besondere Schutzmacht der Protestanten und der Juden Palästinas. Die anderen europäischen Mächte hatten das »Heilige Land« in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ebenfalls im Visier. So trat Frankreich als Beschützer aller Katholiken im Vorderen Orient auf, während Russland sich auf eher zurückhaltende Art um die orthodoxen Christen in Jerusalem kümmerte. Da keine dieser rivalisierenden Mächte damals den Bestand des Osmanischen Reiches aufs Spiel setzen wollte, fiel es auch niemandem ein, Palästina ganz für sich zu beanspruchen. Das sollte sich gegen Ende des Ersten Weltkriegs ändern.
Das britische Interesse an Palästina hatte noch eine besondere religiöse Ausprägung. Sie wurzelte in dem Glauben, dass Christus unmittelbar vor Ende der Welt mit den auf erweckten Gerechten ein Tausendjähriges Reich des Friedens errichten werde. Dieses anglikanische Konzept des Messianismus gipfelte in dem Glaubensatz der »restoration of the Jews«.[11] Das heißt, die »Rückführung« der in der Welt zerstreuten Juden in das Land ihrer Väter wurde als unbedingte Voraussetzung für die Erfüllung der biblischen Prophezeiung über das Ende der Zeiten betrachtet. Dabei war ausdrücklich die Rede von dem »unveräußerlichen Recht der Juden auf das biblische Land«.
Es ging also um die Rückkehr der Juden nach Palästina – verbunden mit der Annahme der christlichen Botschaft, um das Königreich Christi am Ende der Welt zu ermöglichen. Doch wie war diese historisch einmalige Bekehrung der Juden zu bewerkstelligen? Durch göttliche Inspiration. Und das könne durchaus erst geschehen – so meinten die Verfechter dieser Ideen –, nachdem die Juden das Land als ihr gottgebenes Eigentum wieder in Besitz genommen hätten.
Dieser obskur anmutende Endzeitglauben soll erwähnt werden, weil er politische Folgen hatte, die über das Religiöse hinausgehen. Nicht die Doktrin als solche, aber die darin enthaltene Kernidee, dass Palästina ausschließlich das angestammte Land der Juden sei, entwickelte sich zu einer allgemein verbreiteten Überzeugung in Großbritannien. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich dort die Idee von der selbstverständlichen »Rückführung« der Juden in ihre »gottgegebene Heimat« zu einem Gemeinplatz entwickelt.[12]
Die einheimische arabische Bevölkerung wurde damals in vielen der englischen Palästina-Veröffentlichungen mit rassistischen Vokabeln belegt und z.B. als »verheerend unwissend, fanatisch und vor allem eingefleischte Lügner«[13] bezeichnet. Man betrachtete sie als nützliche Diener der »wahren Eigentümer« des Landes, vorausgesetzt, sie entwickelten die dafür erforderlichen Qualitäten durch entsprechende Anleitung.
Die Idee von der »gottgewollten Rückführung« der Juden nach Palästina ist keineswegs nur von religionshistorischer Bedeutung. Es gibt eine direkte Verbindungslinie von den evangelistischen Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts zu den »christlichen Zionisten« in den heutigen USA. Diese bibelgläubigen »evangelicals« unterstützen Israel rückhaltlos und glauben unverbrüchlich an die beschriebene Endzeitlehre. Sie erwarten die zweite Erscheinung Christi – allerdings erst dann, wenn die Juden wieder in das Gelobte Land zurückgekehrt sind. So kommt es, dass Millionen dieser Christen in Amerika das israelische Besatzungsregime in den palästinensischen Gebieten für richtig und notwendig halten – und die Siedlungspolitik gar als göttliche Fügung verstehen, die das Ende der Zeiten einleitet, bevor der Messias zum zweiten Mal erscheint. Die christliche Rechte hat inzwischen erheblichen Einfluss innerhalb der Republikanischen Partei und damit auch im amerikanischen Kongress, der im Frühjahr 2002 Sharons Militäroperationen gegen die Palästinenser nicht nur nachträglich gerechtfertigt, sondern ihm sogar einen Freibrief für die Zukunft ausgestellt hat.
Doch zurück nach Großbritannien am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Zu dieser Zeit hatte sich dort nicht nur das Verständnis vom unveräußerlichen Recht der Juden auf Palästina verfestigt. Immer deutlicher entwickelte sich gleichzeitig die Vorstellung, dass dem Empire bei der »Rückführung« der Juden die entscheidende Rolle zukommen müsse. Vor diesem Hintergrund ist die britische Palästina-Politik zu sehen, die auf einer britisch-zionistischen Partnerschaft beruhte, in der die imperialistischen Interessen Londons mit der Rückführungsideologie und den Zielen der Zionisten verschmolzen.
So gab am 2. November 1917 Außenminister Balfour in London eine Erklärung ab, in der er im Namen der britischen Regierung sein Wohlwollen für die Errichtung einer »nationalen Heimstätte« für das jüdische Volk in Palästina ausdrückte. Balfour erklärte zudem, seine Regierung wolle ihr Bestes tun, um die Erreichung dieses Ziels zu erleichtern. Dies geschah, ohne die einheimische arabische Bevölkerung befragt zu haben. Lord Balfour begründete diese Haltung zwei Jahre später mit den Worten, der Zionismus sei von »weit tieferer Bedeutung als die Wünsche und Vorurteile der 700000 Araber, die jetzt das uralte Land bewohnen«.[14]
Mit der »Balfour-Deklaration« verfolgte Großbritannien mehrere Ziele. Kurzfristig sollten – der Erste Weltkrieg war noch nicht beendet – die jüdischen Gemeinschaften in aller Welt auf die britische Seite gezogen werden. Der Hauptgrund für diese »Sympathieerklärung« bestand aber in dem Willen des Empire, sich jenseits des Suez-Kanals festzusetzen und die alleinige Kontrolle über Palästina zu erringen. Deshalb wollten die Briten die Rolle des Schutzherrn für die »nationale Heimstätte« der Juden übernehmen. Hier unterstützte London die Bestrebungen der Zionisten, die genau wussten, dass sie sich in Palästina nur im Schutz einer Großmacht niederlassen konnten. Denn wie konnte sonst die überwältigende arabische Bevölkerungsmehrheit dazu gebracht werden, etwas hinzunehmen, das gegen ihren Willen geschehen würde.
Palästina sollte die Landverbindung zwischen dem britisch beherrschten Ägypten und dem künftig von London kontrollierten Mesopotamien – dem Gebiet des späteren Irak -darstellen. Und zwar ohne dass sich eine andere europäische Macht dazwischenschieben konnte.
Es steht heute fest, dass die verantwortlichen Politiker bei der Balfour-Deklaration daran dachten, in Palästina durch Einwanderung eine jüdische Mehrheit zu schaffen, was dann die Gründung eines jüdischen Staates in Palästina nach sich ziehen würde.[15] Die Araber – jene 90 Prozent der Bevölkerung Palästinas – betrachtete man in London als eine zu vernachlässigende Größe, als ein »Problem«, mit dem das Empire fertig zu werden hatte.
Im Juli 1922 erhielt Großbritannien das Palästinamandat vom Völkerbund. Der Mandatsvertrag umfasste auch die Balfour-Erklärung. Damit waren die britischen Verpflichtungen gegenüber den Zionisten in Palästina rechtlich verankert und das Selbstbestimmungsrecht der Araber ausgeschlossen. Nun war das eingetreten, wovor Lord Curzon – der Gegenspieler von Lord Balfour in der britischen Regierung – eindringlich gewarnt hatte: die Anerkennung der historischen Verbindung der...