Einleitung
Der Morgen des 22. Juni 1941 begann für Winston Churchill mit einem zufriedenen Lächeln. Lange hatte der britische Premier am zurückliegenden Abend mit seinem Außenminister Anthony Eden und John Winant, dem US-amerikanischen Botschafter, die Kriegslage in Europa diskutiert. Es war kein leichtes Treffen gewesen, und das gute Essen, die ausgesuchten Spirituosen und unvermeidlichen Zigarren dienten der abendlichen Entspannung ebenso wie der Sinnesschärfung in den Stürmen der Zeit. In rasender Geschwindigkeit hatten sich die seit Monaten schwelenden Gerüchte über einen deutschen Angriff auf die Sowjetunion verdichtet und waren Gewissheit geworden. Dass sich der Krieg, in dessen Verlauf Hitlers Wehrmacht Europa besetzt hatte und das britische Weltreich bedrohte, nun gen Osten richtete, bot Churchill die Chance, neue Bündnisse zu schmieden; Bündnisse, so mächtig, dass die Deutschen auf dem Kontinent geschlagen, die Invasionsgefahr vom Inselreich abgewandt und das Empire vor der Expansionslust der Achsenmächte in Fernost geschützt sein würde. Für seinen Plan benötigte er die Unterstützung der Amerikaner, und aus diesem Grund hatte Churchill Roosevelts Botschafter nach Chequers eingeladen, wo ihm am Vorabend des 22. Juni 1941 der Coup gelang. Amerika willigte ein, der Sowjetunion im Falle eines deutschen Angriffs auf das Land eine trilaterale Allianz gegen Hitler anzubieten, inklusive umfangreicher Wirtschaftshilfen und einer militärischen Unterstützung, ohne die Stalin den für sein Land existentiellen Kampf nicht gewinnen konnte. Die Allianz der großen Drei, die den Zweiten Weltkrieg vier Jahre später siegreich beendete, war geschmiedet, noch bevor die ersten Flugzeuge von Görings Luftwaffe sowjetische Städte bombardierten. Churchill hatte alles richtig gemacht, und so lächelte er, als Eden ihm die Nachricht vom Überfall der Deutschen überbrachte.[1]
Abb. 1 Unterzeichnung des deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrages am 23./24. August 1939 im Moskauer Kreml, in der Mitte Stalin, umringt von Außenkommissar Wjatscheslaw Molotow, Botschaftsrat Gustav Hilger, Legationsrat Andor Hencke und Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop (links mit verschränkten Armen)
Vor dem Hintergrund des apokalyptischen Kriegspanoramas, das auf den Juni folgte, und im Angesicht des millionenfachen Sterbens irritiert die Zufriedenheit, mit der Churchill dem deutschen Einmarsch entgegensah. Hätte er nicht besser erschrocken sein sollen? Dabei war er nicht der Einzige, den die Nachricht zu entlasten schien. Selbst in Moskau mischten sich unter das Erschrecken und die Angst Gefühle der Erleichterung, hauptsächlich bei den aus aller Herren Länder geflüchteten Linken und den Kadern der Kommunistischen Internationale (Komintern), deren schon geplante Auflösung nun vom Tisch war.[2] Und auch in Berlin teilten viele die Gefühle von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels, der seinem Tagebuch anvertraute, dass nun die «Last vieler Wochen und Monate» von ihm abfalle.[3] Für die Zeitgenossen bedeutete der Beginn des deutsch-sowjetischen Krieges – rückblickend eine der zentralen Zäsuren in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs[4] – zunächst das Ende einer Gegenwart, die Demokraten wie Winston Churchill, Kommunisten wie Georgi Dimitroff und Nationalsozialisten wie Joseph Goebbels gleichermaßen schwer ertrugen: die Gegenwart des Hitler-Stalin-Pakts.
Das Bündnis zwischen Stalin und Hitler bestimmte die ersten 22 Monate des Krieges im Osten und im Westen Europas. Dennoch kommt es oft wie ein Präludium daher, wie ein hinführendes Vorspiel zum «eigentlichen» Krieg, der, so auch der Tenor vieler Geschichtsdarstellungen, erst an jenem Junimorgen mit dem erbitterten Kampf zwischen Hitlers «Drittem Reich» und Stalins Sowjetunion begann.[5] In der teleologischen Sichtweise läuft der gesamte Krieg auf diesen Moment zu, in dem der Entscheidungskampf zwischen Nationalsozialismus und Stalinismus aller Gewalt im Zeitalter der Ideologien Sinn verleihen sollte. Die Kriegsgegnerschaft zwischen Hitler und Stalin bestätigte die Grundspannung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und war für Zeitgenossen wie für die Nachgeborenen das sichere Terrain der Weltkriegserinnerung, während die Geschichte ihres Pakts ein damals wie heute beeindruckendes Unbehagen auslöste. Die Beobachtung dieses Unbehagens, manchmal sogar einer Angst, im weltkriegsauslösenden Bündnis von Nationalsozialismus und Stalinismus mehr zu sehen als ein atonales Vorspiel, stand am Beginn dieses Buches, das an frühere Überlegungen anknüpft.[6] Sie verstärkte die Neugier und den Willen, sich noch einmal diesem Kriegskapitel zuzuwenden und dabei einer für die Geschichtswissenschaft grundlegenden Aufgabe nicht auszuweichen; nämlich den Geschichten zu begegnen, die irritieren und vom Unbehagen verstellt werden.
Dass Hitler und Stalin einen Pakt schlossen – meist wird damit nur der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag vom 23. August 1939 identifiziert –, ist bekannt.[7] Jeder, der sich auch nur flüchtig mit dem Thema beschäftigt hat, kennt die Bilder, die Hitlers Leibfotograf Heinrich Hoffmann von der nächtlichen Vertragsunterzeichnung im Moskauer Kreml schoss. Auf ihnen ist Stalin umringt von seinem Dolmetscher Pawlow, von Boris Schaposchnikow, dem Generalstabschef der Roten Armee, von Botschaftsrat Gustav Hilger und dem deutschen Botschafter Friedrich-Werner Graf von der Schulenburg, während die Chefdiplomaten beider Regime, Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Molotow, das Bündnis mit ihren Unterschriften besiegelten.[8] Hoffmanns Fotografien sind Bildikonen, zu deren Nachteilen die Suggestion gehört, die Geschichte sei mit Bildern, die Bände sprechen, (aus)erzählt. Was dieser Pakt nach sich zog, diskutierte die Geschichtswissenschaft für eine kurze Zeit in den 1990er Jahren, in denen das berüchtigte geheime Zusatzprotokoll zum Nichtangriffsvertrag nach Jahrzehnten der staatssozialistischen Tabuisierung und Leugnung veröffentlicht wurde.[9] Für das nationale Selbstverständnis der sich aus dem sowjetischen Imperium lösenden osteuropäischen Staaten besaßen die historischen Debatten jener Jahre eine immense Bedeutung. Auf der Grundlage des geheimen Zusatzprotokolls hatte Stalin Polen und das Baltikum schließlich in sein Reich gezwungen, und aus dieser historischen Erfahrung leiteten die Länder einen politischen Gedenk- und Erinnerungsanspruch ab. So prägte der Pakt die zeitgenössischen Kontroversen um Europas Erinnerung ganz maßgeblich. Die Forderungen nach der gleichberechtigten Anerkennung der Opfer stalinistischer Gewalt neben denen des Nationalsozialismus und nach einer europäischen Erinnerung an den Hitler-Stalin-Pakt sind seitdem, einerseits, als Angriff auf die Singularität des Holocaust missverstanden worden.[10] Tatsächlich ging es in diesen Debatten nicht darum, die singuläre Bedeutung des Holocaust zu mindern, sondern ein westeuropäisch zentriertes Geschichtsbild zu hinterfragen, das die grundstürzende Tragik Osteuropas im 20. Jahrhundert verkannte. Es lohnt sich darüber nachzudenken, ob und inwiefern den europäischen Erinnerungsdebatten das (westliche) Unbehagen an Geschichten wie der des Hitler-Stalin-Pakts zugrunde lag, das dann auf die Erinnerungskonkurrenz aus dem «peripheren» Osten übertragen wurde. Dass die dort vehement erhobenen Ansprüche, andererseits, den Eindruck stärkten, der Hitler-Stalin-Pakt sei eine vornehmlich osteuropäische Angelegenheit, gehört ebenfalls zu den Resultaten der Geschichtsaufarbeitung in den Jahrzehnten nach dem Kalten Krieg, und nicht einmal die Einführung des 23. August als europäischer Gedenktag an die Opfer von Stalinismus und Nationalsozialismus konnte daran viel ändern.
Nach wie vor wird die historische Bedeutung, die der Hitler-Stalin-Pakt für die ersten Jahre des Zweiten Weltkriegs besitzt, unterschätzt. Auf das «Dritte Reich» bezogen, fristet er ein Dasein als taktischer Schachzug, der Hitler den Feldzug gegen Polen gestattete, ohne an der Absicht, die Sowjetunion zu vernichten, auch nur einen Deut zu ändern. Aus der sowjetischen Perspektive galt er als Versuch Stalins, den vermeintlich zwangsläufigen Überfall hinauszuzögern; eine Interpretation, die Stalin 1941 selbst erfolgreich in die Welt setzte. Die in den 1990er Jahren favorisierte Lesart wiederum lenkte den Blick auf die im geheimen Zusatzprotokoll vereinbarte geopolitische Teilung Osteuropas. Und obschon die Gültigkeit dieser Interpretationen nicht ernsthaft bezweifelt werden kann – jede hat ihre historische Berechtigung –, erfassen sie die Bedeutung, die das...