2. Der Verfasser: Ibn Naqiya
Über die Lebensumstände Ibn Naqiyas ist nicht viel bekannt. Er war zu seiner Zeit nicht sonderlich bedeutend – sonst hätte es nicht ein knappes Jahrtausend gedauert, bis man in Ost und West auf ihn aufmerksam wurde. Er scheint seine Geburtsstadt Bagdad nur selten oder nie verlassen zu haben und war vermutlich ein begüterter Kaufmann. Sein voller Name lautet in der für arabische Namen typischen, streng männlichen Filiationsreihe, welche die makellose Abstammung garantieren sollte: Abdallah (nach anderen: Abdalbaqi) Ibn Muhammad Ibn al-Husain Ibn Dawud Ibn Naqiya al-Bagdadi Abu l-Qasim Ibn Abi l-Fath al-Hanafi. Der Name «Naqiya» ist eindeutig nicht arabisch, sondern syrisch-aramäisch. Es kann also sein, dass sich unter Ibn Naqiyas entfernteren Vorfahren syrisch-aramäisch sprechende Christen oder Juden befanden. Eine arabische Philosophie hätte es ohne solche Juden und Christen, welche die Übersetzer und die Hauptvermittler griechischer Kultur an die Muslime waren, nie gegeben. Ibn Naqiyas arabische Biographen loben ihn häufig, setzen aber ebenso oft an ihm aus, dass er zu Unverschämtheiten neigte – damit waren meist seine Verwandlungen gemeint und wohl auch einige seiner Gedichte. Überdies wurde ihm vorgeworfen, er habe am islamischen Recht und an der islamischen Religion überhaupt gerüttelt.[5] Und manchem war selbst sein frommes Buch der Perlen über die Vergleiche im Koran nicht orthodox genug. Dem ägyptischen Herausgeber der Makamen des Ibn Naqiya, Hasan Abbas, zufolge musste Ibn Naqiya sich zeitlebens ausdrücklich von ungenannten Freigeistern distanzieren, weil diese die Existenz des Teufels leugneten.[6]
Für das Jahr 1092, das Todesjahr Ibn Naqiyas, vermeldet der arabische Historiker Ibn al-Athir (gest. 1233) in seiner nach dem islamischen Kalenderjahr geordneten Universalgeschichte Die vollkommene Chronik unter anderem die Ermordung des Wesirs Nizamulmulk, des Stifters der Nizamiyya, durch einen Assassinen, das heißt einen schiitischen Fanatiker. Unter der Rubrik «Einzelne Begebenheiten» berichtet der Autor weiter über Teuerungen, Feuersbrünste, Überschwemmungen, Kometen und Seuchen. Regelmäßig notiert er auch den Tod bekannter Zeitgenossen. Gegen Ende findet sich die folgende Notiz über Ibn Naqiya:
In diesem Jahr starb der Bagdader Dichter Abdalbaqi Ibn Muhammad Ibn al-Husain Ibn Naqiya. Er war ein Gelehrter in der religiösen Tradition, stand aber im Verdacht, die religiösen Gesetze verleumdet zu haben. Als er gestorben war, fand man eine seiner Hände zur Faust geballt, und selbst der Totenwäscher vermochte sie zuerst nicht zu öffnen. Mit vieler Mühe ließ sich die Faust dennoch auftun, und man fand auf seiner Handfläche die folgenden frommen Verse geschrieben:
«Ich ging zu einem Herrn ein, der den Gast nicht darben lässt,
Und hoffe auf Erlösung von der Hölle ew’ger Qual.
Gott fürchte ich und stehe hier in meiner Hoffnung fest,
Denn Gottes reiche Gnade gehet über Maß und Zahl.»
Diese Verse werden in vielen arabischen Biographien zitiert.[7]
Ibn Naqiya wurde zweiundsiebzig Jahre alt – ein für die damalige Zeit sehr respektables Alter. Er zitiert diese Verse – sie stammen von seinem Großvater – in seinem Buch der Perlen über die Vergleiche im Koran (siehe den folgenden Abschnitt). Sie dienten der Nachwelt als Beweis für seine Orthodoxie. Die fromme Verrätselung solcher Verse ist in der arabischen Literatur nicht selten.
Mit arabischen Versen dieser Zeit hat es eine besondere Bewandtnis. Das umfangreiche arabisch-islamische Schrifttum kannte zu dieser Zeit kaum eine bildliche Darstellung des Menschen. Die wenigen arabischen Miniaturen aus dieser Zeit gehören zu den wichtigen und berühmten, aber sehr seltenen Ausnahmen. Aus Prosawerken jedoch und besonders aus den Gedichten eines wichtigen Mannes – viel seltener einer Frau – konnte man leicht zitieren und hoffen, ihn oder sie damit besonders gut zu charakterisieren. Die Poesie nahm damit gewissermaßen die Stelle ein, die bildliche Darstellungen in der Neuzeit haben. Geburt und Tod, Beschneidung und Heirat, Reise und Politik, Wichtiges, Merkwürdiges und Beiläufiges – alles konnte literarisch-prosaisch oder poetisch dargestellt werden. Nicht wenige Gespräche und Begebenheiten dieser Zeit kennen wir nur aus literarischen oder poetischen Schriften. Daher wimmelt es in dem überaus fruchtbaren Genre der arabischen Biographie bis in die Neuzeit nur so von Poesie. Über Ibn Naqiyas Leben haben die arabischen Biographen im Einzelnen leider nicht viel zu sagen. Immerhin sind von ihm außer seinen bereits genannten Schriften mehr als zwei Seiten Gedichte erhalten, darunter einige Zeilen Weingedichte, einige fromme Verse und ein paar riskante polemische Prosapassagen.
Schon der Großvater Ibn Naqiyas hatte skeptische Gedichte verfasst. Die folgenden melancholischen Zeilen etwa sind in dem Buch der Perlen über die Vergleiche im Koran erhalten:
Ich vertat bei jeder Gelegenheit viel von meiner Zeit. Die Jugend war mir neu, aber unversehens wurde ich alt.
Alles, was wächst, muss vergehen. Und nie kamen zwei Freunde zusammen, ohne dass sie sich trennen mussten.[8]
Von den etwa ein Dutzend dem Ibn Naqiya zugeschriebenen Werken sind außer den Verwandlungen bislang nur zwei erhalten. Ich bedaure besonders, dass sein Buch darüber, wie man eine Tischgesellschaft durch Scherze unterhalten kann, nicht überliefert ist. Die zwei erhaltenen Bücher sollen im Folgenden kurz charakterisiert werden.
Das Buch der Perlen über die Vergleiche im Koran
Dieses Werk Ibn Naqiyas, sein bekanntestes, trägt im Arabischen einen gereimten Ziertitel. Es existiert ebenso wie die zehn Verwandlungen des Ibn Naqiya nur in einer einzigen arabischen Handschrift. In den 1960er und 1970er Jahren wurde es zum ersten Mal gedruckt – dann allerdings gleich mehrfach: in Kuweit, in Bagdad, in Alexandria und in Beirut. Ich zitiere nach der nicht immer fehlerfreien Ausgabe von Mustafa al-Sawi al-Juwayni (Alexandria 1974).[9] Alle vier Drucke beruhen auf einem einzigen Codex, der heute in der Bibliothek des Escorial nahe Madrid aufbewahrt wird. Die arabischen Handschriften des Escorial sind alles, was nach der Vertreibung der Muslime von der Iberischen Halbinsel im fünfzehnten Jahrhundert an islamischen Texten übrig geblieben ist. Arabische Gelehrte haben in der Neuzeit nicht ohne Grund geklagt, dass arabische Manuskripte, darunter viele Unica, häufig aus islamischen Ländern gestohlen oder gegen lächerlich niedrige Geldsummen angekauft worden seien. Solche oft nur in einem einzigen Exemplar erhaltenen kostbaren Exemplare lägen jetzt zu Unrecht in Berlin, London, Paris oder Madrid. Daran ist leider nicht zu zweifeln. Andererseits sind gerade in der jüngsten Zeit unersetzliche arabische Handschriften in Syrien und im Irak, im Jemen und in Mauretanien verloren gegangen oder sogar absichtlich von Muslimen vernichtet worden. Der «Islamische Staat» (IS) etwa würde die Werke des Ibn Naqiya mit Sicherheit verbrennen und sogar versuchen, seine Leser zu töten.
In seinem Buch der Perlen untersucht Ibn Naqiya eine Reihe ausgewählter Koranstellen, die Vergleiche enthalten, und setzt diese mit Vergleichen aus der altarabischen Poesie in Beziehung. Der wohl produktivste Schreiber der gesamten arabischen Tradition, al-Suyuti (1445–1505), der Hunderte von Büchern und Sendschreiben verfasste, kompilierte, reproduzierte und plagiierte, lobt etwa vierhundert Jahre nach dem Tod des Ibn Naqiya: Dieses Buch sei das einzige, das je speziell zu diesem Gegenstand verfasst worden sei.
Der «Vergleich» in der altarabischen Poesie war seit den frühesten Zeiten arabischer Sprachwissenschaft ein gelehrtes Thema. Die Vergleiche im Koran waren jedoch von Anfang an theologisch umstritten. Um eine arabische Sprachwissenschaft zu etablieren, hatten sich die arabischen Gelehrten etwa anderthalb Jahrhunderte nach dem Tod des Propheten Mohammed zum Teil auf den Koran, aber mindestens ebenso sehr auf die mündliche und schriftliche Tradition der altarabischen, zum guten Teil vorislamischen Dichtung verlassen. Diese Dichtung war oft jüdisch, christlich oder...