Der Staatsstreich als Jüngstes Gericht
Mit dem Datum des Staatsstreichs setzt ein großes schriftstellerisches Unternehmen ein, das Journal von Edmond und Jules de Goncourt, das erst 1896 mit dem Tod Edmonds endet. Anekdoten und Klatsch, die Dinge des Lebens und die großen und kleinen Begebenheiten und Träume, die hier wie in jedem Tagebuch aufgezeichnet sind, bergen unter der Oberfläche der Beiläufigkeit zugleich einige tiefe Wahrheiten über die französischen Verhältnisse. Am 2. Dezember 1851 erfolgte der erste Eintrag ins Journal. Mémoires de la vie littéraire.
Der Staatsstreich war eine Erschütterung für die beiden Brüder, obwohl sie keineswegs die Leidenschaft Victor Hugos oder George Sands für die nun abgeschaffte Republik oder jedwede Herrschaft des Volkes teilten. Sie waren vielmehr höchst kühle und ironische Beobachter der rasanten Veränderungen und zähen Gewohnheiten, die sie in Paris mit eigenen Augen und in Echtzeit studieren konnten. Tag für Tag und Nacht um Nacht führten sie fortan Buch und notierten das, was sie sahen und erlebten, und das, was ihnen zugetragen wurde. So positionierten sie sich als Zeitzeugen und als Agentur für Erzählungen und Gerüchte, deren aktuelle und generelle Macht sie richtig einzuschätzen wussten. Manche ihrer Einträge haben die Länge eines Tweets, andere ähneln Essays oder kleinen Reportagen. Am 2. Dezember 1851 war Edmond de Goncourt neunundzwanzig und Jules, der Federführende, gerade einmal zwanzig Jahre alt. Er, der Jüngere, würde im Juni 1870 sterben und das Ende des Zweiten Kaiserreichs nicht mehr erleben.
© Die Brüder Edmond und Jules Huot de Goncourt, undatierte Fotografie von Felix Nadar. Mit freundlicher Genehmigung von Wikimedia Commons.
Edmond hatte nachweislich schon früher den Plan für ein Tagebuch gefasst und sich dazu besonders im Revolutionsjahr 1848 verstreute Notizen gemacht. Für den ersten Eintrag wählten die Brüder jedoch den Tag des Staatsstreichs:[6] In einer Traumvision vom Jüngsten Gericht werden ihre Seelen von großen Engeln vor den göttlichen Richterstuhl geführt. Gottvater sieht mit seinem mächtigen weißen Bart aus wie auf Kirchenfresken. Er sitzt inmitten seiner himmlischen Heerscharen, die »wie Gendarmen schlafen« und ihre »weißbehandschuhten Hände über den Säbeln« kreuzen. Der Weltenherrscher befragt die Brüder nach ihren Taten und zuletzt nach ihrer Zeugenschaft grausamer Tierkämpfe in der Arena. Als er sie aushorcht nach Stieren und Bären, die Hunde zerfleischen, und nach großen ausgehungerten Doggen, die mit ihren Fangzähnen einen alten hilflosen Esel zerreißen, da bekennen sie, etwas viel Schlimmeres gesehen zu haben: einen Staatsstreich.
Beim Aufwachen glauben sie zu träumen, als sie hören, dass eine Revolution im Gange ist. Also nichts wie raus auf die Straße und fürs Erste vorbei am Bordell gegenüber. Überall hängt die Proklamation aus, und in der Rue Saint-Georges bewachen Soldaten das Verlagsgebäude der Zeitung National. Aber die lächerlich kleinen Barrikaden der Republikaner werden so schnell geräumt, dass die tapferen Soldaten ihre Gewehre schon zu Pyramiden aufgeschichtet haben und diese hier und da mit Karacho aufs Pflaster fallen. Schon mittags räkelt sich die Heldenschar am Seineufer im siegreichen »Sonnenschein von Austerlitz« und gönnt sich nach dieser ganzen Hatz einen Festschmaus. So viel Fleisch, Wein, Wurst und so viele Fässer haben die trinkfesten Goncourts selten gesehen: Paris als »gepökeltes Schlaraffenland«. Um sie herum sind alle so benebelt und beschwipst, dass die beiden sich fragen, ob die Gesellschaft noch zu retten ist. Wohl nicht. Eines aber empfehlen sie für kommende Staatsstreiche: Plätze, Logen und Parkett. Die große Vorliebe der Pariser, die Schaulust, müsse berücksichtigt werden. Denn diesmal sei es doch so gewesen, bemängeln sie, dass alles schon vorbei war, als der Vorhang gerade aufging. Alles ging viel zu leise vonstatten, ganz ohne Trommelwirbel. Welch eine Verachtung des Publikums! Welch schlecht geschriebenes und mies aufgeführtes Stück für einen »geschulten Kritiker« – auch wenn im Nachhinein doch noch Gewehrschüsse ins Publikum abgefeuert werden, Fußtritte von Polizisten und Ladungen der Kürassiere Menschen in die Brust treffen, die »Vive la République!« rufen.
Was für eine kuriose und zündende Vision der geschichtlichen Wende und der kommenden achtzehneinhalb Jahre: als Traum des Endes aller Zeiten, als schlechtes Theaterstück. Und welch famoser Einfall für den Anfang des großen intimen und moralistischen Projektes des Journal, das hernach wie kein anderes Persönliches, Berufliches und Poltisches miteinander verbinden wird. Für dieses Projekt sammelten die Brüder, »die Farbpalette in der Hand«, Beobachtungen, Eindrücke und Gespräche und mischten sie zu einem schillernden Zeitgemälde. Freunde und Konkurrenten, Schmeichler und Neider, Streber und Tagträumer, öffentliche Personen und Charaktere der Straße, sie alle erscheinen auf der Bühne der Goncourts. Die große und kleine Politik blitzt auf im Gewande der Kommunikation und des Geselligen, im Tratsch, in Plaudereien und Zoten, und auch in den Notizen zur Materialität des gesellschaftlichen Lebens. Ohne die Stoffprobe eines Kleides, ohne die Speisekarte eines Abendessens gibt es keine lebendige Erinnerung an eine Zeit, vermerkt das Journal am 22. Juni 1859. Und es rauschte viel prachtvoller Stoff, es wurde ausgiebig geschlemmt im Zweiten Kaiserreich. Denn viele wurden reich in dieser Zeit, und andere ließen sich aushalten. Im Mai 1872, während eines Aufenthalts am Schliersee in Bayern, schrieb Edmond ein kurzes Vorwort, das nach dem Tod des Bruders zunächst als Schlusswort des gemeinsamen Projekts gedacht war.[7] Das Journal, so heißt es dort, sei die »allabendliche Beichte«, die »von einem auf den nächsten Tag fortgeführte Autobiographie« der beiden »unzertrennlichen Leben« und »Zwillingsdenkweisen« gewesen. Diesen war für die Verwirklichung des gemeinsamen Arbeitens nur eine begrenzte Zeit, eben diejenige des Zweiten Kaiserreichs, gewährt.
Der Auftakt des Journal verbindet sich nicht nur mit dem Staatsstreich. Denn der 2. Dezember 1851 ist zugleich der Tag, an dem die Brüder mit ihrem ersten vollendeten Projekt, En 18 …, roman fantaisiste et excentrique, an die Öffentlichkeit treten wollten. Doch aufgrund des Staatsstreichs, des Belagerungszustandes und der Flut von Aushängen, Anweisungen und Verordnungen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, konnten die schon gedruckten Plakate mit den Namen der aufstrebenden jungen Schriftsteller nicht angeschlagen werden. Nicht ihrer Erzählung wegen, so heißt es selbstironisch im Journal, geriet die Welt also an diesem Tag aus den Fugen, ach, sie wusste ja nicht einmal, dass gerade zwei neue Stars am Pariser Literaturhimmel aufgingen. Wie sehr wünschten die beiden sich, ihre heitere venezianische Geschichte und nicht der unselige Staatsstreich würde die Welt bewegen! Nun aber erschien das Buch, dieses »erste Kind, liebkost und umhegt, nach mehr als einjähriger Arbeit«, ganz ohne Vorankündigung am 5. Dezember im Selbstverlag.
Den Titel En 18 … assoziierten die Brüder sogleich scherzhaft mit dem 18. Brumaire, gerade so, als wollten sie Karl Marx einen Wink geben. Das konnte dieser freilich nicht ahnen, als er 1852 in Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte den 2. Dezember 1851 als Menetekel einer »neuen Weltgeschichtsszene« deutete, die geisterhaft entlehnte »Namen, Schlachtparolen, Kostüme, altehrwürdige Verkleidung und erborgte Sprache« aufführt.[8] Ihrem ersten Roman war zum großen Kummer der hochmotivierten Brüder wenig Erfolg beschieden, und ebenso erging es ihren Projekten in den folgenden Jahren. Die Kritiker äußerten sich, wenn überhaupt, herablassend, und am Ende würde der gealterte Edmond selbst im Vorwort zum Journal den literarischen Erstling verwerfen wie eine unreife Frucht.
Für die frischgebackenen Autoren war die erste Erfahrung mit dem Literaturmarkt bitter, sie verkauften gerade einmal sechzig Exemplare. Doch sie träumten weiter und »bauten Luftschlösser«, und das venezianische Cappriccio war, so gesehen, das stimmige Debüt einer ebenso extravaganten wie symbiotischen Kollaboration, einer machtvollen, nirgends je in dieser Intensität vor- oder nachgelebten Doppelkarriere. Allen Gewohnheiten und Ritualen des literarischen Lebens in Frankreich – Feuilletons, Kritik, öffentliche Auftritte, Freundschaften und Konkurrenzen, Patronage und Klientelismus, Konsekration und Schulenbildung – waren die Zwillingssterne Jules und Edmond fortan gemeinsam unterworfen. Sie schrieben vierhändig aus einer Feder und mit einer Stimme. Sie schrieben nicht...