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E-Book

Im Untergrund

Der Arsch von Franz Josef Strauß, die RAF, mein Vater und ich

AutorPatrizia Schlosser
VerlagHoffmann und Campe Verlag
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783455006506
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Auf der Suche nach den letzten RAF-Terroristen Wie Phantome tauchen die letzten drei aktiven Mitglieder der RAF immer wieder auf, um bewaffnet mit Panzerfaust und Schnellfeuergewehren Supermärkte und Geldtransporter zu überfallen. Wer sind die drei? Wie überleben sie 'im Untergrund'? Und gehören sie überhaupt wirklich zur RAF? Gemeinsam mit ihrem Vater, einem grantelnden bayerischen Polizisten in Rente, macht sich Patrizia Schlosser auf die Suche nach ihnen. Sie trifft Anwälte und Ermittler, ehemalige Weggefährten und RAF-Mitglieder und erhält so Einblick in eine verschwiegene Szene.  Basierend auf einer Audible Original Podcast-Produktion.

Patrizia Schlosser ist Podcasterin, Reporterin und Filmemacherin. Sie fing als Journalistin für den Bayerischen Rundfunk an und arbeitet heute u. a. für das investigative Reportage-Format Panorama - die Reporter im NDR-Fernsehen sowie für den auf jüngere Zuschauer ausgerichteten YouTube-Kanal Strg_F . Für ihren bei Audible veröffentlichten Podcast Im Untergrund erhielt sie den Deutschen Radiopreis 2018 in der Kategorie Beste Sendung. Sie lebt in Hamburg und München.

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Leseprobe

Kapitel 4


Auf dem Dachboden

»BKA: Sicher aufbewahren! Nicht pressefrei!«, steht auf jeder Seite einer Mappe, die mein Vater aus einer Kiste gezogen hat. Sie ist dunkelgrün und in etwa so groß wie ein Taschenbuch.

»Die hab ich immer bei der Arbeit dabeihaben müssen. Dienstvorschrift«, sagt er und wirft einen langen Blick darauf.

»Da sind die Fahndungsunterlagen zur RAF drin.«

»Darf ich mal?«

»Ja, nimmst sie halt.«

Ich blättere durch dieses sogenannte »Personenfahndungsregister« aus den siebziger und achtziger Jahren. Die Seiten bestehen aus durchsichtigen Plastikfolien, in denen DIN-A5-große Papiere stecken, bedruckt mit Fahndungsinformationen und Fotos gesuchter mutmaßlicher RAF-Mitglieder.

»Damit sie immer austauschen kannst. Wenn neue Infos zu einer gesuchten Person kommen, hast die alten Kartons raus und die aktualisierten rein«, sagt mein Vater.

Junge Menschen starren mich von den Schwarz-Weiß-Fotos in der Mappe an. Viele davon nicht freiwillig. Auf der Aufnahme einer Frau ist sogar eine Männerhand zu sehen, die ihren Kopf nach oben presst, während sie offenbar versucht, ihr Gesicht nach unten zu drücken. Mein Vater bemerkt meinen Blick. »Erkennungsdienstliche Maßnahmen«, sagt er. Also Polizeifotos, auf der Wache unter Zwang aufgenommen. Von anderen Gesuchten gibt es Privatfotos, lächelnde Gesichter wie aus einem Familienalbum, darüber steht: »Achtung Terroristen führen Schusswaffen!«

Es hat etwas Unheimliches, diese alten Bilder anzusehen. Manche der Personen sind mir aus Zeitungsartikeln vertraut, gleichzeitig wirken sie fremd. Die Fotos zeigen sie, bevor sie in die Schlagzeilen gerieten. Das Bild eines jungen Wolfgang Grams in der Mappe wird in meinem Kopf von dem des toten Wolfgang Grams überlagert. Sein Körper auf dem Gleisbett von Bad Kleinen, einen Beatmungsschlauch im Mund.

Mein Vater beobachtet mich still. Die Mappe ist ein altes Arbeitsutensil, etwas Unpersönliches und doch fühlt es sich an, als würde ich in seinem Nachtkästchen stöbern. Das private Schicksal meines Vaters und ein Kapitel der jüngeren deutschen Geschichte sind unwiderruflich verknüpft. Zum ersten Mal spüre ich die Wucht der Tatsache, dass er in Terrorzeiten Teil des Staatsapparates war, Teil des Systems, das die RAF bekämpfte. Für sie war er »ein Schwein« und »kein Mensch«, wie es RAF-Mitgründerin Ulrike Meinhof 1970 formulierte, »und natürlich kann geschossen werden«.

Ob das heute noch gesuchte Trio auch in dieser Fahndungsmappe steckt? Ich hoffe es. Es wäre der perfekte Aufhänger. Ich blättere durch die Seiten. Da sind sie: Fahndungsbilder von Daniela Klette. Zu sehen ist eine junge Frau mit kindlichen Gesichtszügen und wilden, bis zum Ohr reichenden Haarsträhnen, etwa 25 Jahre alt. Entschlossener Blick und trotzig vorgeschobene Lippen. Die Fleisch gewordene Essenz des Pink Floyd Songs »We don’t need no educa- tion«.

»Eine richtige Göre«, sage ich zu meinem Vater.

Er entgegnet nichts, zieht nur die Augenbrauen hoch. Schon klar, sie ist eine mutmaßliche Verbrecherin, da spricht man nicht von einer »Göre«.

Burkhard Garweg fehlt in der Fahndungsmappe. Nach ihm wurde erst ab den neunziger Jahren gefahndet.

Doch Ernst-Volker Staub finde ich. Er ist gerade einmal zwei Jahre jünger als mein Vater. Die gleiche Generation, zwei gegensätzliche Lebenswege. Die Fotos zeigen einen Mann Anfang 30, leichter Vokuhila, leutseliger Gesichtsausdruck, dicker Schnurrbart. Könnte der Sänger einer Cover-Band für Geburtstage und Hochzeiten sein.

»Ich find’s lustig, der sieht ein bisschen aus wie du damals. Voll Achtziger.«

Mein Vater schnaubt. Er schüttelt griesgrämig den Kopf, bleibt aber weiter stumm. Ich bin enttäuscht. Dachte, er kommt über die Fotos ins Plaudern. Ich nehme an, wenn es nach ihm gehen würde, könnten wir die Mappe zuklappen und uns wieder an den Tisch zu meiner Mutter und meinem Bruder setzen. Vielleicht noch ein Stück Kuchen. Dann ein Mittagsschlaf.

Langsam muss ich zum Kern meines Anliegens kommen.

»Hast du auch ein Bild von dir als Polizist da drin?«, frage ich.

»Irgendwo scho’.«

Ich schaue ihm zu, wie er vergilbte Klarsichtfolien mit Fotos aus einem Karton holt. Ich weiß so gut wie nichts über sein Arbeitsleben. Er war ein Wochenendpapa. Wenn er zu Hause war und mein Bruder und ich etwas wollten – Fernsehen zum Beispiel –, gingen wir zu ihm. Er war gutmütig. »Und ich darf das ausbaden«, sagte meine Mutter dann.

Unter der Woche verließ er das Haus morgens um zehn vor sechs, wenn mein Bruder und ich noch schliefen, und fuhr mit dem Zug nach München zu seiner Dienststelle. Abends um halb sechs holte ihn meine Mutter wieder mit dem Auto am Bahnhof ab. Ich sah ihn erst beim Abendessen.

Ich kenne nur eine Anekdote aus seiner Zeit als Polizist: Er durchsuchte gerade die Wohnung eines Wirtschaftsbetrügers, da rannte dessen Ehefrau zum Fenster, öffnete es und stieg auf den Sims. Mein Vater sprintete zu ihr, packte sie von hinten an den Schultern, versuchte sie vom Fenster wegzuziehen. Sie wehrte sich. So heftig, dass mein Vater sich schon mit ihr aus dem Fenster stürzen sah. An dieser Stelle lacht er immer beim Erzählen. Ich höre die Geschichte gerne. Sie zeigt meinen Vater in einem heroischen Licht – und ist doch harmlos.

Erst seitdem er in Rente ist, dämmert mir, dass ich gar nicht weiß, wie sein Alltag aussah, was für ein Mensch er als Polizist war und welche Spuren die deutsche Geschichte der siebziger und achtziger Jahre bei ihm hinterlassen hat. Ich bin Journalistin, und meine Arbeit besteht zu einem großen Teil darin, mit fremden Menschen über persönliche Erfahrungen zu sprechen. Nie kam ich auf die Idee, meine eigene Familiengeschichte zu untersuchen. Dabei ist auch mein Vater ein Zeitzeuge. Jetzt frage ich mich zum ersten Mal: Wie sehr hat ihn die Zeit geprägt, als die RAF den deutschen Staat angriff?

»Da schau, da war ich 17 Jahre alt, gerade frisch in der Ausbildung.«

Mein Vater hält ein Foto hoch. Zu sehen ist ein junger Mann mit ordentlich Pomade im braven Kurzhaarschnitt und Polizeiuniform. Er sieht so sauber aus wie gekochte Wäsche.

»Damals hast ja nur zehn Meter geradeaus laufen können müssen, dann hat dich die Polizei genommen«, sagt er abwinkend.

Was mich ins Herz trifft, ist sein Blick auf dem Foto. Es ist nicht der Gesichtsausdruck, den ich von meinem Vater kenne. Er erinnert mich an einen Wurf Babykatzen auf dem Bauernhof meiner Großeltern. Wenn »Tiger« Junge hatte, versteckte sie die auf dem Heuboden. In den Gesichtern dieser Kätzchen, wenn mein Bruder und ich sie zwischen getrockneten Grasballen fanden, sahen wir blindes Vertrauen in die Welt. Sie wussten nicht, dass mein Opa sie erschlagen würde. Mein Bruder und ich zum Glück auch nicht.

Im Karton liegt ein zweites Foto, von 1979, ein gutes Jahrzehnt nach dem ersten aufgenommen. Da ist mein Vater 29, so alt wie ich jetzt, als ich sein Foto betrachte. Nichts ist mehr milchbubihaft an ihm. Als hätte er sich gehäutet. Und noch etwas ist anders: Es ist sein Mund. Die leicht geöffneten Lippen des 17-Jährigen sind nun geschlossen. Mein Vater presst sie zusammen, als würde er selbst beim Lächeln nicht zu viel von sich preisgeben wollen. Wie jemand, der auf der Hut ist.

Was ist passiert in den Jahren dazwischen?

»Warum willst das denn alles wissen, Pati?«

Ich schaue ertappt auf.

Mein Vater wirft mir seinen Polizistenröntgenblick zu.

Jetzt muss ich Farbe bekennen.

Im Schein der Dachbodenlampe sage ich: »Ich will das RAF-Trio suchen. Und dachte, du könntest mir helfen.«

»Ich könnt dir helfen?«

»Na, dass wir uns zusammen an ihre Fersen heften.«

Seine Augen weiten sich erst und verengen sich dann zu Schlitzen.

»Du brauchst immer den letzten Kick. Ohne den geht’s ned, oder?«

»Heißt das ja?«

»Pati, die linksextreme Szene ist auch heute noch unheimlich gefährlich!«

Stimmt, es ist gefährlich. Aber aus einem anderen Grund: Eine solche Recherche würde bedeuten, dass mein Vater und ich Zeit miteinander verbringen. Vermutlich viel mehr Zeit als jemals zuvor.

»Also wirklich, Pati, wieso machst denn nicht was für den Bayerischen Rundfunk?«

Ich verdrehe die Augen. Mein Vater verschränkt die Arme vor der Brust. Seine grau-weißen Haare stehen nach oben, der Kopf bebt vor Ärger.

»Geh mit dem Bergsteiger-Messner den Yeti suchen von mir aus, aber nicht so was!«

»Ach, Papa.«

»Warum kannst du nicht a normales Thema recherchieren wie a normaler Journalist?«

Ich lehne mich zurück. Soll er sich austoben. Ich sehe uns schon vor mir, wie wir unterwegs sind, auf großer Fahrt, sein schwarzer Ledersessel im Wohnzimmer verwaist, am Horizont flimmern die Silhouetten des RAF-Trios.

»Wie willst die denn suchen? Die Polizei findet sie ja auch nicht. Meinst, du bist schlauer als die Polizei?«

»Ich will sie ja nicht festnehmen, sondern mit ihnen sprechen.«

»Du kannst ein Inserat aufgeben: Meldet euch bei mir.«

»Sehr witzig.«

»Ja, das ist genauso unwahrscheinlich wie dass du die findst!«

Ich schweige, doch eine nagende Stimme in mir sagt: Er hat recht. Es ist vollkommen idiotisch, Leute suchen zu wollen, die sich seit über 25 Jahren erfolgreich unsichtbar machen. Und dann geht es dabei auch noch um das...

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