1 Einleitung
Spätestens seit den Ergebnissen der PISA-Studien und dem Ausbau von Ganztagsschulen wird in der Politik, der Wissenschaft und der Öffentlichkeit wieder verstärkt über Lernen diskutiert. Dabei hatte bereits vor 20 Jahren der Club of Rome1 das Dilemma der Bildung darin gesehen, „dass das Lernen der Menschen nicht Schritt hält mit den neuen Anforderungen und wachsenden Problemen im Verhältnis zu ihrer sich immer schneller verändernden Umwelt“ (Dohmen, 2001, S. 10). In Anbetracht dieser Tatsache stellt sich Lernen in der heutigen schnelllebigen Zeit als ein notwendiger lebenslanger Prozess dar, in dem die Menschen auf die sich verändernden Herausforderungen der Umwelt reagieren und sich an diese anpassen müssen (vgl. Neuber, 2007, S. 91-94).
Aus diesem Grund spricht die OECD (2001, S. 7) von einem grundlegenden Bruch gegenüber den bisherigen Ansichten von Lernen und fordert „die Anerkennung einer Vielzahl von Formen und Wegen des Lernens“. Lernen wird meist als das Ergebnis von Erfahrungen aufgefasst, die zu einer relativ überdauernden Verhaltensänderung führen. Die Erfahrungen werden wiederum in der aktiven Interaktion mit und in einer Umwelt erworben (vgl. Zimbardo, 1992, S. 227; Treml & Becker, 2006, S. 104). Lernen ist in diesem Sinn zwar ein gängiger Begriff, seine genauere analytische Bestimmung entfaltet sich allerdings erst, wenn er in begriffliche Verbindungen gesetzt und damit in ein erziehungswissenschaftliches bzw. bildungspolitisches Konzept eingebunden wird (vgl. Vogel, 2008, S. 119).
Unter diesem Aspekt haben sich in der internationalen und nationalen Diskussion die differenzierenden Definitionen formales Lernen, nicht-formales Lernen und informelles Lernen durchgesetzt (vgl. Overwien, 2006, S. 46).2
- Formales Lernen findet üblicherweise in einer Bildungs- oder Ausbildungseinrichtung statt. In Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung ist es strukturiert und führt zur Zertifizierung. Aus der Sicht des Lernenden ist formales Lernen zielgerichtet.
- Nicht-formales Lernen findet üblicherweise nicht in Bildungs- oder Berufsbildungseinrichtungen statt und führt üblicherweise nicht zur Zertifizierung. Den noch ist es in Bezug auf Lernziele, Lerndauer und Lernmittel organisiert und systematisch. Aus Sicht der Lernenden ist es ebenfalls zielgerichtet, aber freiwillig.
- Informelles Lernen wird als Lernen im Alltag, am Arbeitsplatz, im Familienkreis oder in der Freizeit bezeichnet. Es ist in Bezug auf Lernziele, Lernzeit oder Lernförderung nicht strukturiert und führt üblicherweise nicht zur Zertifizierung. Informelles Lernen kann zielgerichtet, aber auch an der Gegenwart orientiert sein (vgl. Europäische Kommission, 2001, S. 33, 35).
Die Europäische Kommission (2001, S. 9) liefert diese grundlegende Dreiteilung des Lernens als breit gefasste Definition für „lebenslanges Lernen“. Mit dem damit verbundenen übergreifenden bildungspolitischen und erziehungswissenschaftlichen Konzept soll eine Vernetzung verschiedener Lernformen bzw. Lernmodalitäten erreicht werden, in denen sich das gesamte Spektrum des Lernens widerspiegelt. Das Lernen geht dabei vom Subjekt aus, wird aber vordergründig an der Organisationsform des Lernens festgemacht, d. h. die Aufmerksamkeit richtet sich auf verschiedene soziale und räumliche Lernumgebungen bzw. Settings.3
Innerhalb des Konzepts des lebenslangen Lernens bzw. der drei Lernformen steht das informelle Lernen hoch im aktuellen Diskurs. Der Faure-Kommission (1973) zufolge findet 70 % des menschlichen Lernens durch informelles Lernen statt, weshalb die Bedeutung dieser Form des Lernens in Bezug auf die Gestaltung des eigenen Lebensalltags gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann (vgl. Dohmen, 2001, S. 15). Informelles Lernen wird bei Dohmen (2001) bereits im Titel als bislang allgemein vernachlässigte „Grundform menschlichen Lernens für das lebenslange Lernen aller“ angesehen und als unverzichtbare Voraussetzung des Lernens bezeichnet, auf dem formales und nicht-formales Lernen aufbauen. Formales Lernen wird lediglich als „Spitze eines sehr viel umfangreicheren ‚Eisbergs‘ menschlichen Lernens“ begriffen (Dohmen, 2001, S. 2). Damit soll nicht die Funktion und Leistung der Schule abgewertet werden, aber ihre Monopolstellung als Bildungsinstitution wird zunehmend in Frage gestellt (vgl. Dohmen, 2001, S. 8).
Die Schule konzentriert sich in erster Linie auf die Vermittlung von tradiertem Wissen durch formales Lernen. Die durch das formale Lernen vermittelten Kenntnisse und Fähigkeiten haben aber in Anbetracht gesellschaftlicher Veränderungsprozesse kaum lange genug Bestand. Umso wichtiger ist es, das informelle Lernen nicht aus der Schule auszuschließen, dies nicht zuletzt, um das Fundament des formalen Lernens sichern zu können. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung definiert informelles Lernen jedoch als „alle (bewussten und unbewussten) Formen des praktizierten Lernens außerhalb formalisierter Bildungsinstitutionen und Lernveranstaltungen“ (BMBF, 2004, S. 29, Hervorhebung A. D.). Damit wird die Möglichkeit der Förderung informellen Lernens innerhalb der Schule kategorisch ausgeklammert und ignoriert. Es fragt sich, ob das ein tragfähiger Ansatz ist.
1.1 Problemstellung der Arbeit
Der Grundgedanke des informellen Lernens bezieht sich im Wesentlichen darauf, dass es in der Lebenspraxis stattfindet und zur Lösung einer Aufgabe in einer aktuellen Situation dient (vgl. Dohmen, 2001, S. 19). Dies kann intentional erfolgen, es kann aber auch beiläufig entstehen. Zudem ist entscheidend, dass kein direktes Einwirken von Lehrkräften erfolgt. Eine Arbeitsdefinition von informellem Lernen könnte demzufolge lauten: Als informelles Lernen gelten alle (bewussten und unbewussten) Formen des Lernens, die zur Lösung einer Aufgabe in einer aktuellen Situation dienen und ohne das direkte Einwirken von Lehrkräften erfolgen. Ohne an dieser Stelle genauer auf den Begriff eingehen zu wollen, kann mit dieser vorläufigen Begriffsklärung eine Grundlage geschaffen werden, die es erlaubt, informelles Lernen auch innerhalb von Institutionen, wie der Schule, zu verorten (vgl. Kap. 2.3.1).
Der kanadische Forscher Schugurensky (2000) weist explizit darauf hin, dass informelles Lernen ebenfalls in formalisierten Bildungsinstitutionen stattfindet. In der Auseinandersetzung mit vielfältigen Bewegungs-, Spiel- und Sportformen werden Schüler4 z. B. auf Schulhöfen mit verschiedenen (Bewegungs-)Aufgaben konfrontiert, die sie zu Lösungen zur Befriedigung ihrer aktuellen Situation anregen. Auf diese üben Aufsicht führende Lehrer i. d. R. keinen Einfluss aus, es sei denn, es wird gegen eine Pausenordnung verstoßen. Damit kann der Schulhof im formalen Setting der Schule – so meine These – als ein spezifischer Ort des informellen Lernens aufgefasst werden.
Bei der Analyse informellen Lernens können zum einen die konkreten Formen der (kognitiven) Verarbeitung neuen Wissens untersucht werden, wie dies z. B. in kognitiven Lerntheorien der Fall ist, die stärker die im Lernenden vorgehenden kognitiven Prozesse thematisieren. Zum anderen kann die Lernumgebung zum Gegenstand der Untersuchung gemacht werden. Die vorliegende Arbeit fokussiert explizit nicht innerpsychische Prozesse, sondern richtet die Sicht auf die Lernenden in ihrer Lernumgebung und orientiert sich somit an einem Situationsansatz (vgl. Lave & Wenger, 1991). Dabei greift sie auf das Aneignungskonzept der Sozialpädagogik zurück, das seinen Ursprung im Aneignungskonzept der kulturhistorischen Schule der sowjetischen Psychologie hat (vgl. Kap. 4).
Das Aneignungskonzept zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass es Aneignung als Entwicklung der Heranwachsenden in eigentätiger Auseinandersetzung mit der Umwelt interpretiert (vgl. Deinet, 2010, S. 85). Die Interaktion der Heranwachsenden mit der Umwelt wird als Wechselwirkung zwischen objektiven Strukturen des Raums und subjektiven Sinndeutungen des Menschen betrachtet, weshalb das Aneignungskonzept als dialektische Entwicklungstheorie5 bezeichnet werden kann. Dieser Ansatz wird in klassischen sozialökologischen Entwicklungstheorien aufgegriffen (vgl. Bronfenbrenner, 1981; Fuhrer, 1996), die als Rahmentheorien zur „Forschung über den Alltag und die Entwicklung junger Menschen“ dienen können (Engelbert & Herlth, 2002, S. 113, Hervorhebung im Original). Der Mensch wird in sozialökologischen Entwicklungstheorien als „aktiver Gestalter seiner Entwicklung begriffen, und zwar als Akteur, der sich die kulturellen Inhalte seiner Gesellschaft in sozialer Kooperation mit anderen aneignet“ (Fuhrer & Quasier-Pohl, 1997, S. 181).
Entwicklung vollzieht sich dabei in aufeinander aufbauenden Lernstufen6 (vgl. Holzkamp & Schurig, 1973, S. XLII), die nicht völlig selbstgesteuert sind. In der Wechselwirkung zwischen Umwelt und Mensch wird die eigentätige Aneignung durch äußere Bedingungen wie Schuleintritt,...