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E-Book

Von der Seele

Vollständige Ausgabe

AutorKarl Ludwig Schleich
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl203 Seiten
ISBN9783849635381
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
In diesem Band finden sich die wichtigsten Essays eines der führenden deutschen Chirurgen und Anästhesisten des frühen 20. Jahrhunderts. Inhalt: Der Rhythmus Humor Schlaf Und Traum Unterbewusstsein Seelische Hemmungen Und Schmerzen Der Sitz Der Seele Instinkt Und Spiel Temperament Tierseele Und Menschenseele Glaube Und Wissenschaft Rausch u.a.

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Schlaf Und Traum


 

 

I.

 

Wer auf ein Leben von siebenzig Jahren zurückzublicken das Glück hat—das ist bekanntlich die stark optimistische Auffassung der Bibel von der durchschnittlichen Dauer des menschlichen Daseins—, der macht es sich wohl mit einiger Verwunderung klar, daß es mindestens fünfundzwanzig Jahre waren, die er buchstäblich verschlafen hat,—selbst wenn er die kummervollen Nächte, in denen die Sorge oder der Schmerz neben ihm am Bettrand saß, oder auch die Nächte abrechnet, die er weniger kummervoll als deutscher Student verlebte.

 

Man kann es den Studenten also eigentlich ebensowenig verargen wie weiland Friedrich dem Großen, daß sie auf die freilich unhygienische Idee gekommen sind, sich das Schlafen abzugewöhnen; scheinen doch auch unsere Ministerien der Meinung zu sein, daß für festangestellte Beamte der Schlaf eine Luxusfunktion bedeutet. Ja, der Staat verlangt von Sicherheitsbeamten, Nachtwächtern, Telegraphisten, Lokomotivführern usw. sogar, daß sie gefälligst ihren eigenen Kalender umstellen, die Nächte zählen und die Tage aus ihrem Bewußtsein streichen, sich also gleichsam zum Eulen- und Fledermausnaturell im Interesse des Ganzen umzubilden versuchen. Das wäre eine grandiose Grausamkeit vom Staat und von der Gesellschaft und ein sträflicher Leichtsinn der Jugend, die die Lust, zu leben, durch Abzüge am Schlaf zu verlängern sinnt, wenn es nicht tatsächlich sogar recht wohlgenährte Individuen in der Natur gäbe, die, wie Raubvögel und Falter, aus Neigung und Naturbestimmung mit heraufziehender Nacht erst zu leben beginnen. Freilich: für die erdrückende Mehrzahl der Lebewesen ist die Sonne und das Licht und der Mutterboden Erde, in Helligkeit und Farbe getaucht, der Tummelplatz für den Kampf, Sieg und Untergang des Daseins, und der Schlaf ist im allgemeinen die Anpassung des Organismus an den Untergang der Sonne; er währt, so lange sie hinter den Bergen verweilt, und er schwindet mit ihrem ersten östlichen Gruß, der schon vor unserem Erwachen die Hähne veranlaßt, Trompetenstudien zu machen. Freilich: schon lange hat die Kultur, die Jean Jacques Rousseau eine Mörderin der Elfen und Waldgötter schelten durfte, erst durch Holzscheite und Pechfackeln, dann durch Tranfunzel, Docht, Steinöl und Gas und jetzt durch das starre, geisterhafte Licht der Glühbirnen und leuchtenden Strümpfe, deren Strahl auf die Netzhaut wirkt wie ein Dolch (woran leider die Augenärzte späterer Generationen noch einmal ihre Freude haben werden), dahin gestrebt, die Sonne zu ersetzen und gleichsam zu verlängern,—wie man eine kräftige Bowle oder eine Suppe zieht. Ja, selbst die Natürlichen, die heute versuchen wollten, mit Sonnenuntergang sich niederzulegen, würden von dem Lärm der auf künstliches Licht eingestellten Mitwelt unsanft aufgerüttelt werden und, wenn sie sich bei Tagesanbruch erhöben, in ihrem Hause wie des Begräbnisses unwürdige Bewohner von Vineta oder Pompeji umherwandeln. Die Menschennatur hat einen Rhythmus von Ebbe und Flut, wie das Meer, der Himmel, die Sterne und alles, was ist. Möglich, daß dieser Rhythmus sich ändern läßt, daß wir uns allmählich anzupassen vermögen an die künstlichen Quellen von Licht, aber man darf sich nicht verwundern, wenn diese Anpassung nur auf dem Umwege von Hypersensibilität und Neurasthenie erreichbar ist. Nervosität ist vielleicht nur die Übergangsform—im Sinne Darwins—zu einer künftigen Norm von bleichsüchtig-ätherischer, hypersensitiver Weiße-Lilien-Menschheit, die ihren Daseinskampf in elektrisch erleuchtete Höhlen verlegt hat; vielleicht sogar läßt sie sich vor lauter Produktion überfeinerten und distinkten Nervenlebens noch einmal am eigenen Lichte genügen, wie die entzückenden Glühwürmchen im Moose oder die großen Laternenträger der Tropen. Man sollte meinen, daß die Menschheit keinen Grund hätte, sich jenen Lebewesen anzureihen, deren schwache Konstitution und federleichte Skelettformierung sie einst abschob von der Chaussee des Lebens auf dunkle Waldwege, in Gräben und Sümpfe, weil hier das Dunkel der Nacht sie ihren Feinden besser entzog, wie Nachtinsekten, Käfer und Schmetterlinge; man sollte sich auch scheuen, es jenen Dieben und Einbrechern in Wald und Flur nachzumachen, den Eulen und Raubvögeln, die auf den Gedanken kamen, daß die Finsternis ein trefflicher Mantel für lichtscheue Taten sei. Vorläufig aber bleibt es hoffentlich dabei: für unser Planetensystem ist es die Sonne, die als die Urheberin und Erhalterin alles Daseins, gleichsam als die letzte Ursache und der Grund aller Dinge zu gelten hat, und sie bleibt die Wirkerin des Lebens selbst in der periodischen Abkehrung der Erdzonen von ihrem Antlitz. Die Nacht und ihr Weben ist nur das Nachwirken oder der Rückprall der Sonnenmacht. Tatsächlich ist der Schlaf an ihr Verschwinden gebunden, denn unsere Antipoden schlafen, wenn wir wachen, und wachen, wenn wir schlafen. Periodisch also, wie die Sonne erscheint und verscheint, so periodisch und rhythmisch pendelt das gesamte organische Leben bei Pflanze und Tier zwischen Leben und Schlaf hin und her. Denn daß auch Pflanzen eine Art Schlaf haben, kann als ausgemacht gelten, obgleich es auch hier Lichttrotzer gibt, die ihr eigentliches Leben erst nachts beginnen. Die Ärmsten! Sie begreifen nicht, wie sehr sie doch im Banne der Strahlen sind, wenn sie erst erwachen können, sobald das Licht verschwindet. Nun kann man sagen—und die Wissenschaft wiederholt es zuweilen noch heute—: dasjenige, was uns Schlaf bringt, hat mit der Sonne gar nichts zu tun. Der Schlaf sei ein Symptom der Ermüdung, des periodischen Absinkens der Lebensenergie, ein passives Zurückfluten der Lebenswelle; wie das Herz sich aktiv systolisch zusammenzieht, die Atmung durch Rippenaktion eingeleitet wird, Diastole und Ausatmung aber die passiven Phasen der vorangegangenen positiven Aktionen darstellen, ebenso sei der Schlaf gleichsam die Diastole der Nervenflut, eine Art Ausatmung des Seelenodems; er sei ein natürlicher, rein passiver Vorgang der Ermattung, des Nachlassens der Nervenspannungen. Ja, noch kühner ist die Wissenschaft (Preyer) gewesen; man hat behauptet, es sei ein Gift, wie das Narkotikum des Mohns, ein physiologisches, von der Natur gewolltes Opium, das in der Küche des Muskelhaushaltes gerade infolge der Ermüdung jeder sich selbst bereite, das sich allmählich ins Blut mische und schließlich uns einschläfre. Welche sonderbare Anschauung: Selbstvergiftung, Muskelgift, periodische Narkose! Dann hätte also das Sonnenlicht nur ganz zufällig mit Schlaf und Wachen zu tun; und nur, weil wir am Tage unsere Muskeln gebrauchen und damit das Fleischmilchsäuregift während des Sonnenlichtes produzieren, hat scheinbar die Sonne direkten Einfluß auf den Rhythmus von Schlaf und Wachen. Nun, abgesehen von der zweifelhaften Natur dieses Muskelopiums—die Preyerschen Experimente brachten erstens keinen Schlaf, sondern nur Vergiftungssymptome, und zweitens kann man diese dem Schlaf ganz unähnlichen Zustände fast mit dem Extrakte jedes anderen Organes, ja, sogar aus dem ganz untätigen Muskel des neugeborenen Tieres herauspressen; sie beweisen eben nur, daß auch Muskelsäfte fremde Beimengungen zum Blut sind,—abgesehen also von der hypothetischen Natur dieses Schlafstoffes gibt es sehr schlagende Gegengründe gegen die Möglichkeit einer solchen periodischen Ermüdungsvergiftung. Wie sollte ein Tier mit Winterschlaf so sonderbare Giftkammern besitzen, um von ihnen aus Monate lang sich selbst in Narkose zu erhalten, ohne daß für diese Funktionen auch nur der Schatten eines Organes in seinem Leibe zu finden ist? Wie sollte zum Beispiel die merkwürdige Narkose des Hamster-Chloroforms zu deuten sein, die ohne jede Analogie in unserem Wissen vom künstlichen Schlaf wäre und nur in der periodischen Wiederkehr gewisser Wahnsinnsformen einen schwachen Analogiestützpunkt gewinnen könnte? Wie aber sollte erst diese Narkose durch Selbstgift zu verstehen sein bei der pathologischen Schlafsucht des Menschen, bei der eine—dann doch notwendige—besondere Muskelaktion vor dem Anfall oder während der Dauer des Schlafes noch niemand aufgefallen ist und bei der ein besonderer Gehalt des Blutes an dieser Fleischmilchsäure in keinem Falle bisher sich hat beobachten lassen? Wo produzieren Neugeborene, die doch noch herzlich wenig mit Muskelkünsten zu paradieren pflegen, das Muskelmorphium ihres lieblichen Dauerschlafes, der sich für unbefangene Betrachter wahrlich eher wie ein Nachdauern süßen Himmelsfriedens, aus dem die Seele niederstieg, ausnimmt als wie ein tiefer und zäher Kater, der auf einen Sturm durchwachter Prügelnächte folgte, worauf allerdings das Antlitz des eben einpassierten Mitbürgers mitunter hinzudeuten scheint? Ist denn im Gegensatz zum Hindämmern des werdenden Menschleins das unruhige Leben des Neurasthenikers oder des Greises, der hin und her hastet in Lebensangst und Sorge, ein besonders mit Schlaf gesegnetes? Läßt sich ernstlich behaupten, daß man, je mehr Muskelaktion man ausübt, desto besser schlafe? Ist nicht gerade Überanstrengung das beste Mittel, um gar nicht mehr zu schlafen? Erfreuen sich nicht umgekehrt gesunde geistige Arbeiter eines ungestörten, tiefen Schlummers? Will man behaupten, daß auch sie alle Gift produzieren? Die ganze Ermüdungstheorie, die das Leben auffaßt wie ein Kautschukband, das man hier und da abspannen muß, um es funktionstüchtig zu erhalten (wobei noch nicht bewiesen ist, daß es dadurch dauernd elastischer bleibt), ist meiner Meinung nach unhaltbar. Gerade die lebenswichtigsten und festgegründetesten und wahrlich "beschäftigten" Organe, das Herz, die Lungen, der Magen—diese eigentlichen Motoren unseres körperlichen und seelischen...

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