KAPITEL EINS
Auftritt der Gefühle
Gefühle von Schmerz, Lust und jede Empfindung dazwischen bilden das Grundgefüge unseres Geistes. Häufig übersehen wir diese schlichte Tatsache, weil die Bilder der uns umgebenden Objekte und Ereignisse zusammen mit den Vorstellungen der Wörter und Sätze, die ihrer Beschreibung dienen, einen Großteil unserer überlasteten Aufmerksamkeit beanspruchen. Doch sie sind nicht wegzuleugnen, die unzähligen Emotionen und verwandten Zustände, die ununterbrochene Tonfolge unseres Geistes, das unaufhörliche Summen der allgegenwärtigen Melodien, die erst verklingen, wenn wir einschlafen, ein Summen, das zu einem jubelnden Gesang anschwillt, wenn uns Freude erfasst, oder zu einem düsteren Requiem herabgestimmt wird, wenn wir in Trauer versinken.1
Angesichts der Allgegenwart von Gefühlen sollte man meinen, dass sie schon vor langer Zeit wissenschaftlich untersucht worden sind – was sie eigentlich sind, wie sie funktionieren, was sie bedeuten –, doch davon kann kaum die Rede sein. Von allen beschreibbaren geistigen Phänomenen entziehen sich Gefühle und ihre wichtigsten Varianten – Schmerz und Lust – bislang dem Verständnis der Biologie und speziell der Neurobiologie am hartnäckigsten. Das ist umso überraschender, als hochentwickelte Gesellschaften einen schamlosen Kult mit Gefühlen treiben und sie mit viel Aufwand und großen Mühen manipulieren – mit Alkohol, Drogen, Medikamenten, Nahrung, realer Sexualität, virtueller Sexualität, einer Fülle von Konsumformen, sozialen und religiösen Praktiken, die Wohlgefühl hervorrufen sollen. Wir verarzten unsere Gefühle mit Pillen, Getränken, Kuraufenthalten, Fitnessprogrammen und spirituellen Übungen, doch weder Laien noch Wissenschaftler haben bisher erklären können, was genau Gefühle – biologisch betrachtet – eigentlich sind.
Dieser Stand der Dinge überrascht mich eigentlich nicht, wenn ich mich daran erinnere, mit welchen Meinungen über Gefühle ich aufgewachsen bin. Die meisten waren einfach falsch. Beispielsweise dachte ich, Gefühle ließen sich auf keinen Fall so exakt definieren wie Dinge, die man sehen, hören oder anfassen kann. Im Gegensatz zu diesen konkreten Objekten seien Gefühle nicht greifbar und immateriell. Als ich anfing, mir Gedanken darüber zu machen, wie es dem Gehirn gelingt, den Geist zu erzeugen, übernahm ich kritiklos die herrschende Auffassung, nach der Gefühle jenseits jeder wissenschaftlichen Analyse liegen. Man konnte untersuchen, wie das Gehirn uns dazu bringt, uns zu bewegen. Man konnte sensorische Prozesse – visuelle oder andere – untersuchen und man konnte untersuchen, wie das Gehirn Gedanken zusammenfügt. Man konnte untersuchen, wie das Gehirn lernt und sich erinnert. Man konnte sogar die emotionalen Reaktionen untersuchen, mit denen wir auf verschiedene Objekte und Ereignisse reagieren. Aber Gefühle – die von Emotionen zu unterscheiden sind, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden – entzogen sich dem Zugriff wissenschaftlicher Untersuchungen. Gefühle galten als ewiges Geheimnis. Sie waren privat und unzugänglich. Es ließ sich einfach nicht erklären, wie Gefühle passieren oder wo sie passieren. Mit einem Wort, man kam einfach nicht »hinter« die Gefühle.
Wie das Bewusstsein, so lagen auch die Gefühle jenseits der Grenzen der Wissenschaft – verbannt nicht nur von den Skeptikern, die befürchteten, irgendwelche geistigen Phänomene könnten doch von den Neurowissenschaften erklärt werden, sondern auch von ausgewiesenen Neurowissenschaftlern selbst, die angeblich unüberwindliche Schwierigkeiten als Begründung aufführten. Meine eigene Bereitschaft, diese Auffassung zu übernehmen, wird durch die vielen Jahre dokumentiert, die ich damit zubrachte, alles Mögliche zu untersuchen, nur keine Gefühle. Ich brauchte einige Zeit, um zu erkennen, wie haltlos dieses Verdikt war und dass eine Neurobiologie der Gefühle nicht unrealistischer war als die Neurobiologie des Sehens oder des Gedächtnisses. Doch es gelang mir schließlich in erster Linie deshalb, weil ich mich mit der Realität neurologischer Patienten konfrontiert sah, deren Symptome mich buchstäblich dazu zwangen, ihren Zustand zu untersuchen.
Stellen Sie sich beispielsweise vor, Sie begegnen einem Menschen, der nach einer Schädigung bestimmter Regionen des Gehirns nicht mehr in der Lage ist, Mitgefühl oder Verlegenheit zu empfinden – in Situationen, in denen Mitgefühl oder Verlegenheit angebracht wären –, der aber noch genauso wie vor seiner Erkrankung glücklich, traurig oder ängstlich sein kann. Würde Sie das nicht nachdenklich machen? Oder nehmen Sie einen Menschen, dem infolge einer Schädigung einer anderen Stelle seines Gehirns die Fähigkeit verloren geht, Furcht zu empfinden, wenn er es müsste, der aber trotzdem noch in der Lage ist, mitleidig zu reagieren. Die Grausamkeit neurologischer Erkrankung mag ein bodenloser Abgrund für die Betroffenen sein – die Patienten und diejenigen von uns, die das Leid mit ansehen müssen. Doch das Skalpell der Krankheit ist auch für das einzige versöhnlich stimmende Merkmal verantwortlich: Dadurch, dass die neurologische Erkrankung die normalen Funktionen des menschlichen Gehirns wegschneidet – häufig mit geradezu unheimlicher Genauigkeit –, verschafft sie uns einen einzigartigen Zugang zur Festung des menschlichen Gehirns und Geistes.
Überlegungen zur Situation dieser Patienten und anderer Menschen mit vergleichbaren Leiden warfen faszinierende Hypothesen auf. Erstens, einzelne Gefühle können durch die Schädigung einer bestimmten Gehirnregion verhindert werden; der Verlust eines bestimmten Abschnitts der Schaltkreise im Gehirn bewirkt den Fortfall von spezifischen geistigen Ereignissen. Zweitens schien klar zu sein, dass unterschiedliche Gehirnsysteme ganz verschiedene Gefühle steuern; die Schädigung eines Hirnareals führt nicht dazu, dass alle Gefühle auf einmal wegfallen. Drittens, und das war am überraschendsten, wenn Patienten die Fähigkeit verlieren, eine bestimmte Emotion zu zeigen, verlieren sie auch die Fähigkeit, das entsprechende Gefühl zu erleben. Doch der Umkehrschluss stimmte nicht: Einige Patienten, die ihre Fähigkeit, bestimmte Gefühle zu empfinden, verloren hatten, konnten durchaus noch die entsprechenden Emotionen zeigen. War es also denkbar, dass Emotion und Gefühl zwar Zwillinge sind, die Emotion aber vor dem Gefühl da ist, sodass Letzteres Ersterem immer wie ein Schatten folgen muss? Trotz der engen Verwandtschaft und scheinbaren Gleichzeitigkeit hatte es den Anschein, als gehe die Emotion dem Gefühl voraus. Die Kenntnis dieser besonderen Beziehung öffnete, wie wir noch sehen werden, ein Fenster zur Untersuchung der Gefühle.
Solche Hypothesen ließen sich mit Hilfe von Neuroimaging-Verfahren testen, sodass wir die Anatomie und die Aktivität des menschlichen Gehirns darstellen konnten. Schritt für Schritt, zunächst bei Patienten und dann bei Menschen ohne neurologische Erkrankungen, kartographierten meine Kollegen und ich die Geographie des fühlenden Gehirns. Unser Ziel war es, das Netzwerk der Mechanismen zu erhellen, das unseren Gedanken ermöglicht, emotionale Zustände auszulösen und Gefühle hervorzurufen.2
Emotion und Gefühl spielten eine wichtige, aber ganz andere Rolle in zwei meiner vorangehenden Bücher. Descartes’ Irrtum beschäftigte sich mit der Rolle von Emotion und Gefühl bei der Entscheidungsfindung. Ich fühle, also bin ich skizzierte die Rolle von Emotion und Gefühl bei der Konstruktion des Selbst. Im vorliegenden Buch geht es jedoch um die Gefühle selbst – was sie sind und was sie bewirken. Die meisten Untersuchungsdaten, die ich heranziehe, standen noch nicht zur Verfügung, als ich die vorhergehenden Bücher schrieb. Wir verfügen heute über eine solidere Basis zum Verständnis von Gefühlen. Daher handelt es sich bei diesem Buch in erster Linie um einen Zwischenbericht über die Fortschritte der Forschung – über das Wesen der Gefühle und ihre Bedeutung für das menschliche Leben, so wie ich sie als Neurologe, Neurowissenschaftler und regelmäßiger »Benutzer« sehe.
Im Wesentlichen bin ich gegenwärtig der Auffassung, dass Gefühle ein Ausdruck menschlichen Wohlbefindens und menschlichen Elends sind, so, wie sie in Geist und Körper auftreten. Gefühle sind nicht einfach bloßer Zierrat, der Emotionen begleitet und auf den man auch verzichten könnte, sondern häufig Enthüllungen einer Verfassung, die den ganzen Organismus betrifft – buchstäblich ein Heben des Schleiers. Da das Leben ein Drahtseilakt ist, bringen die meisten Gefühle das Bemühen um Gleichgewicht zum Ausdruck, geistige Entwürfe für jene feinen Anpassungen und Korrekturen, ohne die – ein Fehler zu viel – der ganze Akt im Sturz endet. Wenn irgendetwas an uns von der Gleichzeitigkeit unserer Kleinheit und Größe zeugt, dann sind es die Gefühle.
Wie diese Enthüllung ins Bewusstsein tritt, wird seinerseits gerade enthüllt. Das Gehirn verwendet eine Anzahl spezifischer Regionen, die in ihrem Zusammenspiel unzählige Aspekte der Aktivitäten unseres Körpers in Form von neuronalen Karten abbilden. Diese Abbildung setzt sich aus vielen Facetten zusammen und stellt den immer währenden Wandel unseres Lebens dar. Die chemischen und neuronalen Kanäle, die die Signale ins Gehirn transportieren, mit denen sich dieses Porträt des Lebens zeichnen lässt, sind ebenso komplex wie die Leinwand, die sie aufnimmt. Das Geheimnis unserer Gefühle hat heute ein wenig von seinem Geheimnis eingebüßt.
Mit gutem Recht lässt sich fragen, ob der Versuch, die Gefühle zu verstehen, mehr verspricht als die Befriedigung der eigenen Neugier. Davon bin ich aus verschiedenen Gründen überzeugt. Die Neurobiologie der Gefühle und der ihnen...