I. Der Berg
Diese Welt in ihrem bodenlosen Schweigen hatte nichts Wirtliches, sie empfing den Besucher auf eigene Rechnung und Gefahr, sie nahm ihn nicht eigentlich an und auf, sie duldete sein Eindringen, seine Gegenwart auf eine nicht geheure, für nichts gutstehende Weise, und Gefühle des still bedrohlich Elementaren, des nicht einmal Feindseligen, vielmehr des Gleichgültig-Tödlichen waren es, die von ihr ausgingen.
THOMAS MANN, «DER ZAUBERBERG»
Samstag, der 24., begann trübe und bedeckt, aber später am Tag versprach das Wetter schön zu werden. Ich konnte also früh zu meiner Bergtour aufbrechen und durch die Obstgärten und Wälder am Fuß des Berges wandern und würde, so schätzte ich, gegen Mittag den Gipfel erreichen. Bis dahin würde es vielleicht aufgeklart haben, und mir würde sich eine großartige Aussicht von der Spitze des Berges bieten – rings um mich her die niedrigeren Berge, deren Hänge sich in den Hardangerfjord stürzten, und der große Fjord selbst würde in seiner ganzen Ausdehnung zu sehen sein. Das Wort «Bergtour» lässt an Seile und das mühsame Erklettern von Felsen denken. Um diese Art von Bergtour handelte es sich jedoch nicht. Vor mir lag lediglich ein steiler Pfad. Ich rechnete nicht mit besonderen Problemen oder Schwierigkeiten. Ich war stark wie ein Stier, ich befand mich in der Blüte, auf dem Zenit meines Lebens, ich war ein Mann in den besten Jahren. Ich sah meiner Wanderung mit Selbstvertrauen und Freude entgegen.
Bald hatte ich mein Tempo gefunden – einen federnden, schwungvollen Schritt, der mich rasch voranbrachte. Ich war vor Morgengrauen aufgebrochen und befand mich um halb acht in etwa sechshundert Meter Höhe. Der Frühnebel riss bereits auf. Nun betrat ich einen dunklen Nadelwald, in dem ich langsamer vorankam, zum Teil wegen der knorrigen Wurzeln auf dem Pfad, zum Teil aber auch, weil ich von der Welt der niedrigen Pflanzen, die hier im Schutz der Bäume wuchsen, fasziniert war und immer wieder stehen blieb, um einen jungen Farn, ein Moos, eine Flechte zu betrachten. Dennoch hatte ich kurz nach neun den Wald hinter mir gelassen, und vor mir erhob sich der eigentliche Berg, ein gewaltiger, zweitausend Meter hoher Kegel, der über dem Fjord aufragte. Zu meiner Überraschung stieß ich hier auf einen Zaun und ein Tor, an dem ein noch überraschenderes Schild angebracht war:
stand dort auf Norwegisch, und für diejenigen, die den Sinn dieser Worte vielleicht nicht verstanden, war daneben ein eher komisches Bild von einem Mann aufgemalt, der durch die Luft gewirbelt wurde.
Ich blieb stehen, studierte das Bild und kratzte mich am Kopf. Ein Stier? Hier oben? Was sollte ein Stier hier oben verloren haben? Auf den Wiesen und bei den Bauernhöfen weiter unten hatte ich nicht einmal Schafe gesehen. Vielleicht handelte es sich nur um einen Witz, den sich die Dorfbewohner oder ein früherer Wanderer mit einem seltsamen Sinn für Humor ausgedacht hatten. Oder vielleicht gab es hier tatsächlich einen Stier, den man den Sommer über auf diese riesige Alm getrieben hatte und der das spärliche Gras und die kümmerlichen Büsche abweidete. Doch genug der Spekulationen! Auf zum Gipfel! Wieder veränderte sich das Terrain. Es war jetzt sehr steinig, und hier und da lagen riesige Felsblöcke; es gab jedoch auch eine dünne Schicht Erde, die stellenweise matschig war, weil es in der Nacht zuvor geregnet hatte, auf der aber reichlich Gras und einige schmächtige Büsche wuchsen – Futter genug für ein Tier, das den ganzen Berg als Weide hatte. Der Pfad wurde viel steiler und war ziemlich gut markiert, wenn auch, so hatte ich den Eindruck, nur wenig benutzt. Ich befand mich ja schließlich auch in einem nicht gerade dicht besiedelten Teil der Welt. Ich hatte keinen anderen Touristen gesehen, und die Dorfbewohner waren, so dachte ich, zu sehr mit dem Fischfang und der Landwirtschaft beschäftigt, um Ausflüge in die Berge zu unternehmen. Umso besser. Ich hatte den Berg für mich allein! Vorwärts, weiter zum Gipfel – obwohl ich ihn nicht sehen konnte. Doch nach meiner Schätzung war ich bereits auf tausend Meter Höhe angelangt, und wenn der Weg auch weiterhin nur steil war und nicht schwierig wurde, konnte ich, wie geplant, um Mittag auf dem Gipfel stehen. So stieg ich in einem trotz der Steigung zügigen Tempo weiter bergauf und freute mich über meine Energie und meine Ausdauer, besonders aber über meine starken Beine, die durch jahrelanges Üben und Gewichtestemmen im Fitnessraum trainiert waren. Starke Glieder, ein starker Körper, ein langer Atem und eine große Ausdauer – ich war der Natur, die mich so gut ausgestattet hatte, dankbar. Und ich trieb mich zu körperlichen Leistungen an, schwamm ausgiebig und machte lange Bergtouren. Das war meine Art, mich bei der Natur zu bedanken und von dem guten Körper, den sie mir geschenkt hatte, den besten Gebrauch zu machen. Gegen elf Uhr sah ich, als es die ziehenden Nebelschwaden erlaubten, zum ersten Mal den Gipfel des Berges. Es war nun nicht mehr so weit – ich würde es tatsächlich bis Mittag schaffen. Hier und da lag immer noch ein dünner Nebel und verhüllte zuweilen die Felsblöcke, sodass sie schwer auszumachen waren. Manchmal sah ein solcher durch die Nebelschwaden nur undeutlich zu erkennender Felsblock wie ein riesiges, kauerndes Tier aus, und erst im Näherkommen enthüllte sich mir, um was es sich hier in Wirklichkeit handelte. Es gab Augenblicke des Zweifels, in denen ich unsicher stehen blieb, wenn ich der nebelumwaberten Umrisse vor mir gewahr wurde … Aber als es dann geschah, hatte ich keinerlei Zweifel!
Die tatsächliche Realität brach jedoch nicht in einem solchen Augenblick über mich herein und wurde nicht einmal ansatzweise durch Einbildung oder Zweifel verfälscht. Ich hatte gerade den Nebel hinter mir gelassen und ging um einen haushohen Felsblock herum. Der Weg krümmte sich, sodass ich ihn nicht übersehen konnte, und dies war es, was «die Begegnung» ermöglichte. Ich lief praktisch in das hinein, was vor mir lag – ein riesiges Tier, das sich auf dem Weg niedergelassen hätte, ja ihn geradezu versperrte, und dessen Anwesenheit durch die Rundung des Felsens verborgen gewesen war. Es hatte einen gewaltigen, gehörnten Kopf, einen gigantischen weißen Körper und ein mächtiges, milchweißes Gesicht. Unbewegt und außerordentlich gelassen blieb es bei meinem Erscheinen liegen und wandte mir lediglich sein riesiges weißes Gesicht zu. Und in diesem Augenblick veränderte es sich vor meinen Augen und verwandelte sich aus etwas Herrlichem in etwas ausgesprochen Monströses. Das riesige weiße Gesicht schien immer mehr aufzuquellen, und die großen Glotzaugen funkelten vor Bosheit. Größer und größer wurde das Gesicht, bis ich schließlich glaubte, es werde die ganze Welt auslöschen. Der Stier wurde entsetzlich, unglaublich entsetzlich – entsetzlich in seiner Kraft, seiner Bösartigkeit, seiner Tücke. Alles an ihm schien jetzt den Stempel des Teuflischen zu tragen. Erst hatte er sich in ein Ungeheuer verwandelt, jetzt wurde er ein Teufel.
Ich bewahrte einen Augenblick lang die Fassung oder das, was ich dafür ausgab, machte ganz «natürlich» mitten im Gehen einen Schwenk um 180 Grad, als kehrte ich am Ende eines Spaziergangs um, und machte mich behände und trittsicher an den Abstieg. Aber dann – wie schrecklich! – verlor ich plötzlich die Nerven, die Angst überwältigte mich, und ich rannte um mein nacktes Leben – ich rannte blindlings und wie verrückt den steilen, schlammigen, rutschigen Pfad hinunter, der hier und da im Nebel verborgen war. Blinde, wilde Panik! Es gibt auf der Welt nichts Schlimmeres als das, nichts Schlimmeres – und nichts Gefährlicheres. Ich weiß nicht genau, was geschah. Bei meiner überstürzten Flucht den schlüpfrigen Pfad hinunter muss ich falsch aufgetreten sein – auf einen losen Stein oder in ein Loch. Es ist, als fehle in meiner Erinnerung ein Augenblick – es gibt ein «Vorher» und ein «Nachher», aber kein «Dazwischen». Eben noch rannte ich wie ein Verrückter, war mir nur des schweren Keuchens und schwerer, stampfender Schritte bewusst, ohne dass ich hätte sagen können, ob diese Geräusche vom Stier oder von mir kamen, und gleich darauf lag ich am Fuß einer kleinen, steilen Klippe, das Bein unter mir grotesk verdreht und mit einem Schmerz in meinem Knie, wie ich ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Eben noch stark und voller Energie und im nächsten Augenblick praktisch hilflos zu sein, eben noch vor Gesundheit zu strotzen und im nächsten Augenblick ein Krüppel zu sein, sich eben noch im Vollbesitz aller Kräfte und Fähigkeiten zu fühlen und ihrer im nächsten Augenblick beraubt zu sein – die Plötzlichkeit einer solchen Veränderung ist schwer zu begreifen, und der Geist sucht nach Erklärungen.
Ich hatte dieses Phänomen schon bei anderen beobachtet – bei Patienten, die plötzlich einen Schlag oder eine Verletzung erlitten hatten, und jetzt erlebte ich es an mir selbst. Mein erster Gedanke war, dass es einen Unfall gegeben hatte und dass jemand, den ich kannte, ernstlich verletzt worden war. Später dämmerte mir, dass ich selbst das Opfer war; dieser Gedanke war jedoch von dem Gefühl begleitet, dieser Fall sei nicht wirklich ernst. Um das zu beweisen, stand ich auf, oder vielmehr: Ich versuchte aufzustehen, brach aber dabei wieder zusammen, denn das linke Bein war völlig kraftlos und schlaff und gab unter mir nach wie eine weichgekochte Nudel. Es hielt überhaupt keine Belastung aus, sondern...