Wille zur Wahrheit (S. 171-172)
Damir Barbaric´
Nehmen wir zum Ausgangspunkt der Überlegungen einen Aphorismus der Fröhlichen Wissenschaft, in dem die Themen Wissenschaft und Gott unter einem Gesichtspunkt zusammengebracht sind und ihr Verhältnis so eingehend und genau bestimmt ist wie kaum anderswo im Werk Nietzsches. Schon sein Titel „Inwiefern auch wir noch fromm sind“ (FW 344) soll darauf hinweisen, dass die angebliche Voraussetzungslosigkeit der Wissenschaft, auch in ihrer modernen, rein positivistischen Gestalt, eine nur scheinbare ist. Um Zutritt zum Reich der echten Erkenntnis zu erlangen,um das Bürgerrecht in der Wissenschaft für sich zu sichern, müssen alle vorwissenschaftlichen Überzeugungen „sich entschliessen, zur Bescheidenheit einer Hypothese, eines vorläufigen Versuchs-Standpunktes, einer regulativen Fiktion herabzusteigen“. Das heißt, sie müssen aufhören, überhaupt noch Überzeugungen zu sein. Die strenge Zucht des „wissenschaftlichen Geistes [fängt] damit an, sich keine Ueberzeugungen mehr zu gestatten“.
Dieser anscheinend ganz selbstverständliche Sachverhalt ist für Nietzsche alles andere als selbstverständlich. Es ist nicht besonders schwer einzusehen, dass dieser Anspruch auf Freiheit von aller Überzeugung in Wahrheit die in aller Erkenntnis und in jeder Wissenschaft herrschende Grundüberzeugung ist. Das heißt, die Wissenschaft ist nie voraussetzungslos. Auch sie beruht auf einem Glauben und einer Überzeugung, und zwar einer „so gebieterische[n] und bedingungslose[n], dass sie alle andren Ueberzeugungen sich zum Opfer bringt“. Dieser jeder Wissenschaft vorangehendeundihr zugrunde liegende Glaubenbesteht in derAnnahme,dass die Wahrheit nottut und dass sie der hçchste Wert schlechthin ist. Der unbedingte Wille zur Wahrheit ist als notwendige Voraussetzung aller wissenschaftlichen Erkenntnis einzusehen.
Seinem leitenden Ansatz gemäß, nach dem „das Problem der Wissenschaft […] nicht auf dem Boden der Wissenschaft erkannt werden“ kann (GT, Versuch einer Selbstkritik 2), geht Nietzsche über den wissenschaftlichen Horizont hinaus und fragt gleichsam rückläufig nach dem Recht des ihn entspringen lassenden und in ihm weiterhin herrschenden Entschlusseszur völligen Voraussetzungslosigkeit. Es ist zu fragen, woher die Wissenschaft selbst wissen kann, dass Wahrheit mehr wert ist als Unwahrheit und Überzeugungslosigkeit mehr als Überzeugung: „Was wisst ihr von vornherein vom Charakter des Daseins, um entscheiden zu kçnnen, ob der grçssere Vortheil auf Seiten des Unbedingt-Misstrauischen oder des Unbedingt- Zutraulichen ist?“Wenn es so ist, dass dem Leben die Unwahrheit nicht weniger als die Wahrheit, das Misstrauen nicht weniger als das Zutrauen notwendig und förderlich ist – und für Nietzsche ist ebendies der Fall –, dann erweist sich die wissenschaftliche Wahrheit lediglich als die verhängnisvolle Vereinseitigung und Verkürzung der vollen und umfassenden Wirklichkeit bzw. ,Wahrheit‘, die Nietzsche hier wie auch sonst schlicht als „Charakter des Daseins“ bezeichnet. Wenn es aber darüber hinaus „den Anschein haben sollte, – und es hat den Anschein! – als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt wäre“, dann kann man nicht umhin, im unbedingten Willen zur Wahrheit „ein lebensfeindliches zerstörerisches Princip“ zu erkennen:
Es ist kein Zweifel,der Wahrhaftige, in jenem verwegenen und letzten Sinne,wie ihn der Glaube an die Wissenschaft voraussetzt, bejaht damit eine andre Welt als die des Lebens, der Natur und der Geschichte; und insofern er diese ,andre Welt‘ bejaht, wie? muss er nicht eben damit ihr Gegenstück, diese Welt, unsre Welt – verneinen?