Vorwort
Der Eiffelturm und die Brooklyn Bridge wurden zu herausragenden Symbolen ihrer Zeit, weil eine breite Öffentlichkeit in ihren Formen den Beginn einer neuen Ära der Technik sah. Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu zeigen, dass dieser Turm und diese Brücke nur zwei von zahllosen neueren Ingenieurbauten sind, die eine neue Kunstform repräsentieren, die „Structural Art“ oder Kunst des Ingenieurbaus, welche parallel zur Architektur und vollkommen unabhängig von dieser existiert.
Die Gedanken, auf denen dieses Buch aufbaut, entstammen ursprünglich meinen Vorlesungen über Ingenieurbauwerke für fortgeschrittene Architekturstudenten. Gelangweilt von den üblichen Lehrbüchern für Ingenieure zeigten sie mir, was sie unter schönen Bauwerken verstanden, beispielsweise die Brücken des schweizerischen Bauingenieurs Robert Maillart oder die Bauten des katalanischen Architekten Antonio Gaudí. Ab etwa 1962 entwickelte ich für die Architekturstudenten eine Reihe von Diavorträgen über Ingenieurbauten. 1974 kombinierte ich diese Vorträge in Princeton zu einer neuen Lehrveranstaltung für Studenten des Ingenieurwesens, der Architektur und der freien Künste. Das vorliegende Buch entstammt direkt diesen Vorlesungen. Der zentrale Gedanke, dass Ingenieurbauwerke eine eigene Kunstform darstellen könnten, hat jedoch noch einen anderen Ursprung – meine Forschungen über Leben und Werk von Robert Maillart.
Zusammen mit meinem Kollegen Robert Mark organisierte ich 1972 in Princeton eine Konferenz anlässlich des 100. Geburtstags von Robert Maillart. Der schweizerische Brückenbauer Christian Menn, der spanische Planer und Erbauer von dünnen Schalentragwerken Felix Candela und der Konstrukteur von Wolkenkratzern Fazlur Khan aus Chicago hielten dort denkwürdige Vorträge. Sie alle sprachen über Maillarts Einfluss auf ihre eigenen Werke und die Parallelen zwischen Maillarts Ideen und ihren eigenen. Ganz offensichtlich war die Ästhetik für alle vier ein zentraler Aspekt der Ingenieurplanung, und das Publikum war tief beeindruckt von der Schönheit ihrer fertigen Bauwerke. Für mich war das der erste Hinweis auf eine neue Tradition, die neue Kunst des Ingenieurbaus.
Im Anschluss an diese Konferenz befasste ich mich detaillierter mit Leben und Werk von Robert Maillart. Das erste sichtbare Resultat dieser Forschungsarbeiten erschien 1979: Robert Maillart’s Bridges: The Art of Engineering. Während der Arbeit an diesem Buch erkannte ich, dass Maillart wirklich ein Künstler in demselben Sinne gewesen war wie beispielsweise Alberto Giacometti oder Le Corbusier. Natürlich war Maillart weder Bildhauer noch Architekt; all seine Arbeiten sind in der zahlendominierten, rationalen Welt des Ingenieurbaus verwurzelt. Und doch schaffte er es, aus dieser trockenen Disziplin heraus Werke von großer Schönheit zu erschaffen, die seine Persönlichkeit widerspiegelten. Bei der Erforschung von Maillart erhielt ich entscheidende Hilfe von Christian Menn, der mir nicht nur Kontakte zu den wichtigen Schweizern vermittelte, sondern mir auch seine eigenen Brücken zeigte und mir ihre Konstruktion erläuterte. Allmählich begann ich, aus den Werken von Maillart und Menn heraus zu verstehen, wie ein Ingenieurbau-Künstler denkt und arbeitet.
Noch ein weiteres Ereignis lenkte meine Aufmerksamkeit auf diese Kunstform. 1978 wohnte ich einem Vortrag von Heinz Isler bei, des schweizerischen Konstrukteurs von dünnen Schalentragwerken, der atemberaubende Beispiele seiner fertigen Bauwerke zeigte. Zu dieser Zeit arbeitete ich gerade an einer neuen Ausgabe meines Buches Thin Shell Concrete Structures. Islers Entwürfe brachten mich dazu, das Buch zu überdenken und ihm schließlich ein neues Kapitel über Dachkonstruktionen hinzuzufügen, das sich auf seine Schalentragwerke konzentrierte. Er war ein weiterer Ingenieurbau-Künstler auf einer Stufe mit Candela. Vor allem zeigte Isler, wie durch die Verbindung von striktem Ingenieursdenken und spielerischer Kreativität neue Formen entstehen können.
In der Zwischenzeit versuchte ich mit einiger Mühe, eine Biografie von Maillart fertigzustellen, die all diese Gedanken zur Structural Art enthalten sollte. Zu meinem Glück kam im Frühjahr 1981 dann Martin Kessler von Basic Books mit dem Vorschlag auf mich zu, ein Buch über diese neue Kunstform zu schreiben. Mein Bruder James H. Billington hatte ihm meine Forschung beschrieben, und schon im Herbst desselben Jahres arbeitete ich intensiv an dem Buch. Nach seiner Fertigstellung war ich mit einem klarer umrissenen Ziel wieder in der Lage, zu der Biografie von Maillart zurückzukehren, in der ich nun nicht mehr all die Gedanken im Detail entwickeln musste, die in dem anderen Buch abgehandelt waren.
Da das Thema Structural Art etwas grundlegend Neues ist, scheint es mir sinnvoll, vorab die Kriterien zu erklären, auf denen dieses Buch aufbaut.
Erstens wollte ich die besten Werke des Ingenieurbaus der letzten zwei Jahrhunderte zeigen. Dieser Gedanke hängt mit meinem Wunsch zusammen, eine Vorlesung über Structural Art analog zu Vorlesungen über Malerei oder Literatur zu halten, in der ich die herausragendsten Werke der Reihe nach behandle, um so die Evolution der Gestaltungsprinzipien aufzuzeigen. Dabei schien es mir entscheidend zu sein, die Geschichte anhand der Arbeiten ausgewählter Künstler zu beschreiben und nicht einfach alle Ingenieure aufzuzählen, die Beiträge zur modernen Baukunst geliefert haben. Ich glaube, dass es wichtig ist, sich auf die wesentlichen Bauwerke zu konzentrieren, sowohl als Einführung für Studenten des Bauingenieurwesens als auch als Überblick für Nichtingenieure, genau wie man die Literatur der letzten 200 Jahre anhand der herausragendsten Künstler präsentiert, anstatt alle verdienstvollen Autoren zu berücksichtigen. Die ausgewählten Ingenieurbau-Künstler haben allesamt Pionierarbeit im Ingenieurbau geleistet, sind (mit wenigen Ausnahmen) an ingenieurwissenschaftlichen Fakultäten ausgebildet und haben ein tiefes Interesse daran, Wirtschaftlichkeit und Eleganz zu verbinden.
Zweitens habe ich mich entschieden, meine Geschichte im späten 18. Jahrhundert zu beginnen, als Gusseisen erstmals zur Realisierung vollständiger Bauwerke eingesetzt wurde. Vor dieser Zeit waren Stein und Holz die wesentlichen Baumaterialien – Materialien, die es schwierig machen, die Konstruktion von der architektonischen Gestaltung zu trennen. Beginnend mit den eisernen Brücken von Thomas Telford entstanden jedoch neue Formen, die neue Prinzipien und eine andere Ausbildung erforderten und zur Entstehung des modernen Ingenieurberufs führten. Aus diesem Grund habe ich keine Bauwerke aufgenommen, die älter als die Iron Bridge von 1779 sind. Wie die andere aus der industriellen Revolution entstandene Kunstform, die Fotografie, brachte auch die Entwicklung des Industrieeisens neue künstlerische Ausdrucksformen mit sich. So wie es Künstler wie Charles Sheeler gibt, die sich sowohl mit Malerei als auch mit Fotografie beschäftigten, gibt es auch Künstler wie Felix Candela, die sowohl großartige Ingenieurbauten als auch architektonische Bauwerke hervorbrachten. Wie ich in diesem Buch zu zeigen versuche, ist der Unterschied zwischen beiden jedoch ebenso klar wie der zwischen Fotografie und Malerei. In der Tat kann man sagen, dass die beiden traditionelleren Kunstformen Architektur und Malerei eine Art modernes Trauma aufgrund der vermuteten Konkurrenz durch die neuen Kunstformen Fotografie und Ingenieurbau-Kunst erlitten.
Mein drittes Kriterium für den Aufbau des Buches war die gegenseitige Unabhängigkeit von Structural Art und Architektur. Oft werden Ingenieurbau und Architektur als zwei Seiten einer Medaille angesehen und es wird versucht, beide zu vereinigen. Die Motive hierfür sind verständlich, die Ergebnisse jedoch fragwürdig. Natürlich ist es ebenso wichtig für Ingenieure, etwas über Kunst und Ästhetik zu lernen, wie für Architekten, Konstruktion und Statik zu verstehen. Aber wie ich in diesem Buch zu zeigen versuche, entstehen die schönsten Bauwerke der Structural Art, wenn sie von Ingenieuren geplant werden, die im Ingenieurbau ausgebildet sind und nicht in Architektur. Es scheint, dass die besten Bauwerke der Structural Art fast ausnahmslos nicht von einer gestalterischen Zusammenarbeit mit Architekten profitiert hätten. Trotz dieser Tatsache haben scharfsinnige Architekten und Architekturautoren die Ingenieurbau-Künstler schnell erkannt und deren Arbeiten häufig schneller als die Ingenieure selbst verbreitet. Mein Hauptziel war es deshalb, diese neue Kunstform zusammenhängend aus der Perspektive des Ingenieurwesens vorzustellen und zu zeigen, dass die im strengen technischen Sinn besten Bauwerke häufig auch die schönsten waren.
Viertens und letztens bin ich der Überzeugung, dass es einen Satz von grundlegenden Idealen der Structural Art gibt, die sie von Architektur oder Bildhauerei unterscheiden. Der zentrale Punkt ist dabei die feste Überzeugung aller Ingenieure, die in diesem Buch zu Wort kommen, dass sie bei der Gestaltung ihrer Bauwerke eine große...