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Der Umgang mit Autismus in den USA

Schulische Praxis, Empowerment und gesellschaftliche Inklusion. Das Beispiel Kalifornien

AutorGeorg Theunissen
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783170239258
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
Die USA sind nicht nur in Sachen Computer-, Informations- und Kommunikationstechnologie ein Pionier-Land. Auch im Bereich der Sozialen Arbeit und Behindertenhilfe bieten sie wichtige Innovationsimpulse, die richtungsweisend sind. Für das Gebiet des Autismus kommt Kalifornien eine Führungsrolle hinsichtlich Forschung, Dienstleistungen und Best Practice für Menschen im Autismus-Spektrum zu. Das Buch stellt jene erprobten und funktionierenden Elemente amerikanischer Behindertenhilfe vor, die zur Verbesserung hiesiger Verhältnisse beitragen können. Es werden neben den wegweisenden Instrumenten und Programmen für gesellschaftliche Inklusion, Partizipation und Emporwerment auch die Unterschiede in den Systemen der Behindertenhilfe im Auge behalten und dadurch der Blick auf die eigenen Schwächen und Stärken geschärft.

Prof. Dr. Georg Theunissen hat den Lehrstuhl für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus der Universität Halle-Wittenberg.

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Leseprobe

1          Regional Center


Im Unterschied zu allen anderen US-Staaten gibt es in Kalifornien sogenannte Regional Center, deren prominente Aufgabe darin besteht, alle Dienstleistungen und Unterstützungsformen für Menschen mit developmental disabilities zu koordinieren. Dieses System der Regional Center wird von nicht wenigen Fachleuten als vorbildlich und nachahmenswert für die gesamten USA eingeschätzt.

1.1       Historisches


Bis vor wenigen Jahrzehnten war es in den USA, ja weltweit Gepflogenheit, Menschen mit developmental disabilities in großen Institutionen zu hospitalisieren. So gab es zum Beispiel in Kalifornien 1966 sieben staatliche Institutionen, in denen 13 200 Personen unter menschenunwürdigen Bedingungen ein tristes Leben fristen mussten (FDLRC 2006). Diese Situation stand seit den späten 1950er Jahren im Kreuzfeuer der Kritik. Ähnlich wie in Deutschland, wo es seinerzeit zur Gründung der Elternvereinigung Lebenshilfe gekommen war, hatte sich damals in Kalifornien eine Gruppe an Eltern behinderter Kinder und Professionellen (überwiegend Hochschullehrer) formiert, die die Zustände in den Institutionen nicht länger hinnehmen wollten und sich für die Verbesserung der Lage behinderter Menschen politisch engagierten:

»Around the state, groups such as the Exceptional Children’s Foundation in Los Angeles, San Francisco Aid to Retarded Children, and others were providing support for families and programming for persons with mental retardation by operating private schools, activity centers, sheltered workshops and residential services. In response to parent requests, church groups and other charities also began offering similar programs« (FDLRC o. J. b, 2).

Der elterliche Protest, der zu selbstorganisierten Empowerment-Gruppen und Vereinigungen führte, fand in Kalifornien politisches Gehör, was dazu führte, dass unter der Regie von Frank D. Lanterman, einem einflussreichen Landespolitiker, mit der Gründung von zwei sogenannten Regional Centern in San Francisco und Los Angeles ein Pilotprojekt zur Verbesserung der Lage behinderter Menschen auf den Weg gebracht wurde. Diesbezüglich ließen sich die Reformer von der Überzeugung leiten, dass statt einem medizinisch-psychiatrischen Leitmodell (dazu Theunissen 2012a) ein sozialpädagogisches Priorität haben sollte: »The great majority of the population of our hospitals require non-medical services – training in self-help and social adjustments […] schools, social services, […] vocational rehabilitation […] very much the same services that are furnished without question to the rest of our society« (FDLRC o. J. b, 3).

Zentrale Aufgaben der beiden Regional Center bestanden darin, Bedürfnisse von Menschen mit developmental disabilities zu erschließen und entsprechende Dienstleistungssysteme zu entwickeln, ihren Aufbau zu fördern und zu unterstützen sowie die Maßnahmen zu koordinieren und zu evaluieren. Dabei ergab sich die Präferenz für ein gemeindebezogenes (community-based) Unterstützungssystem, die mit dem sogenannten Normalisierungsprinzip Hand in Hand ging, welches in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre durch seine Repräsentanten N. Bank-Mikkelson und B. Nirje in Kalifornien bekannt gemacht wurde (FDLRC o. J. b, 3 f.). Angesichts der positiven Entwicklung und Ergebnisse (positive outcomes) wurde daraufhin von F. D. Lanterman ein Gesetzentwurf in die kalifornische Landesversammlung eingebracht, der vorsah, flächendeckend 21 Regional Center (jeweils für eine Region mit ca. 1,5 Millionen Einwohnern)6 zu implementieren. 1969 wurde der entsprechende politische Beschluss gefasst, dem bis heute in seiner aktuellen Formulierung als Lanterman Developmental Disabilities Services Act eine prominente Bedeutung zukommt. Mit den Regional Centern wurde zugleich der Weg für eine Deinstitutionalisierung, langfristige Verkleinerung und Schließung der staatlichen Großeinrichtungen geebnet, die seit 1978 als state developmental centers bezeichnet werden.

1.2       Deinstitutionalisierung und Community Living


Beflügelt durch die US-amerikanische Bürgerrechtsbewegung in den 1960er Jahren gründete einige Jahre später eine von Ed Roberts angeführte Gruppe körper- und sinnesbehinderter Menschen ein erstes Zentrum für Independent Living in Berkeley, CA (Theunissen 2009, 98 ff.). Heute gibt es in den USA etwa 500 solcher Zentren. 1973 kam es zur Gründung erster People-First-Gruppen in Kalifornien, die Menschen mit intellectual & developmental disabilities repräsentieren und sich zum Teil gemeinsam mit dem Independent Living Movement für ein »empowerment-model and supported living« (FDLRC 2006, 10) engagieren.

Vor diesem Hintergrund sowie auf der Grundlage weiterer Gesetze (z. B. im Hinblick auf frühe Erziehung und schulische Bildung behinderter Kinder; Beschäftigung behinderter Menschen auf dem Ersten Arbeitsmarkt) waren die Regional Center bestrebt, möglichst rasch in ihren Regionen ein wunsch- und zeitgemäßes Dienstleistungssystem aufzubauen und Prozesse der Deinstitutionalisierung zu unterstützen. Wurden sie hierzu vonseiten des zuständigen Departments of Developmental Services (DDS) der Regierung Kaliforniens mit dem Sitz in Sacramento, das seit 1978 als selbstständige Abteilung (unabhängig vom Department of Public Health) geführt wird, zunächst in ausreichendem Maße finanziell unterstützt, kam es später angesichts des staatlichen Haushaltsdefizits häufig zu Finanzierungsproblemen, durch die einige Vorhaben auf dem Gebiet der Deinstitutionalisierung und des Community Livings (Leben in der Gemeinde) ausgesetzt bzw. zeitlich verschoben werden mussten. So wohnten 1985 noch etwa 7000 Menschen mit developmental disabilities in acht staatlichen Großeinrichtungen. Zeitgleich wurden von den Regional Centern nahezu 80 000 Personen mit developmental disabilities bedient. Das dafür bereitgestellte Jahresbudget betrug knapp 320 Millionen US-Dollar.

Auch die nachfolgenden Jahre verliefen eher schleppend, wenngleich bei den Regional Centern weniger als bei anderen sozialen Hilfesystemen gekürzt wurde. So war bis zum Jahr 2010 das Budget für etwa 240.000 Klienten der Regional Center auf etwa 3,4 Milliarden US-Dollar »gedeckelt« worden.

Heute, im Jahr 2012, leben noch etwa 1200 Menschen mit developmental disabilities in staatlichen Institutionen, und die Anzahl an Personen, für die die Regional Center Unterstützungsleistungen organisieren, liegt bei etwa 250 000.7 Davon seien (nach mündlichen Angaben einiger Regional Center und einem Jahresbericht, vgl. WRC 2012, 2) etwa 35 % Autisten8, in dem Jahresbericht 2008 des State Council on Developmental Disabilities (SCDD 2008, 6) ist sogar von 60 % die Rede, im Jahr 2007 waren es 19,1 % und 1997 nur 7,1 % (DDS 2008, 15).

Ein aktuelles Problem stellt eine erneute Kürzung des Budgets durch den Staat Kalifornien dar (vgl. ASLA 2012). Gab es darüber hinaus in den letzten Jahren einen kontinuierlichen Anstieg an Spenden, so ist seit der jüngsten Banken- und Wirtschaftskrise das Spendenaufkommen um etwa 12 % rückläufig. Die finanziellen Einbußen haben dazu geführt, dass der Staat Kalifornien die Aufnahme (Statement of Eligibility) in das System der Regional Center leicht erschwert9 und die Kostenübernahme einiger Angebote (Transport; Freizeitaktivitäten und -veranstaltungen; musik-, kunst-, beschäftigungs- und physiotherapeutische Maßnahmen; sogenannte Außenseitermethoden) gestrichen oder gekürzt hat, um »Kernaufgaben« (community living u. ä.) sicherstellen zu können.

Ferner ist heute ein Unterstützungsmanager (service coordinator; case manager; caseworker) eines Regional Centers nicht mehr wie einige Jahre zuvor für maximal 66 Klienten, sondern für etwa 100 Personen mit developmental disabilites zuständig (ASLA 2012, 6; Howle 2010, 3; FDLRC mündliche Mitteilung 2012). Das birgt die Gefahr, dass für Personzentrierte Planungen (person-centered planning)10 nicht mehr ein notwendiges Maß an Zeit, Geduld und (kreativer) Investition aufgebracht werden kann, was ein »zielstrebiges Vorgehen« (straight procedure) und eine »bürokratische Vereinnahmung« (bureaucratically simplification and handling) zur Folge hat (so O’ Brien 2011). Dies kann ich nach meinen Beobachtungen weithin bestätigen. Zudem werden in zunehmendem Maße im Rahmen der Programmplanungen vonseiten der Regional Center (Unterstützungsmanager) Finanzierungsprobleme mit ins Spiel gebracht und kostengünstige Unterstützungsformen vorgeschlagen, die sich nicht mit den...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Titel1
Inhalt6
Einführung8
I Leben, Wohnen und Arbeiten von Autisten im Gemeinwesen18
1 Regional Center20
1.1 Historisches20
1.2 Deinstitutionalisierung und Community Living21
1.3 Aktuelle Wohnkonzepte und Entwicklung24
1.4 Frühe Hilfen und weitere Unterstützungsangebote28
1.5 Resümee und kritische Reflexion37
2 Prominente Dienstleister – eine Auswahl42
2.1 Hillside Enterprises42
2.2 Villa Esperanza Services44
2.3 The Help Group46
2.4 Tierra del Sol Foundation (TdSF)51
2.5 PathPoint63
2.6 Avenues Supported Living Services (ASLS)69
2.7 Jay Nolan Community Services (JNCS)76
3 Fokus: Kunst und Medien86
3.1 Art Center der Exceptional Children’s Foundation (ECF)86
3.2 First Street Gallery Art Center der Tierra del Sol Foundation (TdSF)90
3.3 Exceptional Minds94
3.4 Inclusion Films96
3.5 Abschließende Bemerkungen99
4 Self-Empowerment und Self-Advocacy101
4.1 Ein Interview mit Howard McBroom101
4.2 Kayla’s Story105
4.3 Autistic Self Advocacy Network106
II Schulsysteme und Bildung autistischer Schülerinnen und Schüler114
5 US-amerikanische Schulgesetzgebung, schulische Inklusion und sonderpädagogische Förderung116
5.1 Zum Umgang mit Verhaltensauffälligkeiten121
6 Unterricht autistischer Kinder und Jugendlicher in öffentlichen Schulen130
6.1 Zur Vorschule und Grundschule (Pre- and Elementary School)132
6.2 Zur Mittelschule (Middle School)134
6.3 Zur höheren Schule (High School)136
6.4 Resümee144
7 Unterricht autistischer Kinder und Jugendlicher in nichtöffentlichen und unabhängig öffentlichen Schulen146
7.1 The Help Group Schools148
7.2 Tobinworld155
7.3 Villa Esperanza Services162
7.4 ECF Kayne Eras Center164
7.5 CHIME Charter Schools166
8 Die USA als Vorbild?! Häufig gestellte Fragen – ein Resümee und Gespräch mit dem Autor173
Abkürzungen und Erläuterungen182
Literatur und Quellen184

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