In diesem Kapitel werden Ansätze von vier verschiedenen Autoren zu dem Thema „Gewaltprävention und Umgang mit Gewalt und Aggressionen im Sportunterricht“ vorgestellt. Dabei wird nach folgenden Untersuchungskriterien vorgegangen: Zu anfangs werden die Fragestellungen der einzelnen Autoren aufgeführt. Anschließend werden die Methoden und Vorgehensweisen beschrieben. Darauf folgen die einzelnen Aggressionstheorien, auf die sich die Verfasser stützen. Des Weiteren werden diese Theorien in Bezug auf Kornadts Motivationstheorie (1982) untersucht. Abschließend werden dann die Ergebnisse und Folgerungen, zu denen die Autoren in ihren Analysen gekommen sind, präsentiert.
Wolf-D. Miethling interessiert sich bei der Thematik, welche Beiträge Sportunterricht zum Umgang mit Aggression und Gewalt liefern kann und soll, für folgende Fragen:
Entspricht die, in der Gesellschaft weit verbreitete Auffassung, es gäbe eine allgemeine Aggressionszunahme zu verzeichnen, welche sich auch im Sportunterricht bemerkbar macht, tatsächlich der Realität?
Welche Entwicklungsbedingungen für gewaltförmige Aggressionen können festgestellt werden?
Wie entstehen Aggressionen?
Inwiefern enthält Sport als körperbetontes Wettkampfspiel selbst ein besonderes Aggressionspotential?
Abschließend sucht der Sportwissenschaftler anhand seiner Ergebnisse nach Schlussfolgerungen für den Sportunterricht, um dem Problem präventiv begegnen oder es aktuell bewältigen zu können.
Miethling (1996, 2002) geht bei seiner Suche nach Antworten nach folgenden Kriterien vor: Zunächst orientiert er sich an Erfahrungsberichten und Beobachtungen zu diesem Thema und wertet sämtliche empirische Studien dazu aus. Danach entwickelt er seine Theorie des multikausalen Bedingungsgefüges, die das Entstehen von Aggressionen erklärt. Außerdem untersucht er den kommerziellen Spitzensport am Beispiel des Fußballs hinsichtlich der Gewaltthematik.
Den Anfang bilden bei Miethling (1996) verschiedene Erfahrungsberichte und Beobachtungen aus dem Sport- und Schulsport-Alltag mit dem Thema „Gewalt“. Seinen wissenschaftlichen Aufsatz „Gewalt im Sportunterricht. Schulsport zwischen gewaltförmigen und gewaltfreien Aggressionen“ (2002) eröffnet er mit der Schilderung eines Bezirksliga-Fußballspiels, das aufgrund des körperlich respektlosen Angriffs eines Spielers auf den Schiedsrichter abgebrochen wird. Er stellt diese Episode als Beispiel für eine „Modellwirkung des Spitzensports“ (2002, S. 4) auf untere Fußball-Ligen und auch auf den Schulsport dar.
Auch in dem zweiten Beobachtungsbericht in Miethlings wissenschaftlichem Aufsatz „Aggressionen im Sportunterricht“ (1996) geht es um die Modellwirkung, die kommerzieller Fußballsport auf eine Vielzahl von Jugendlichen besitzt. In einem Fußballspiel zweier Schulsportmannschaften verhalten sich besonders zwei Spieler gegeneinander sehr unfair und aggressiv. Die Folge des durch den Faustschlag verübten Nasenbeinbruchs ist die gerichtliche Verfügung eines Schmerzensgeldes, nachdem sich der Verursacher uneinsichtig gegeben hat. Miethling (1996) führt diese Episode als Exempel für Imitationsversuche gewaltförmiger Aggressionen und Schummeleien seitens der SchülerInnen an. Die SchülerInnen lernen am Modell bestimmter Spitzenfußballer aggressive Verhaltensweisen im sportlichen Wettkampf. Sie übernehmen dieses aggressive Verhalten und integrieren es in ihre Alltagssituationen. Die oben erwähnte Episode dient für Miethling zudem als Beispiel dafür, dass SchülerInnen nach dem Vorbild des Spitzenfußballs eine „Kosten-Nutzen-Kalkulation“ (Miethling, 1996, S. 20) vornehmen, also z. B. unsportliches aggressives Verhalten nicht zugeben, es abstreiten und nicht bereit sind für ihr Verhalten Verantwortung zu übernehmen, weil sie sich durch ihr unfaires Verhalten Vorteile versprechen.
Anhand eines Schülerberichtes führt Miethling (1996) neben physischen auch psychische Aggressionsverhaltensweisen in Form von verbaler Aggression seitens des Sportlehrers auf. Dieser Bericht gilt für den Autor als Mitbeleg für seine These, dass an Schulen eine Vielzahl von unterschiedlichen Aggressionsarten auftreten.
Der Erfahrungsbericht einer jungen Gymnasialsportlehrerin, den Miethling zu Beginn seines wissenschaftlichen Aufsatzes „Aggressionen im Sportunterricht“ (1996) wiedergibt, zielt auf dieselbe These ab. Es werden neben verbalen Aggressionen zwischen SchülerInnen auch verbale Aggressionen von SchülerInnen gegenüber LehrerInnen aufgeführt. Diese lösen schließlich eine verbale Aggression bei der Lehrerin aus, eine Reaktion, die Miethling (1996) mit Hilfe der Frustrations-Aggressionstheorie von Dollard et al. (1939) wie folgt begründet: Die verbalen Streitigkeiten der SchülerInnen deutet die Lehrerin als persönliche Zurückweisung, der das Empfinden von Frustration folgt. Die Lehrerin entwickelt daraufhin ein Ärgergefühl, welches sie mittels verbaler Aggression in Form von SchülerInnen-Anschreien abzureagieren versucht. Die beschriebene „Befreiung“(1996, S. 20), die sie nach der Aggressionshandlung erfährt, wird als erfolgreich erreichtes Aggressionsziel empfunden, da sowohl ihr innerer Konflikt (das Verschwinden von Frustration und Ärger) als auch der äußere Konflikt mit der Klasse (Wiederherstellung des Gehörs und Respekts bei den SchülerInnen) gelöst ist.
Neben der Schilderung von Erfahrungs- und Beobachtungsberichte wertet Miethling (1996) verschiedene empirische Studien aus. Hierbei stützt er sich auf die Befragungen von SchulleiterInnen und zum Teil auch von SchülerInnen. Sie wurden erhoben von Ferstl, Niebl, Hanewinkel (1993), Melzer, Tillmann (1995), Sikorski, Thiel (1995), Spaun (1994). Außerdem wertet Miethling (1996, 2002) die allgemeinen Studien aus, die von Dettenborn, Lautsch (1993), Freie und Hansestadt Hamburg(1991), Freitag, Hurrelmann (1993) und Tillmann, Holler-Nowitzki, Holtappels (1999) erhoben wurden. Des Weiteren stützt Miethling (1996) sich auf die Längsschnittstudie von Mansel (1995). Die Ergebnisse dieser Auswertung werden in Kapitel 2.1.5.1 erläutert.
Um seiner anfangs genannten Fragestellung nach den Entwicklungsbedingungen für Aggressionen nachzugehen, entwickelt Miethling (1996, 2002) mit Hilfe von Erkenntnissen verschiedener anerkannter Theorien seinen eigenen Theorieansatz des multikausalen Bedingungsgefüges von gewaltförmiger Aggression. Hierfür orientiert er sich u. a. an dem Gedankengut von Lorenzs endogener Triebtheorie (1963), der Frustrations-Aggressionstheorie von Dollards et al. (1939) sowie der Lerntheorie von Bandura, Walters (1959).
Miethling (2002) greift bei der Bearbeitung seiner Fragestellungen insbesondere den kommerziellen Spitzensport heraus und untersucht am Beispiel des Fußballs der Männer, inwiefern sich hier eine generelle Aggressionszunahme abzeichnet. Miethling (2002) fragt anhand dieses Beispiels, ob sich im „verwirtschaftlichten“ Profisport Entstehungsbedingungen für Aggressionen manifestieren können. Birgt der kommerzielle Profisport als körperbetontes Wettkampfspiel ein besonderes Aggressionspotential? Welche Schlussfolgerungen lassen sich aufgrund dieser Erkenntnisse für den Sportunterricht zur Gewaltprävention und zum Umgang mit Aggressionen ableiten?
Bevor die Ergebnisse von Miethlings Untersuchungen (1996, 2002) erläutert werden, soll zunächst sein multikausaler Erklärungsansatz für Aggressionsentwicklung erläutert und anschließend zu Kornadts Motivationstheorie der Aggression und Aggressionshemmung (1982) in Beziehung gesetzt werden.
Um Miethlings Ansatz (1996, 2002) mit anderen Auffassungen und Theorien in der Aggressionsforschung vergleichen und differenzieren zu können, muss zuallererst die Terminologie erklärt und abgegrenzt werden.
Miethling (1996) nähert sich dem Begriff „Aggression“ etymologisch, indem er ihn von dem lateinischen „aggredi“ oder „aggredior“ ableitet. Das Verb bedeutet „herangehen“, „sich (an jemanden) wenden, (ihn) angehen“ sowie „unternehmen, beginnen, versuchen, an (etwas) gehen“ (Stowasser, Petsching, Skutsch, 1991, S. 22).
Miethling stellt fest, dass Aggression zunächst nur „tatkräftiges Handeln, also zielstrebiges Verhalten, das Widerstände überwindet“ (1996, S. 6) bedeutet. Erst mit der Wortverbindung „hostes“ (= Feinde) wird es zu dem (feindseligen) „angreifen“, d. h. erst im...