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Der Unbeugsame

Das Leben des Khazan Gul Tani für Afghanistan

AutorHeiner Tettenborn, Monika Koch
VerlagKahl Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783938916223
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Wann er geboren ist, weiß Khazan Gul nicht. Aber er weiß, wofür er lebt: Er möchte Afghanistan befreien, durch Bildung und Landwirtschaft. Die erste Begegnung mündet in eine heftige politischen Diskussion und endet mit einer Einladung in die Provinz Khost: Einige Wochen später gehen Monika Koch und Heiner Tettenborn zusammen mit Khazan Gul durch entlegene Bergdörfer. Sie besuchen an unwahrscheinlichen Orten funktionierende Dorfschulen und kauern in einer Höhle, die er zum Schutz vor den Bomben der Sowjetarmee gegraben hat. Auf Autofahrten, beim Tee und an langen Abenden ohne Fernsehen und Internet erzählt er ihnen von seiner Kindheit in großer Armut, dem Studium in Deutschland, dem Guerillakampf gegen die sowjetische Besatzung, Landwirtschaftsprojekten, Schulgründungen als Erziehungsminister und seinen neuen Plänen und Visionen für Afghanistan. Monika Koch und Heiner Tettenborn können kaum glauben, dass die Erlebnisse von Khazan Gul in einem einzigen Leben Platz haben. Fasziniert beginnen sie, seine Schilderungen und ihre Reisen mit ihm aufzuzeichnen.

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Leseprobe

Unterm Maulbeerbaum

von Heiner

»Im Winter hatten wir immer sehr wenig zu essen. Ich erinnere mich, dass wir einmal gar nichts mehr hatten, meine Mutter, meine Schwester, mein Bruder und ich. Mein Vater war schon gestorben, meine älteren Geschwister lebten nicht mehr bei uns. Wir hatten großen Hunger. Meine Mutter ist mit unserem und einigen geliehenen Eseln in die Berge gegangen. Sie hat Sisal gesammelt und mit nach Hause gebracht. Aus den Blättern machen wir in Afghanistan Teppiche. Mit dem Sisal wollte sie in das Gebiet der Zadran gehen, das liegt westlich von hier.«

Khazan Gul deutet in Richtung einer weiter entfernten Kette von Bergen, die sich dunkel gegen den hellblauen, wolkenlosen Himmel abzeichnet. Seine Hand und sein Gesicht sind braun und zerfurcht, in seinem langen Bart mischen sich graue und weiße Haare. Die Luft ist staubig, es weht ein heißer Wind. Die Berge sind nicht sehr deutlich zu sehen, mehr als Silhouette, und davor erstreckt sich steiniges, teils hügeliges, teils flaches Land, auf dem kaum etwas wächst.

»Die Zadran sind auch ein Stamm, so wie die Tani, zu denen ich gehöre. Bei den Zadran gibt es keinen Sisal. Meine Mutter wollte ihn dort gegen Weizen oder Reis oder irgendetwas eintauschen. Ich habe gesagt: ›Ich gehe auch mit.‹ Aber sie wollte mich nicht dabeihaben. Ich war der Jüngste und noch sehr klein. Da habe ich so geweint, dass sie mich am Ende doch mitgenommen hat. Wir sind in das Zadran-Gebiet gelaufen. Das ist einen Tag zu Fuß entfernt.«


Wir sitzen auf einem Teppich im dichten Schatten eines großen Maulbeerbaumes neben einer Dorfmoschee. Gerade haben wir zu Ende gegessen, Linsen und Reis mit zerlassener Butter. Khazan Gul spricht mit uns auf Deutsch. Unsere Gastgeber, Freunde von Khazan Gul, dösen oder unterhalten sich auf Paschtu. Wir sind satt, etwas müde und bewegen uns kaum, so lässt sich die Hitze einigermaßen aushalten. Das Dorf liegt auf einem Hügel am Fuß von schütter bewaldeten Bergen. Schaut man in die entgegengesetzte Richtung, so wird es flacher, dahinter erheben sich weitere Bergketten, auf eine von ihnen hat Khazan Gul gerade gezeigt. Ich stelle mir vor, wie ein kleines, vielleicht vierjähriges Kind mit seiner Mutter über das karge Land wandert. Beide sind hungrig, die Mutter zieht beladene Esel hinter sich her. Kein Baum und kaum ein Strauch schützen vor Wind und Sonne. Schon mir als Erwachsenem scheint der Weg endlos. Wie es hier im Winter aussieht, kann ich mir im Augenblick schwer vorstellen.


»Wir haben für den Sisal etwas Reis und Weizen bekommen. Danach sind wir zu einer Frau gegangen, sie hieß Jima Gula, das bedeutet Freitagsblume. Sie war auch Witwe, wie meine Mutter, eine sehr arme Frau. Wir haben bei ihr übernachtet. Als wir am nächsten Morgen aufgestanden sind, lag Schnee, hüfthoch, und es war sehr kalt. Aber wir mussten nach Hause. Meine Schwester und mein Bruder hatten nichts zu essen, meine Mutter musste für sie sorgen. Ich hatte nur zerrissene Kleider, keine Schuhe und auch keine richtige Hose. Jima Gula hat mir eine Jacke gegeben, aber auch die war alt und hatte Löcher. Meine Mutter hat mich auf einen der Esel gesetzt. Es hat geschneit und gewindet. Man konnte den Weg nicht sehen, oft ist sie tief in den Schnee gefallen. Ich wurde so kalt, dass der Schnee auf meinen nackten Beinen liegen blieb. Zwei oder drei Kilometer vor Dragai, unserem Dorf, war ich fast bewusstlos vor Kälte. Meine Mutter hatte große Angst, dass ich sterbe, wenn sie mit mir weitergeht. Einige hundert Meter vom Weg entfernt gab es ein Haus. Da wollte sie mich hinbringen. Sie musste mich mit Gewalt vom Esel herunterziehen, ich war richtig festgekrallt. Dann hat sie mich auf ihre Schultern gelegt. Aber ich konnte mich nicht festhalten, ich war schon zu schwach. Damit ich nicht herunterfalle, ist sie auf allen vieren gekrochen, durch den Schnee. Sie hat an dem Haus geklopft, und zwei junge Frauen sind herausgekommen. Meine Mutter hat gesagt: ›Das Kind muss hierbleiben, es geht ihm nicht gut. Ich muss weiter.‹ Sie ist gegangen, die Frauen haben mich ins Haus gebracht. Sie haben ein Feuer gemacht und Tücher mit warmem Wasser auf meine Arme und Beine gelegt. Ein Maisbrot haben sie in kleine Stücke gebrochen und in meinen Mund gegeben. Eine Frau ist aufgesprungen und meiner Mutter nachgelaufen. Sie sollte auch ein Maisbrot bekommen, sicher hatte sie Hunger. Nach einer Stunde ging es mir wieder ganz gut. Am nächsten Tag war es wärmer, es lag nicht mehr so viel Schnee, und ich bin alleine nach Dragai gelaufen. Am Friedhof vor Dragai habe ich einige Männer gesehen. Ein alter Mann war beim Schneesturm gestorben und wurde beerdigt. Auch ich hätte sterben können.

Dann bin ich weiter ins Dorf nach Hause gegangen. Meine Mutter saß vor unserer Tür und ihre Beine waren voller Blut. Ich habe schrecklich geweint, als ich das gesehen habe. Ich habe gedacht, jemand hat sie geschlagen. Sie hat mir erklärt: ›Das hat der Schnee gemacht.‹ Sie hatte Schnitte und Erfrierungen. Im Haus brannte ein Feuer. Meine Mutter war am Morgen ganz früh aufgestanden und in die Berge gegangen, weil wir kein Holz mehr zu Hause hatten. Meine Schwester hat mir erzählt, dass sie Maisbrot bekommen hat. Unsere Mutter hat das Maisbrot, das ihr die Frau gegeben hatte, nicht gegessen. Sie hat es nach Hause mitgebracht und mit meiner Schwester und meinem Bruder geteilt.«

Khazan Gul kann nicht mehr weitersprechen, er bedeckt sein Gesicht mit den Händen. Auch Monika und ich können nichts sagen. Nach einem kurzen Moment hat er sich wieder gefasst und spricht weiter. »Ich erzähle euch das, damit ihr mich besser versteht. Meine Kindheit, besonders die Armut und die Arbeit, haben mich so gemacht wie ich bin. Nie habe ich aufgegeben, immer habe ich weitergearbeitet, ich war nie hoffnungslos. Immer dachte ich, dass ich etwas ändern kann, zum Positiven. Das glaube ich heute noch. Die Zugehörigkeit, die Zusammenarbeit, das Mitgefühl spielt in armen Gebieten eine viel stärkere Rolle, als in der zivilisierten Welt, bei den reichen Leuten. Die haben nicht so viel Mitgefühl. Unser Dorf war arm. Nur ein oder zwei Familien hatten genug, die anderen hatten ständig Sorge ums Essen. Meine Familie hatte zwar selbst Land, aber nicht viel, und wir waren abhängig vom Regen. Wenn es ausreichend geregnet hatte, dann hatten wir etwas, sonst hatten wir nichts. Im ganzen Dorf war das so, es ist bis heute so in Dragai. Für das Wasser gab es große Becken, drei Stück, eins fürs Vieh, eins zum Waschen und das kleinste für die Menschen. Dafür wurde eine große Landfläche brachgelegt. Wenn es regnete, sammelte sich das Wasser in den Becken. Natürlich war es schmutzig, aber es ging. Wir haben es einfach so getrunken. Die, die krank davon wurden, sind gestorben, die Stärkeren sind geblieben. Jetzt gibt es Medizin, jetzt leben manchmal auch die, die nicht so stark sind. Aber sonst ist vieles noch wie damals.« Khazan Gul lehnt sich auf ein großes Kissen zurück und schließt die Augen.


Meine Gedanken beginnen zu wandern. Erst gestern Abend waren wir bei Khazan Gul zu Hause, etwas außerhalb der Stadt Khost, angekommen. Khost ist die Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Südosten Afghanistans. Khazan Gul hatte eigens den weiten Weg nach Kabul, mehr als zweihundert Kilometer meist ungeteerte Piste, auf sich genommen, um uns abzuholen.

Jahrelang haben wir Geld gespart für unsere große Reise. Seit knapp fünf Monaten sind wir nun unterwegs. Unsere Idee ist es, in der Mongolei Pferde zu kaufen und mit diesen nach Deutschland zu reiten. Der Weg soll der alten Seidenstraße folgend durch den Nordwesten Chinas, Zentralasien, Iran und die Türkei gehen. Wir haben uns mit den Ländern auf dem Weg beschäftigt, Persisch und Türkisch gelernt. Um Afghanistan hatten wir bei unseren ersten Überlegungen für die Reiseroute einen Bogen gemacht. Mit oder ohne Pferde, zu schwierig und zu gefährlich erschien es uns, in diesem Land zu reisen. Aber interessiert hat uns Afghanistan doch. Nicht ganz zufällig hatte ich deshalb etwa ein dreiviertel Jahr vor unserer Abreise einen Vortrag von Dr. Reinhard Erös besucht. Zusammen mit seiner Familie hat er, ehemals Militärarzt bei der Bundeswehr, die »Kinderhilfe Afghanistan« gegründet. Mit privaten Spendengeldern baut und unterstützt die Kinderhilfe als kleine Initiative hauptsächlich im Osten Afghanistans Schulen, Universitäten und medizinische Einrichtungen. Dieses Engagement hat uns so begeistert, dass wir Dr. Erös gefragt haben, ob und wie wir die Projekte durch einen Arbeitseinsatz in Afghanistan unterstützen könnten. Wir haben ihm erklärt, dass wir für unsere Reise gespart haben und daher kein Geld benötigen. Doch er war etwas skeptisch. Normalerweise arbeitet er in Afghanistan ausschließlich mit Afghanen. Drastisch hat er uns vor Augen geführt, wie ein Verstoß gegen die afghanischen Sitten oder das afghanische Gastrecht das von ihm durch jahrelange Arbeit erworbene Vertrauen zerstören könne. Wohl weil er merkte, dass es uns ernst damit ist, etwas über Afghanistan zu lernen und die afghanischen Sitten zu respektieren, hat Dr. Erös schließlich zugestimmt. Wir durften in Jalalabad im Osten Afghanistans im Büro der Kinderhilfe wohnen, haben Deutsch und Englisch unterrichtet und die Lehrer in Computerklassen unterstützt; Monika an zwei Mädchenschulen, ich an einer Jungenschule. Drei Monate haben wir so in Jalalabad verbracht. Für danach hatten wir geplant, unsere Reise fortzusetzen, über die nahe Grenze nach Pakistan und von dort nach China und in die Mongolei.

Dass es möglich sein würde, in Afghanistan umherzureisen, hatten wir nicht einmal zu hoffen gewagt. Seit dem...

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