Kapitel 1
Ein Gott, der sich Scherze erlaubt, und das Gift der Religion
Ein Gott, der sich Scherze erlaubt
Die folgende Begebenheit trug sich zu, etwa eine Woche nachdem Jesus aus dem Grab spaziert war, das er sich kurz ausgeliehen hatte. Der Apostel Johannes erzählt die Geschichte folgendermaßen:
Später erschien Jesus seinen Jüngern noch einmal am See von Tiberias. Das geschah so: Simon Petrus, Thomas, der Zwilling genannt wurde, Nathanael aus Kana in Galiläa, die beiden Söhne des Zebedäus und zwei andere Jünger waren dort zusammen.
Simon Petrus sagte: „Ich gehe jetzt fischen!“
„Wir kommen mit“, meinten die anderen.
Sie stiegen ins Boot und fuhren hinaus auf den See. Aber während der ganzen Nacht fingen sie keinen einzigen Fisch. Im Morgengrauen stand Jesus am Ufer. Doch die Jünger erkannten ihn nicht.
Jesus rief ihnen zu: „Kinder, habt ihr ein paar Fische zu essen?“
„Nein“, antworteten sie.
Da forderte er sie auf: „Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus, dann werdet ihr einen guten Fang machen!“
Sie folgten seinem Rat und fingen so viele Fische, dass sie das Netz nicht mehr einholen konnten. Jetzt sagte der Jünger, den Jesus liebte, zu Petrus: „Das ist der Herr!“
Kaum hatte Simon Petrus das gehört, zog er sein Obergewand an, das er während der Arbeit abgelegt hatte, sprang ins Wasser und schwamm an das Ufer. Die anderen Jünger waren noch etwa hundert Meter vom Ufer entfernt. Sie folgten Petrus mit dem Boot und zogen das gefüllte Netz hinter sich her. Als sie aus dem Boot stiegen, sahen sie ein Kohlenfeuer, auf dem Fische brieten. Auch Brot lag bereit.
Jesus bat die Jünger: „Bringt ein paar von den Fischen her, die ihr gerade gefangen habt!“ Simon Petrus ging zum Boot und zog das Netz an Land. Es war gefüllt mit hundertdreiundfünfzig großen Fischen. Und obwohl es so viele waren, zerriss das Netz nicht.
„Kommt her und esst!“, sagte Jesus.
(Johannes 21,1–12)
An dieser Geschichte gibt es so viel Schönes zu entdecken, dass man kaum weiß, wo man anfangen soll.
Zunächst einmal sind die Jungs fischen gegangen. Kann man ihnen das verdenken? Die Ereignisse der vergangenen beiden Wochen waren, gelinde gesagt, überwältigend und erdrückend. Die Hochstimmung beim Einzug in Jerusalem – alle schwenkten Palmzweige und riefen: „Hosianna“ –, dann der Absturz, tiefer als man es für möglich gehalten hätte. Ihr geliebter Jesus wurde gefoltert, hingerichtet, ins Grab gelegt. Doch dann, und das überstieg ihre Vorstellungskraft, wurde er wieder lebendig und erschien ihnen. Zweimal. In diesem Augenblick wissen sie jedoch nicht, wo er steckt. Sie sind unsicher, was sie als Nächstes tun sollen, und halten es einfach nicht aus, noch länger im Haus zu warten. Also tun sie das, was jeder Fischer mit ein wenig Selbstachtung tut, um den Kopf freizubekommen: Sie gehen fischen. Und zwar offenbar nackt oder jedenfalls fast nackt – Petrus muss sich nämlich wieder anziehen, als er Jesus am Strand erkennt.
Achten Sie einmal darauf, wie beiläufig Jesus in Erscheinung tritt. Nicht einmal seine besten Freunde erkennen ihn. Immerhin ist er der auferstandene Herr. Herrscher über Himmel und Erde. Denken Sie nur an die Verklärung. Jesus hätte in seiner ganzen strahlenden Herrlichkeit am Strand erscheinen können. Er weiß, dass seinen Freunden nichts auf der Welt mehr helfen würde, als ihn noch einmal zu sehen. Ganz sicher hätte er ihnen gebieterisch zurufen können: „Ich bin es, der Herr! Kommet alle zu mir!“ Doch das tut er nicht, ganz im Gegenteil. Er „versteckt“ sich noch ein wenig länger und treibt das Spiel weiter. Dort drüben steht er einfach am Ufer, die Hände in den Hosentaschen wie ein Tourist, und stellt die Frage, die man immer stellt, wenn man einen Angler sieht: „Und – irgendwas gefangen?“
Absolut faszinierend, wie lässig Jesus sich hier gibt. Was auch immer er vorhat, es liegt förmlich in der Luft, dass gleich noch etwas Entscheidendes passiert.
Noch zwei weitere Dinge müssen gesagt werden, um die Kulisse zu vervollständigen.
Zunächst einmal: Wie ist Jesus an diesem speziellen Morgen gelaunt? Er muss doch wohl glücklich sein. Dieser Mann hat den Tod besiegt und die Menschheit erlöst. Sein Vater, seine Freunde, ja, die Welt, die er erschaffen hat, haben ihn wieder. Für immer. Der Triumph darüber, die größte Schlacht in der Geschichte des Universums gewonnen zu haben, ist noch ganz frisch. Ich wage zu behaupten, dass er sehr glücklich ist. Für die Jünger gilt das nicht – sie waren die ganze Nacht auf und haben nichts vorzuweisen. Hundemüde und halbtot mühen sie sich an den Riemen ab, während das Boot hin und her schaukelt. Sie könnten etwas Aufmunterung gebrauchen.
Und schließlich: Wie sah die erste Begegnung der Jünger – seiner engsten Freunde und Brüder – mit Jesus aus? Sie fand hier am Seeufer statt, möglicherweise genau an diesem Fleckchen, denn man weiß, dass Fischer einen Liegeplatz haben, an dem sie ihr Boot am liebsten vertäuen. Und bei dieser ersten folgenreichen Begegnung waren die Jünger ebenfalls völlig fertig, weil sie die ganze Nacht ohne Erfolg gefischt hatten. Und auch hier erteilte Jesus eine vermeintlich willkürliche Anweisung:
„Fahrt jetzt weiter hinaus auf den See, und werft eure Netze aus!“ … Sie warfen ihre Netze aus und fingen so viele Fische, dass die Netze zu reißen anfingen. Deshalb winkten sie den Fischern im anderen Boot, ihnen zu helfen. Bald waren beide Boote bis zum Rand beladen, sodass sie beinahe sanken. … Sie brachten die Boote an Land, verließen alles und gingen mit Jesus.
(Lukas 5,4.6–7.11)
So etwas war also schon einmal geschehen.
Nach all dem, was seither passiert ist, muss dieser erste wunderbare Fischzug – die Netze bersten fast, das Boot geht beinahe unter – in ihren Augen schon eine Ewigkeit her sein. Jedenfalls ist es ihre Geschichte, so wurden sie in diese Revolution mit hineingezogen. Die meisten Christen können in allen Einzelheiten schildern, wie sie Jesus begegnet sind, besonders wenn diese Begegnung dramatisch verlief. Und über diesen ersten Fischzug redeten diese engsten Vertrauten Jesu sicherlich noch oft, so wie es Männer eben tun, vor allen Dingen Fischer. Wenn sie nachts um das Lagerfeuer saßen, brachte jemand mit einem Grinsen das Gespräch darauf: „Petrus, dein Gesichtsausdruck war einfach unbezahlbar.“ Dann ahmte er Petrus’ Reaktion süffisant nach: „‚Herr, geh weg von mir! Ich bin ein sündiger Mensch!‘“ Woraufhin alle in das Gelächter mit einfielen (Lukas 5,8).
Mit meinen Kumpels fuhr ich früher einmal im Jahr zum Angeln in den Osten der Sierra Nevada. Ich würde unsere Erfahrungen zwar nicht als wunderbaren Fischzug bezeichnen, aber wir fingen auf jeden Fall unverschämt viel. Es war ein klassisches Männerabenteuer – Lagerfeuer, Bohnen aus der Dose, keine Dusche. Außer in einem Jahr; da hatten wir Bill mitgenommen, der jeden Morgen eine Stunde für die Körperpflege brauchte und sogar Kölnisch Wasser auftrug. Wir saßen schon im Wagen und hupten, was das Zeug hielt, während Bill weiterhin seine Haare gelte. Noch Jahre später zogen wir ihn damit auf. Wenn einer nur damit anfing: „Wisst ihr noch, wie Bill …“, begann ein anderer zu lachen, dass ihm der Kaffee nur so aus der Nase lief, und bald schnappten wir alle nach Luft.
Und hier stehen die Jünger nun, drei Jahre später. Wieder haben sie die ganze Nacht durchgearbeitet. Am selben Ufer. Wieder sind sie völlig fertig. Und Jesus tut noch einmal das Gleiche.
„Werft das Netz auf der anderen Seite aus!“ Und wieder bersten die Netze. So gibt er sich ihnen zu erkennen. Es hat etwas von einem Insiderwitz unter guten Freunden an sich, wo nur einer die ersten Worte zum Besten geben muss und alle in das Gelächter einstimmen. „Werft das Netz auf der anderen Seite aus!“ Voll ins Schwarze getroffen, wie damals in der guten alten Zeit. Mehr muss Jesus nicht sagen – schon ist Petrus im Wasser und schwimmt ans Ufer.
Sehen Sie, welchen Scherz sich Jesus hier erlaubt?
Der richtige Zeitpunkt, Spannung liegt in der Luft, er gibt sich zunächst nicht zu erkennen, stellt ein Frage wie einer von diesen Touristen, ein lahmer Vorschlag von jemandem, der ihrer Meinung nach überhaupt keine Ahnung vom Fischen hat, und dann dieser große Fang. Und die Jungs sind wieder von ihm gefesselt. Eine wunderbare Geschichte, die dadurch noch viel schöner wird, dass Jesus sich hier einen Scherz erlaubt.
Und übrigens ist dieses kleine Detail, das Johannes hier einstreut – dass nämlich genau 153 Fische gefangen wurden –, ein besonders schöner Zug.
Im Netz waren nicht so viele Fische, „wie in ein Boot passen“, auch nicht „etwa hundertfünzig“ oder „zwölf Dutzend“, sondern ganz genau „einhundertdreiundfünfzig“. Für mich ist das die bemerkenswerteste Statistik, die jemals ein Mensch aufgestellt hat. Führen Sie sich einmal die Situation vor Augen: Diese Begebenheit ereignet sich nach Kreuzigung und Auferstehung; Jesus steht am Ufer, ist gerade von den Toten auferstanden; und seit diesem Albtraum auf Golgatha bekommen sie ihn erst zum dritten Mal zu Gesicht. Und trotzdem erfahren wir, dass sich einhundertdreiundfünfzig Fische im Netz befanden. Wie kam man nur auf diese exakte Zahlenangabe? Wahrscheinlich doch so: Nachdem...