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KAPITEL
VIER
GEWÖHNLICH KOMMT IN DIE WÜSTE
Gewöhnlich schlief tief und fest. Und als er aufwachte, summte er seine ungewöhnliche Melodie. Die Ängste beim Verlassen seiner Zone der Bequemlichkeit waren nun verschwunden. Seine Widersacher aus dem Grenzland lagen hinter ihm.
Seine Schritte waren leicht, als er in das Unbekannte zog. Hinter jeder neuen Kurve erwartete er, das Verheißene Land zu erreichen, in dem er seinen Großen Traum finden würde.
Aber er fand es nicht. Stattdessen war er bald am Rand einer breiten Schlucht. Nebel versperrte den Blick nach unten. Als er den Grund erreichte, sah er, was vor ihm lag. Und was er sah, ließ sein Herz sinken. Er sah kilometerweit nichts als Sand, Felsen und ein paar dürre Bäume.
Er stand am Rand eines leeren, wüsten Landes.
Wie sollte hier ein wunderbarer Traum existieren?, dachte er.
Er war sich nicht sicher. Aber der Weg ging weiter und zog sich bis in die weite Ferne. Deshalb entschied er sich, weiterzugehen.
Gewöhnlich lief. Und lief. Jedes Mal, wenn er hungrig wurde, öffnete er seinen Koffer und aß. Und jedes Mal, wenn er durstig wurde, öffnete er ihn und trank. Und jedes Mal, wenn er an seinen Traum dachte, entschloss er sich, weiterzugehen.
Die Zeit verging. Gewöhnlichs Haut brannte. Er bekam Blasen an den Füßen. Seine Beine schmerzten. Ein Tag verschmolz mit dem anderen. Und dann wurde er eines Tages hungrig und öffnete seinen Koffer … und fand darin nichts mehr zu essen.
An dem Tag begann Gewöhnlich, sich Sorgen zu machen. Er schrie zu dem Schöpfer der Träume um Nahrung. Aber er bekam keine Antwort.
Zwei Tage später ging ihm das Wasser aus. Er schrie wieder zum Schöpfer der Träume. Und wieder hörte er nichts.
Glücklicherweise fand Gewöhnlich an diesem Tag auch Wasser, das aus einem Felsen sickerte. Nun musste er wenigstens nur noch hungern. Aber wenn er geschickt genug war, um Wasser zu finden, könnte er vielleicht auch etwas zu essen finden.
Kurz darauf entdeckte er einen fremdartigen Strauch, an dessen Zweigen einige seltsame Wüstenfrüchte hingen. Gewöhnlich probierte eine. Sie schmeckte nicht süß, aber auch nicht bitter. Deshalb aß er sich satt.
Immer noch war der Schöpfer der Träume nirgends zu entdecken.
Noch mehr Zeit verging. Die längsten Tage und Stunden vergingen, an die Gewöhnlich sich überhaupt erinnern konnte. Verzweifelt begann er, nach einem Ausweg zu suchen.
Eines Tages nahm er einen Weg, der wie eine Abkürzung über einen Gebirgskamm aussah. Aber er führte zu einer Schlucht, die im Treibsand endete.
Er versuchte, nachts zu laufen, wenn es etwas kühler war. Aber er verlief sich.
Jede Verzögerung machte ihn entschlossener, einen kürzeren Weg zu finden. Aber jeder Versuch führte nur in eine weitere Sackgasse.
Immer wieder verlief Gewöhnlich sich. Immer wieder schrie er zu dem Schöpfer der Träume, er möge ihm den Weg zeigen. Aber er erhielt keine Antwort. Warum hatte er nur jemals dem Schöpfer der Träume vertraut, dass er ihn führen würde?
Schließlich kam der Tag, an dem Gewöhnlich aufgab. Er setzte sich auf seinen Koffer und weigerte sich, weiterzugehen, bis der Schöpfer der Träume mit einem Plan erschien.
Aber der Schöpfer der Träume erschien an diesem Tag nicht. Und auch nicht am nächsten.
Gewöhnlich hatte sich noch nie so verloren und alleine gefühlt. Er wurde wütend. Er wurde immer wütender.
Und dann kam ein heftiger, heißer Wind auf.
Der Wind wehte den ganzen Tag und auch den nächsten. Sand drang in Gewöhnlichs Augen. Er drang zwischen seine Zähne und in seine Ohren.
Als sich der Wind schließlich legte, stand Gewöhnlich auf. Aber so weit er blicken konnte, gab es nichts als Sand. Der Weg zu seinem Traum war vollkommen verschwunden. Offensichtlich war seine ganze Reise durch die Wüste vergeblich gewesen!
Heiße Tränen liefen ihm an seinen schmutzigen Wangen hinunter. »Du bist kein Schöpfer der Träume«, schrie er zum Himmel hin. »Du bist ein Zerstörer der Träume! Ich vertraute dir. Du hast versprochen, mit mir zu sein und mir zu helfen. Aber du hast es nicht getan!«
Dann stolperte Gewöhnlich verzweifelt durch die sandige Wüste und schleifte seinen leeren Koffer hinter sich her. Sein Traum war tot, und nun wollte er auch sterben.
Als er an einen dürren Baum kam, legte er sich in den kleinen Schatten und schloss die Augen.
In dieser Nacht schlief er den Schlaf eines Träumers ohne Traum.
Am nächsten Morgen hörte Gewöhnlich etwas. Überrascht schaute er zu einem schimmernden Jemand hin, der in den Zweigen des Baumes saß.
»Wer bist du?«, fragte er, als dieser zum Boden hinunterkletterte.
»Ich heiße Glaube«, sagte der Jemand. »Der Schöpfer der Träume hat mich geschickt, um dir zu helfen.«
»Aber das ist zu spät!«, schrie Gewöhnlich. »Mein Traum ist tot. Als ich den Schöpfer der Träume am meisten brauchte, war er nirgendwo zu sehen.«
»Was brauchtest du, das du nicht bekommen hast?«, fragte Glaube.
»Nun, wenn ich nicht die kleinen Wasserquellen gefunden hätte«, antwortete Gewöhnlich, »wäre ich jetzt schon verdurstet!«
»Ja? Und?«, fragte er.
»Wenn ich nicht die Früchte entdeckt hätte, wäre ich jetzt ein wandelndes Skelett!«, erwiderte er. »Halt! Ich bin ein wandelndes Skelett! Ich kann jeden Moment an Hunger sterben!«
»Oh!«, murmelte Glaube. »Und?«
»Nun«, schnaubte Gewöhnlich, »ein wenig Führung wäre ganz nett gewesen. Seit ich hierher kam, gab es eine Verzögerung nach der anderen. Ich weiß schon nicht mehr, wie lange ich im Kreis laufe. Was für eine Zeitverschwendung!«
»Ich verstehe«, sagte Glaube und nickte. »Und was willst du nun tun?«
»Zeige mir einfach, wie ich nach Gewohnheit zurückkomme«, sagte er.
»Tut mir Leid«, sagte er. »Aber dabei kann ich dir nicht helfen.«
»Klar«, sagte Gewöhnlich. »Der Schöpfer der Träume schickt mir einen Helfer, der auch nicht helfen kann.«
»Vielleicht hast du Recht«, sagte Glaube. »Aber das musst du selbst entscheiden.«
Dann lief Glaube in eine Richtung davon, von der Gewöhnlich das sichere Gefühl hatte, dass sie falsch war.
Kurze Zeit später kamen Gewöhnlich andere Gedanken. Was wäre, wenn er falsch läge? Er wünschte sich, er wäre nicht so grob zu diesem Jemand namens Glaube gewesen. Und er begann, ihn zu vermissen. Ihm wurde klar, dass er, während er mit ihm gesprochen hatte, zum ersten Mal seit langem wieder Hoffnung verspürt hatte.
Gewöhnlich sprang auf die Füße und blickte zum Horizont.
»Glaube!«, rief er. Aber er war nirgendwo zu sehen.
»Glaube!«, schrie er noch einmal. Aber es kam keine Antwort.
Da hatte Gewöhnlich eine Idee. Er kletterte auf die Spitze des dürren Baumes. Von dort konnte er Glaube in weiter Entfernung sehen. So schnell er konnte, hüpfte er hinunter und machte sich in die gleiche Richtung auf.
Etwas später an diesem Tag – Gewöhnlich aß gerade ein paar Früchte an einem kleinen Rinnsal Wasser – begann er seine Reise durch die Wüste mit ganz anderen Augen zu sehen.
Genug zu essen jeden Tag.
Wasser, wenn er Durst hatte.
Einen Weg, den er verfolgen konnte und der zu Glaube führte.
Wie konnte er bloß so blind sein? Selbst wenn der Schöpfer der Träume nirgendwo zu sehen gewesen war, hatte er sich doch immer in seiner Nähe befunden.
An diesem Tag betrachtete Gewöhnlich auch seinen leeren Koffer und entschied, dass es Zeit sei, ihn zurückzulassen.
Er machte sich einen behelfsmäßigen Rucksack, nahm sein Traumtagebuch, die Feder und die Tinte und ging weiter.
Danach kletterte Gewöhnlich immer dann, wenn er an einen Baum kam, auf ihn hinauf, um nach Glaube auszuschauen. Und wenn er ihn sah, merkte er sich die Richtung und lief wieder los.
Eines Tages traf Gewöhnlich einige Träumer, die nach Gewohnheit zurückkehren wollten. Sie erzählten ihm eine traurige Geschichte. Sie hatten die Wüste durchquert und fast das Verheißene Land erreicht. Aber dann trafen sie auf Riesen, die so groß und überwältigend waren, dass sich die Träumer so winzig wie Heuschrecken vorkamen. Und der Schöpfer der Träume war nirgends zu sehen gewesen.
Die Niemande klangen überzeugend. Und er bemerkte, wie müde sie waren. Aber als sie sich weiter unterhielten, sah er noch etwas anderes: Sie hatten aufgehört, dem Schöpfer der Träume zu vertrauen, und nun liefen sie in die Richtung, die Glaube genau entgegengesetzt war.
Als die Niemande ihn warnten, dass das, was vor ihm lag, zu schwer war, merkte er noch etwas. Er hatte sich verändert. Seine Reise durch die Wüste war keine Zeitverschwendung gewesen. Er war nun auf das vorbereitet, was vor ihm lag – egal, wie schwer es sein würde.
»Gute Reise«, sagte er zu den umkehrenden Niemanden. »Aber ich werde weitergehen.«
Als sich Gewöhnlich durch die Wüste weiterkämpfte, schlug sein Traum wieder brennend in seiner Brust. Und je mehr die Sonne brannte, desto mehr glaubte Gewöhnlich, dass er das Verheißene Land finden konnte, wenn er nur den Weg des Glaubens gehen würde – egal, wie lange es dauern würde.
EINES MORGENS MITTEN IN DER WÜSTE …
schrieb Gewöhnlich die Wahrheit über die Wüste nieder.
• Nachdem ich die Wasser überquert hatte, glaubte...