Historischer Abriss
Der Entwicklung der Ansichten über den Ursprung der Arten vor Veröffentlichung der ersten Auflage dieses Werks
Im Folgenden gebe ich einen kurzen Abriss der Entwicklung der Ansichten über den Ursprung der Arten. Noch bis vor kurzem glaubten Naturforscher mehrheitlich, die Arten seien unwandelbare Wesen und jeweils getrennt voneinander geschaffen worden. Diese Auffassung haben viele Autoren sachkundig verfochten. Einige wenige Naturforscher hingegen sind der Ansicht, dass die Arten Modifikationen durchlaufen und dass die Lebensformen von heute aufgrund stetiger Zeugung Nachkommen zuvor existierender Formen sind. Lässt man Hinweise klassischer Autoren zum Thema außer Acht,* so war Buffon der erste Autor, der dies in der Moderne im Geist der Wissenschaft behandelt hat. Doch da seine Ansichten zu verschiedenen Zeiten stark schwankten und er sich zu den Ursachen oder Mitteln der Veränderung von Arten nicht äußert, brauche ich hier nicht auf Einzelheiten einzugehen.
Jean-Baptiste de Lamarck war der Erste, der mit seinen Feststellungen zu diesem Thema großes Aufsehen erregte. Der zu Recht gepriesene Naturforscher legte seine Ansichten erstmals 1801 vor. In seiner Philosophie zoologique von 1809 erweiterte er sie erheblich und erneut 1815 in der Einleitung zu seiner Histoire naturelle des animaux sans vertèbres. In diesen Arbeiten vertritt er die Lehre, dass alle Arten einschließlich des Menschen von anderen Arten abstammen. Ihm kam das bedeutende Verdienst zu, auf die Wahrscheinlichkeit aller Veränderung in der organischen wie der anorganischen Welt aufmerksam zu machen; diese sei die Folge einer Gesetzmäßigkeit und nicht wundersamen Eingreifens. Zu seiner Schlussfolgerung über die allmähliche Veränderung der Arten gelangte Lamarck wohl hauptsächlich durch die Schwierigkeit, Arten von Varietäten zu unterscheiden, durch die nahezu vollkommene Abstufung der Formen in manchen Gruppen und durch die Ähnlichkeit mit domestizierten Tieren und Pflanzen. Was die Mittel der Modifikation angeht, so sah er sie teils in der unmittelbaren Einwirkung äußerer Lebensbedingungen, teils in der Kreuzung schon bestehender Formen und insbesondere im Gebrauch und Nichtgebrauch, also den Auswirkungen von Gewohnheit. Dieser letzteren Kraft schreibt er offenbar all die schönen Anpassungen in der Natur zu wie den langen Hals der Giraffe, mittels dessen sie in den Ästen von Bäumen äsen kann. Ebenso glaubte er aber auch an ein Gesetz der fortschreitenden Entwicklung, und da somit alle Lebensformen fortschreiten, vertritt er zur Erklärung der gegenwärtigen Existenz einfacher Hervorbringungen die Ansicht, solche Formen würden heute spontan erzeugt.**
Étienne Geoffroy Saint-Hilaire hatte, so ist in der von seinem Sohn verfassten Vie zu lesen, schon 1795 den Verdacht, dass das, was wir Arten nennen, verschiedene Ausartungen derselben Gattung sind. Erst 1828 machte er seine Überzeugung publik, dass nicht seit dem Ursprung aller Dinge immer dieselben Formen bewahrt wurden. Geoffroy stützte sich, was die Ursache der Veränderung betraf, offenbar hauptsächlich auf die Lebensbedingungen, die »monde ambiant«. Mit Schlussfolgerungen hielt er sich zurück, und er glaubte auch nicht, dass heute bestehende Arten noch Modifikationen durchlaufen. Sein Sohn fügte hinzu: »Demnach ist dies ein Problem, dessen Lösung ganz allein der Zukunft vorbehalten ist, immer vorausgesetzt, dass sich die Zukunft seiner auch annimmt.«
1813 präsentierte Dr. William Charles Wells vor der Royal Society einen »Bericht über eine weiße Frau, deren Haut in Teilen der einer Negerin ähnelt«; veröffentlicht wurde sein Vortrag jedoch erst 1818 im Anhang seiner berühmten Two Essays upon Dew and Single Vision. In diesem Vortrag bekennt er sich eindeutig zum Prinzip der natürlichen Selektion. Es ist die erste bezeugte Anerkennung, aber er lässt sie lediglich für die Menschenrassen und allein für bestimmte Merkmale gelten. Nach der Bemerkung, Neger und Mulatten erfreuten sich einer Immunität gegenüber bestimmten Tropenkrankheiten, sagt er erstens, dass alle Tiere in gewissem Maß variieren, und zweitens, dass Landwirte ihre domestizierten Tiere durch Selektion verbessern. Dann fügt er hinzu, was in letzterem Fall »von der Kunst« gemacht sei, »scheint mit gleicher Wirksamkeit, wenngleich langsamer, durch Herausbildung von Varietäten der Menschheit, die der von ihnen bewohnten Region angepasst sind, von der Natur gemacht zu sein. Von den zufälligen Varietäten des Menschen, die wohl unter den ersten wenigen und verstreuten Bewohnern der mittleren Regionen Afrikas auftraten, wäre eine widerstandsfähiger gegenüber den Krankheiten des Gebiets als die anderen. Diese Rasse würde sich folglich vermehren, während die anderen abnähmen, nicht nur aufgrund ihrer Unfähigkeit, Krankheiten zu überstehen, sondern auch, weil sie sich im Wettbewerb mit ihren kräftigeren Nachbarn nicht behaupten könnten. Die Farbe dieser kräftigen Rasse wäre, wie ich nach dem bisher Gesagten für ausgemacht halte, dunkel. Doch aufgrund der weiter bestehenden Neigung zum Bilden von Varietäten würde im Lauf der Zeit eine dunklere und eine noch dunklere Rasse auftreten, und da die dunkelste die dem Klima am besten angepasste wäre, würde diese schließlich die am meisten verbreitete darstellen, wenn nicht gar die einzige Rasse der Region, in der sie aufgekommen war.« Sodann überträgt er diese Ansichten auf die weißen Bewohner kälterer Lebensräume. Ich bin Mr. Rowley aus den Vereinigten Staaten zu Dank verpflichtet, dass er mich über Mr. Brace auf obige Passage in Dr. Wells’ Arbeit hingewiesen hat.
Der ehrenwerte Reverend William Herbert, später Dekan von Manchester, stellt im vierten Band der Horticultural Transactions (1822) und in seiner Arbeit über die Amaryllidaceae (1837, S. 19, 339) fest, dass »gärtnerische Experimente ohne jede Möglichkeit der Widerlegung ergeben haben, dass botanische Arten lediglich eine höhere und beständigere Stufe von Varietäten sind«. Die gleiche Auffassung dehnt er auf Tiere aus. Der Dekan glaubt, einzelne Arten einer Gattung seien in einem ursprünglich höchst formbaren Zustand geschaffen worden, und dass diese hauptsächlich durch Kreuzung, doch ebenso durch Variation, alle unsere bestehenden Arten hervorgebracht hätten.
1829 bringt Professor Robert Edmond Grant im Schlussabsatz seines bekannten Vortrags über Schwämme (Edinburgh Philosophical Journal, Bd. XIV, S. 283) seine Überzeugung klar zum Ausdruck, dass Arten von anderen Arten abstammen und im Rahmen von Modifikation verbessert werden. Dieselbe Ansicht vertrat er in seiner 55. Vorlesung, erschienen 1834 in Lancet.
1831 veröffentlichte Patrick Matthew seine Arbeit über Schiffsholz und Baumzucht, worin er genau die gleiche Ansicht (auf die ich gleich noch komme) über den Ursprung der Arten vertritt wie Mr. Wallace und ich im Linnean Journal und wie sie im vorliegenden Buch erweitert dargelegt wird. Leider trug Mr. Matthew seine Ansicht nur sehr knapp in verstreuten Passagen im Anhang einer Arbeit zu einem anderen Thema vor, sodass sie erst wahrgenommen wurde, als Mr. Matthew selbst im Gardener’s Chronicle vom 7. April 1860 darauf hinwies. Die Unterschiede zwischen Mr. Matthews Ansicht und der meinen sind von keiner sehr großen Bedeutung: Er nimmt offenbar an, dass die Welt in stufenweisen Phasen nahezu ausgestorben und dann wieder neu bevölkert worden war, und er nennt als Variante, neue Formen könnten »ohne Vorhandensein jedweder Vorbilder oder Keime früherer Ansammlungen« hervorgebracht worden sein. Bei manchen Passagen weiß ich nicht, ob ich sie richtig verstanden habe, aber mir scheint, dass er der unmittelbaren Einwirkung der Lebensumstände großen Einfluss zumisst. Gleichwohl hat er die ganze Wirkkraft des Prinzips natürlicher Selektion erkannt.
Der berühmte Geologe und Naturforscher Leopold von Buch bekundet in seiner hervorragenden Physicalischen Beschreibung der Canarischen Inseln (engl. Ausgabe 1836, S. 147) eindeutig die Ansicht, dass Varietäten langsam zu beständigen Arten verändert werden, die zur Kreuzung nicht mehr in der Lage sind.
Rafinesque schrieb in seinem Buch New Flora of North America (1836, S. 6): »Alle Arten mochten einmal Varietäten gewesen sein, und viele Varietäten werden allmählich Arten, indem sie beständige, eigene Wesen werden«, fügt im weiteren Verlauf jedoch hinzu: »ausgenommen die ursprünglichen Typen oder Vorfahren der Gattung« (S. 18).
1843/44 hat Professor Samuel Stehman Haldeman (Boston Journal of Nat. Hist....