1. Eine Welt, die es nicht mehr gibt
Es ist ein Tag wie jeder andere. Aus meiner Wohnung im ersten Stock eines Hauses in der Amsterdamer Zeilstraat gehe ich die Treppe zu meinem Laden im Erdgeschoss hinunter.
Es ist noch leicht dämmerig, daher mache ich zunächst das Licht an; dann schließe ich für das Personal, das bald kommen wird, die Tür auf. Wie immer schaue ich in den Terminkalender, um zu sehen, welche Bestellungen darin notiert sind. So weiß ich ungefähr, wie mein Tag aussehen wird.
Die kalte Morgenluft schlägt mir entgegen, als ich, wie jeden Tag, nach draußen gehe, um einen Blick auf das Schaufenster zu werfen. Das Fenster sieht noch gut aus. Dies ist der beste und schönste Blumenladen in Amsterdam-Süd, vielleicht auch in der ganzen Hauptstadt, und das sieht man von draußen. Das Schaufenster ist mein Stolz und meine Visitenkarte.
Nicht nur mit meinem Geschäft kann ich sehr glücklich sein. Ich bin noch nicht dreißig und alles läuft wie geschmiert; mein Leben fühlt sich komplett an. Oben füttert meine Frau gerade unseren neugeborenen Sohn Sander. Zwei Wochen ist er alt, mein erstes Kind. Mir war nicht bewusst, dass ein Mensch einen anderen so innig lieben kann.
Aber warum fühle ich mich dann so fürchterlich elend? Meine Füße sind schwer wie Blei; jeder Schritt, den ich gehe, kostet mich große Mühe, tief in meinem Inneren scheint ein scharfes Messer zu stecken. Obwohl ich acht Stunden geschlafen habe, bin ich völlig erschöpft.
Während ich zusehe, wie die Menschen mit dem Fahrrad und der Straßenbahn zu ihrer Arbeit eilen, spüre ich einen Kummer, den ich kaum bezwingen kann. Einen alten, tiefen Schmerz, der urplötzlich in mir aufgestiegen ist. Fast hätte ich vergessen, dass ich ihn in mir trage.
Letzte Nacht hatte ich einen schrecklichen Traum. Mit meinem neugeborenen Sohn in den Armen lief ich über eine schneebedeckte Ebene. Es war eiskalt; der Wind schnitt mir durch die Lumpen, die ich trug. Wir waren nicht allein. Mit uns taumelten Hunderte durch die Nacht: Männer, Frauen, Kinder. Wir wurden von Soldaten mit Hunden gehetzt, die ständig schrien, dass wir nicht stehen bleiben dürfen.
Unsere Bewacher sehe ich auch heute Morgen noch haarscharf vor mir. Sie trugen grüngraue Uniformen mit schwarzen Lederkoppeln und glänzenden hohen Reitstiefeln. Diese Uniform erkenne ich unter Tausenden: Sie waren Mitglieder der SS. Und so verhielten sie sich auch. Die Bewacher schossen jedem, der nicht mehr mithalten konnte, gnadenlos in den Kopf. Ohne Pardon. Selbst die Kranken und Verwundeten mussten weiter, strauchelnd und notfalls mit blutenden Füßen. Auszuruhen, und sei es nur eine Sekunde lang, kam einem Todesurteil gleich.
In meinem Traum war ich in heller Panik, voller Angst, dass ich es nicht schaffen würde. Mein kleiner Sohn, der auch in meinem Traum kaum zwei Wochen alt war, schien immer schwerer zu werden. Meine Arme wurden mit jedem Schritt kraftloser. Bald würde ich ihn nicht mehr halten können, und das kleine Bündel würde mir aus den Armen fallen.
Im Traum war mein Körper von Kummer erfüllt. Ich wollte ihn nicht zurücklassen, wollte meinem Körper, der immer mehr an Kraft verlor, nicht nachgeben, aber ich konnte doch nicht mehr. Der Augenblick, an dem ich ihn fallen lassen würde, rückte immer näher.
Als ich aufwachte, war die schneebedeckte Ebene verschwunden, doch die Trostlosigkeit meines Traumes verfing sich wie ein zäher Nebel in meinem Geist.
Natürlich hatte ich, wie jeder Mensch, schon öfter Albträume. Doch keiner war je so entsetzlich wie dieser. Das Bild, das mir letzte Nacht durch den Kopf gespukt war, war so detailgenau und lebensnah, als hätte ich wirklich an diesem Todesmarsch teilgenommen.
Denn darum handelte es sich, wie mir sofort nach dem Aufwachen bewusst wurde: Ich befand mich auf einem der berüchtigten Todesmärsche. Deren Schilderungen kenne ich nur allzu gut. Ende des Zweiten Weltkrieges haben die Nazis Menschen in den Konzentrationslagern vor den nahenden russischen Truppen zum Abzug gezwungen. Es war der strenge Winter 1944–1945, doch das hielt diesen Exodus nicht auf. Tausende kamen auf diesen Märschen durch Hunger, Durst, Erschöpfung, Krankheit und die Kugeln ihrer Bewacher ums Leben. Wer überlebte, war sein Leben lang gezeichnet.
Ich selbst habe keinen dieser Märsche miterlebt. Ich war nie in einem Konzentrationslager inhaftiert. Aufgrund eines läppischen Zufalls und dank des rechtschaffenen Charakters eines niederländischen Polizisten habe ich als Siebenjähriger den Zug nach Auschwitz buchstäblich verpasst. Doch ich kenne die Geschichten über die Menschen, die auf diesen Märschen vor Erschöpfung starben. Ich habe darüber Dokumentarfilme gesehen und Bücher gelesen. Außerdem ist mein Vater in Hitlerdeutschland umgekommen. Nicht auf einem Todesmarsch, doch unter sehr ähnlichen Umständen. Wie meine Mutter und meine Geschwister ums Leben gekommen sind, weiß ich damals noch nicht.
Die Bedeutung des Traumes ist klar: Ich habe Angst um mein Kind. Angst, dass ihm dasselbe passieren könnte wie zahllosen anderen Verfolgten meines und seines Volkes.
Vergangene Nacht, zwanzig Jahre nach dem Ende des Krieges, scheint es, als sei der Schmerz und das Leiden meines Vaters und aller anderen Kriegsopfer durch einen Traum auf mich übertragen worden. Ein Trauma mit Verzögerung. Vielleicht ist es die Geburt meines Sohnes, die in meinem Geist diese neue Luke geöffnet hat, oder vielleicht ist es einfach die Zeit, die den Schmerz wie einen Bumerang zurückwirft. Jahrelang habe ich so getan, als ob ich mich von alldem Elend, das meiner Familie im Krieg widerfahren ist, freigemacht hätte. Aber heute, an diesem Wintermorgen im Jahr 1965, ist der Holocaust in mein Leben zurückgekehrt. Und ich weiß, dass er nie mehr daraus verschwinden wird, denn er ist ein Teil von mir.
Meine Erzählung ist jedoch mehr als nur eine Erzählung von Krieg und Verfolgung. Die Geschichte meines Volkes ist selbst so groß, dass Nazideutschland dagegen verblasst. Sie ist älter als ich, und beginnt lange, bevor ich auf die Welt gekommen bin.
Mein Volk kam einst über die Berge und entlang mächtiger Flüsse aus Indien. Wir waren ein besonderes Volk. Wenn wir durch die trockene Steppe in eine Stadt gelangten, war das immer ein Fest. Das war auch gar nicht so erstaunlich, denn Musik und Tanz begleiteten uns auf all unseren Reisen. Unsere Vorfahren waren so virtuos, dass sie sogar in den Palästen der mächtigsten Maharadschas spielten.
Seit Menschengedenken waren wir unterwegs, und selbst den reichsten Herrschern gelang es nicht, uns mit Gold und Steinhäusern an einen Ort zu binden. Die Wagen meiner Vorfahren zogen im Laufe der Jahrhunderte immer weiter nach Westen. Warum? Das weiß niemand, einfach weil wir nichts über unsere grandiose Geschichte zu Papier gebracht haben. Meine Vorfahren konnten nicht einmal lesen und schreiben. Ihre Sprache war die Musik, und die vom Vater an den Sohn überlieferten Erzählungen bildeten die Chroniken unseres Volkes.
Von anderen wissen wir, dass wir in Persien waren. Von der dortigen Geschichtsschreibung wurden wir als Boten der Poesie und des Glücks gefeiert. Unsere Klänge hallten eine gewisse Zeit in den Palästen dieses mächtigen Reiches wider. Doch selbst die herrlichen Lustgärten Isfahans und Schiras’ konnten uns nicht zum Bleiben verleiten. Wir zogen weiter, denn die Unrast ist uns in die Wiege gelegt. Einige von uns landeten in Nordafrika; daher nennt man uns auf Französisch Gitanes, eine Verballhornung von »Ägypter«.
Jahrhunderte später tauchten wir plötzlich in Schriften aus Osteuropa auf, wo unsere Musik sowohl zum Synonym des Lachens als auch des Weinens wurde. Einige Jahrhunderte darauf malte Vincent van Gogh unsere Wagen in einem Feld in der Provence. Der spanische Komponist Manuel de Falla schrieb eine wunderbare Komposition über das reisende Leben, das wir führten. Damals durchzogen wir schon eine Weile das flache Land hinter den Dünen, wo die Menschen das Meer gebändigt hatten.
Wohnwagen in einem Lager. Sie sind mit schönen Schnitzereien verziert.
Europäer nennen uns Gitanes, Zigeuner oder Manouches. Wir selbst sagen lieber Sinti.
Wir sind ein Volk, das immer auf Reisen ist, nicht, um irgendwo anzukommen, sondern um unterwegs zu sein. Rastlosigkeit ist das Kennzeichen unserer Kultur. Ebenso wie unsere Regeln, von denen einige so geheim sind, dass ich sie nicht einmal aufschreiben darf. Diese Gesetze schützen uns auf der großen Reise.
Im Gegensatz zu unserem Brudervolk, den Roma, haben unsere Leute immer, von Ort zu Ort ziehend, in Wagen gelebt. Der Bestimmungsort ist nicht wichtig; die Reise ist das Ziel. Wir ziehen von Aachen nach Lüttich, von Pécs nach Debrecen, von Enschede nach Maastricht, immer auf der Suche nach einem Ort, wo wir eine Weile bleiben können, wo das Leben gut ist und wir Freunde haben.
Doch schließlich brechen wir immer wieder auf. Niemand weiß genau, warum – auch wir selbst nicht. Und niemand weiß, wo wir morgen sein werden, nur, dass es anderswo sein wird als heute.
In diese jahrtausendealte Tradition werde ich am 4. März 1937 hineingeboren. Nicht in Isfahan oder der Provence – meine Wiege steht in einem Krankenhaus in Den Haag. Doch es wäre ein Irrtum, anzunehmen, dass ich deshalb ein Den Haager wäre. Sinti-Frauen gebären dort, wo sie sich gerade aufhalten. Es hätte auch Doetichem sein können, oder Coevorden, oder jedes Dorf dazwischen.
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