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E-Book

Der Verlust der Morphologie

AutorRupert Riedl
VerlagSeifert Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl95 Seiten
ISBN9783902924278
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
In diesem Buch soll vom Zusammenbruch einer Sicht der Welt berichtet werden, von dessen Ursachen und dem Unheil, das dies zur Folge hat. Die Generation unserer Lehrer wusste noch, wie sich wissenschaftliche Zoologie von unwissenschaftlicher unterscheiden sollte: Wissenschaft war Morphologie. Heute findet man in den Vordrucken der Forschungs-Fonds unter einer Hundertschaft von Gebieten Morphologie überhaupt nicht mehr. Als Wandel in der Gewichtung von Wissenschaften scheint das für ein Jahrhundert noch trivial. Der Hergang ist schon interessanter; und gar nicht trivial sind die Folgen, die sich daraus ergeben.

Univ.-Prof. Dr. Rupert Riedl, 1925-2005. Studium der Biologie. 1968 Ruf an die University of North Carolina in Chapel Hill als Professor of Zoology, 1971 Rückkehr nach Wien. Vorstand des Instituts für Zoologie sowie des Instituts für Anthropologie der Universität Wien. Gründung des Konrad-Lorenz-Instituts für Evolutions- und Kognitionsforschung. Zahlreiche Publikationen. Im Seifert Verlag erschienen 'Clarissa und das blaue Kamel' (2003), 'Meine Sicht der Welt' (2004), die Autobiographie 'Neugierde und Staunen' (2004), 'Weltwunder Mensch' (2005) und 'Der Verlust der Morphologie' (2006).

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Leseprobe

Ablenkungen und Behinderungen


Wenn meine Darstellung richtig ist, bleibt zu fragen, warum sich dann eine an der Welt adaptierte Ausstattung rational so befremdlich ausnimmt. Tatsächlich bedarf es dazu eines Abrisses der Geschichte unserer Sprache, unserer Wissenschaften und unserer Vorstellung von den Kenntnis gewinnenden Mechanismen.

Man wird sehen, dass wir hier von der Empirie einer Welt des Verstandes weiter in eine Welt des reinen Denkens, der so genannten Vernunft oder Rationalität, gehen; von der empirischen zur rationalen Wahrheit. Natürlich ist unsere Ausstattung auch auf die Sprache vorbereitet. Die Sprach-Universalien sprechen dafür. Dass beispielsweise alle Sprachen, auch die ganz exotischen, in Nomen und Verben trennen, weil, wie wir heute wissen, Erstere über Gestaltwahrnehmung vorbereitet werden, Abläufe aber nicht. Und es ist nicht sehr übertrieben, festzustellen, dass unsere Kinder fast nur mehr Vokabeln lernen.

Da aber endet unsere Ausstattung; was darüber aufbaut, ist kulturabhängige Konstruktion, die Gefahr läuft, mit der außersubjektiven Wirklichkeit verwechselt zu werden.

Die Falle des Sprachdenkens


Die Sprachfamilie, die über das so genannte »westliche Denken« heute alle Wissenschaften beherrscht, ist von der griechischen Syntax beeinflusst. Sie hatte die »copula« einzuführen, im Deutschen die Worte »ist« und »sein«, die, selbst inhaltslos, Nomen und Verb bzw. Adjektiv zu verbinden haben. Das suggerierte bereits den griechischen Aussagesatz: »Sokrates ist sterblich«; obwohl er ein Halbgott gewesen sein könnte. Und daran den Schluss: »Sokrates ist ein Mensch, alle Menschen sind sterblich, ergo ist Sokrates sterblich«; obwohl niemand hätte angeben können, wo zwischen allen Halbgöttern, deren Kindern und Kegeln die Unsterblichkeit endet.

Das suggeriert den »wahrheitserweiternden Schluss«, von dem wir hinnehmen müssen, dass er nicht mehr als seinen Ansatz verbürgen kann.

Es geht nun um den Beweis, der in der Praxis aus der Juristerei, von der Mathematik übernommen wurde. Gemeint ist die Rückführbarkeit einer Behauptung auf eine als wahr anerkannte Grundannahme. Unter den Mängeln möglicher Beweise interessiert hier die »petitio principii«, die »Erschleichung des Beweisgrundes«, die schon die antiken Philosophen bedachten, die Unbeweisbarkeit des Ansatzes. Denn was sollte in dieser Welt schon als unumstößliche Gewissheit gelten?

Im nächsten Schritt legt sich die Hoffnung nahe, die Sprache von Antinomien, von inneren Widersprüchen zu befreien: wenn etwa ein Kreter sagt: »Alle Kreter sind Lügner.« Es sollte in der Sprache nur wahr und falsch geben, ein Drittes sollte nicht gelten, »tertium non datur«. Wobei wir vor Augen haben, dass wir uns in Wahrheit allen Dingen dieser Welt mit Abstufungen von Ungewissheiten nähern und höchstens für unsere Existenz gerade zureichende Gewissheit erreichen können.

Das leitet weiter hin zur Vermutung, man könne auch den komplexen Dingen dieser Welt begrifflich durch die Schärfung der Diagnose näher kommen; durch die Einengung der Grenzen der entsprechenden Begriffe. Es entsteht damit gedanklich eine Art Ladensystem, das dazu zwingt, Begriffe für reale Dinge in die eine oder die andere Lade abzulegen. Das entspricht der realen Welt nun gar nicht. Fast nie ist eine Gruppe von Dingen durch ein einziges Merkmal zu bestimmen.

Diesen Fehler macht zum Beispiel das Chinesische nicht. Begriffe werden durch die Gewichtung ihrer Merkmale verdeutlicht. Das führt vom Sprach- zum Kulturrelativismus; und man kann fragen, warum eine Kultur mit so wenig adaptierter Sprache die Welt erobert hat. Wahrscheinlich durch die Suggestivität der Vereinfachung, die linkshemisphärisch bewusst verfolgbar, leicht zu unterrichten und rational so einleuchtend erscheint; und die daraus folgende Unbedenklichkeit entfaltbarer wirtschaftlicher und militärischer Macht.

Dabei kann jeder Natur- und Kulturhistoriker in seiner Praxis die Erfahrung machen, dass sich scharfe Definitionen als irreführend erweisen. Schon der Systematiker weiß, dass Merkmale, die eine Einheit von Organismen allein bestimmen können?—?er nennt diese »differential-diagnostisch« –, Ausnahmen sind. Es dominieren die Formen der selektiven Merkmale. Schon eine so geschlossene Gruppe wie die Säugetiere ist weder durch das Säugen noch durch das Säugerhaar zu bestimmen, denn die Schnabeltiere legen Eier und die Bartenwale besitzen nicht ein einziges Haar.

Und bei der Bestimmung etwa der Hochkultur, der Gotik oder der Aufklärung wird man das noch deutlicher vor Augen haben. In Wahrheit ist die Welt benennbarer Dinge voll der unterschiedlichen Übergänge, die sich wie Hügel oder schroffe Gipfel einer Landschaft gegen ihre verschiedenen Nachbarn auch verschieden voneinander abgrenzen.

Man möge dieser Falle des Sprachdenkens eingedenk bleiben, wenn es nun darum gehen muss, unser Verständnis auch für die Wechselbezüge zwischen Konstituenten und Milieu sowohl des Entstehens als auch des Verstehens komplexer Dinge begreiflich zu machen.

Zerteilung der Wahrnehmung


Beim Menschen haben sich die Hemisphären des Gehirns, in der erwähnten Lateralisation, deutlich spezialisiert; Sprache, Bewusstsein und Logik in der linken Hälfte, wogegen die rechte stumm ist, unbewusst operiert und nicht logisch, sondern, sagen wir: gesamtheitlich. Warum das so ist, wissen wir nicht; und auch nicht, wo das bei unseren Vorfahren beginnt. Bessere Raumausnutzung?

Wir wissen hingegen, dass es unter uns Links- und Rechts-Hemisphäriker gibt. Nicht, dass einer nur mit der linken oder der rechten Hemisphäre dächte, aber dass er sich auf die Angebote der einen oder der anderen mehr verlässt, dieser oder jener mehr Vertrauen schenkt, ist, namentlich unter den differenzierteren unter unseren Köpfen, evident. Vielfach wird dann auch nur das, was Vertrauen erweckt, weitergedacht. Fachlich redet man von deduktiven und induktiven Begabungen, Analytikern und Synthetikern. Man kann nachgerade von geborenen Logikern oder aber Künstlern sprechen und von unterschiedlichen Formen der Kreativität. Wobei sich in der Biologie?—?und das ist der Punkt?—?auch schon die Physiologen von den Morphologen unterscheiden können.

Natürlich wird alles wahrgenommen, aber es kann kommen, dass die Lösung eines Problems, die sein Gegenüber für denselben Gegenstand anbietet, dem Synthetiker banal, dem Analytiker fabulös erscheint. Man erinnert sich, dass GOETHE den »Hebeln und Schrauben« NEWTONs misstraute, seine Farbenlehre aber schon von seinen gebildeten Zeitgenossen nicht ernst genommen wurde. Dabei erkannte der eine den Farbenkreis, der andere das Spektrum. HAECKEL und CARNAP können als typisch gelten.

Das zieht wie im Untergrund durch unsere Wissenschaften11 und hat unter den Biologen die »Künstler« von den »Physikalisten« getrennt. Wiewohl die Kunst, das Salz der Wissenschaften, sich von den hardlinern aus »echter« Wissenschaft ausgeschlossen findet.

Zerfall der Bildung


Die Bemühung um ein widerspruchsfreies Weltbild ist so alt wie unsere Geistesgeschichte. Ob einfach oder hoch differenziert, will es in jedem Ethnos Orientierung geben; aus der Gewichtung aller Eingebung und vermeintlichen Erfahrung der Existenz der Welt und von uns selbst universell Herkunft, Struktur, Zweck und Ziel für gemeinsames Handeln und Urteilen zu begründen.

Dabei entsteht, wie erwähnt, schon im achten vorchristlichen Jahrhundert eine Teilung; entweder der Erfahrung oder aber dem reinen Denken zu vertrauen. Sie begleitet uns bis heute: Empirismus versus Rationalismus. Es entstand, den Zeitströmungen entlang, das, was man Philosophie nennt; von der Erkenntnislehre bis zu den metaphysischen Begründungen der Glaubenslehre.

Was für unseren Gegenstand interessiert, folgt aus dem Wandel unserer Gesellschaft und dessen Einfluss auf die Formen der Weltbilder. Darstellbar am Wandel der Universitäten.12 Im Altertum Griechenlands überwiegen private Schulen. Roms hohe Lehrstätten sollten bereits tüchtige Beamte erzeugen. Und als im Islam und dann in unserem Frühmittelalter auch der Name für den universellen Auftrag entsteht, bestimmen Glaubensvorschriften Zulassungen, Förderung und Struktur. Mit der Renaissance beginnen sich Fürstenhäuser mit den hohen Bildungsstätten zu schmücken, dann die Landesherren, ab der Aufklärung die Nationalstaaten und mit der Globalisierung die Weltwirtschaft. So auch die Einflüsse. Entlang dieser Entwicklung beginnen sich zunächst Glaube und Wissen zu isolieren, dann Philosophie und Wissenschaften zu spezialisieren, Natur- und Geisteswissenschaften in jene Fakultäten und Institute zu trennen, die uns heute geläufig sind, und damit Wertungen, welche diesen zuzudenken seien.

Für unseren Gegenstand?—?das Schicksal der Morphologie?—?finden sich da die großen Unterströme zum heutigen Zeitgeist. Die Zerteilung lässt die hohen Bildungsstätten zu Ausbildungsstätten verkommen, Verantwortlichkeit aus Weitsicht zum Egoismus des »Fachidioten« und Universitäten unter dem Druck von Wirtschaft und Kapitalismus zur mächtigsten, aber verantwortungslosesten Institution der industrialisierten »Erfolgsgesellschaften«. Wirtschaftlich ertragreiche Fächer werden zu Molochen, den »Elefantenfächern«, gefüttert, andere, die »Orchideenfächer«, als epiteton ornans ausgehungert.

Was also sollte da noch Morphologie? Zumal gerade sie, diesem Zeitstrom der »Macher« entgegen, die besten Erfahrungen bietet, um vor dem Eingreifen in nicht wiederholbare oder wieder herstellbare Komplexität...

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