Was macht die Faszination beim Skispringen aus? Was bewegt scheinbar verrückte Männer und Frauen dazu, sich mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über riesige Schanzen ins Leere zu stürzen? Und warum jubeln ihnen dabei auch noch Tausende von Menschen begeistert zu? Liegt es an der Exklusivität? Tatsächlich wagen es, weltweit gesehen, ja nur wenige, diese Sportart auszuüben. Oder ist es der Nervenkitzel, ob es gelingt, die Angst vor der Höhe und der extremen Geschwindigkeit tatsächlich zu überwinden? Ist es der Traum vom Fliegen, auch wenn er nur wenige Sekunden andauert?
Es wird eine Mischung aus allem sein, dass Skispringen seit Jahrzehnten für Zuschauerrekorde sorgt. Wie groß die Kräfte tatsächlich sind, die auf einen Sportler wirken, wird für die meisten erst ersichtlich, wenn sie einmal einen Bewerb vor Ort erlebt haben. Da geht alles viel schneller, die enorme Geschwindigkeit im Anlauf und in der Luft ist regelrecht hörbar, die wahren Größendimensionen werden spürbar. Im Fernsehen wird oft erst bei missglückten Sprüngen oder Stürzen klar, welchen Kräften man sich ausliefert. Und trotzdem fesselt das Skispringen auch Massen vor den TV-Bildschirmen, wie es die Quoten Jahr für Jahr beweisen. Für mich liegt ein wesentlicher Beweggrund dafür in der Ästhetik dieser Sportart – und die wird gerade in den Zeitlupenaufnahmen der Fernsehstationen besonders ersichtlich. Es schaut so einfach aus, wenn ein Springer vom Anlauf in die Luft gleitet. Alle Bewegungen fließen harmonisch ineinander über, von Hektik keine Spur. Schanze – oft architektonisch wertvoll – und Flugkurve sind perfekt aufeinander abgestimmt, der Springer landet im Normalfall immer dort, wo er es auch soll.
Ich persönlich kann mich noch gut an meine ersten kleinen Schanzen erinnern, die ich, kaum dass ich ein bisschen Skifahren konnte, mit meinem Vater gebaut habe. Ein passender Hang war da oft wichtiger als ein Lift. Und die meisten Eltern wissen – so wie ich es bei meinen Kindern erlebt habe –, welches Vergnügen es ist, beim Skifahren über Kanten oder Kuppen zu springen (den sicheren Landungsbereich natürlich vorausgesetzt). Vom Fliegen ist da noch keine Rede, aber dieses kitzlige Gefühl im Bauch, wenn es einem den Magen kurz aushebt, kennt jeder. Diese Air-Time, wie man das beim Achterbahn-Fahren nennt, entsteht, wenn die horizontale Geschwindigkeit erschöpft ist und die Erdanziehung greift. Als Skispringer gewöhnt man sich daran, denn dieses Gefühl ist sogar bei der Anfahrt spürbar, wie ich selbst als aktiver Springer nach einer längeren Pause erstaunt festgestellt habe.
Meine ersten Sprungversuche beim Skifahren
Der große und entscheidende Unterschied zwischen einem Skisprung-Bakken und den meisten selbstgebauten Schanzen ist die Neigung des Schanzentisches: der ist nämlich nicht gerade und geht schon gar nicht nach oben, sondern neigt sich mit 11 Grad nach unten! Nur so sind immer größere Weiten möglich. Und genau dieser Drang, immer weiter zu springen, wird für die meisten Kinder und Jugendlichen, die dem Skisprung-Virus verfallen sind, schnell zur Sucht (im positiven Sinne). Allerdings ist ein gutes Maß an Geduld gefragt, denn es bleibt stets Luft nach oben. Von der 10-Meter- zur 20-Meter-Schanze und so weiter sind es Riesenschritte, bis man schlussendlich zum ersten Mal auf einem Flugbakken steht – für die meisten dauert das ein halbes Springerleben.
Der erste einschneidende Moment für einen jungen Athleten ist der erste Sprung mit speziellen Sprungski. Zum einen sind sie Statussymbol, zum anderen wird der Luftwiderstand, das Luftpolster, nach dem Absprung zum ersten Mal wirklich spürbar. Die Sprungski der Kinder sind dazu noch, prozentuell gesehen, viel breiter als die der Erwachsenen, sie erinnern eher ans Wasserskifahren. Sie haben auch keine Kanten wie Alpingeräte, und für eifrige Eltern gilt es beim Wachsen, nicht nur eine, sondern bis zu sechs Führungsrillen auszuziehen. Das Bindungssystem mit der nicht fixierten Ferse stellt für die Nachwuchsathleten dabei die größte Herausforderung dar, und das sowohl bei der Anfahrt als auch bei Absprung, Flug und Landung.
Worum geht es nun beim Skispringen? Trivial gesagt: Man möchte mit möglichst wenig Anfahrt möglichst weit springen, und das Ganze sollte auch noch mit einem traditionellen Aufsprung gekrönt werden. Der Telemark ist heute wirklich nur mehr Teil einer Tradition, früher war er aufgrund der fehlenden Stützen in den Schuhen absolut notwendig. Skispringen ist von der ersten Sekunde an ein Balanceakt: Schon das Abstoßen vom Balken und das Übergehen in die Anfahrtsposition, ohne sich mit der Ferse von der Bindung zu lösen, ist nicht so einfach, wie es aussieht. Jeder Laie wäre von der Steilheit und der hohen Beschleunigung überwältigt, genauso wie es Nachwuchssportlern ergeht. Die natürliche Reaktion darauf ist, sich nach hinten zu lehnen, allerdings würden einem dann die Ski quasi davonfahren. Ein ähnliches Reagieren löst – wenn man die ersten Meter geschafft hat – das Durchfahren des Radius aus. Wieder wird die Balance-Fähigkeit auf die Probe gestellt: Der Moment, in dem ich mich kopfüber ins Leere stürzen muss, kommt rasend schnell näher, und durch die Krümmung setzt die Zentrifugalkraft ein. Das Ziel ist es, den Radius stabil zu durchfahren, ohne kleiner zu werden. Ein Absitzen nach hinten oder ein Kippen nach vorne hätte jetzt fatale Folgen. Die Ausfahrt aus dem Radius ist extrem schnell, und es braucht eine Position, aus der man den Absprung einleiten kann. Würde man jetzt überlegen, was eigentlich genau zu tun ist, wäre man schon längst in der Luft und einfach in der Hocke über den Schanzentisch gefahren. Der Absprung dauert nämlich nur zwei Zehntelsekunden.
Die wahren Könner holen sich im Radius den entscheidenden Punch für einen explosiven Absprung. Die Zentrifugalkraft wird – sehr vereinfacht formuliert – in den Muskeln als eine Art Vorspannung gespeichert und entlädt sich beim Abdrücken am Schanzentisch. Um diesen Effekt besser nachvollziehen zu können, genügt es, von der tiefen Hocke auf eine Parkbank zu springen (oder sich das zumindest vorzustellen): Mit etwas Schwung gelingt dieses Vorhaben wesentlich leichter als aus einer längeren, starren Hockposition. Eine gewisse Muskelelastizität ist beim Durchfahren des Radius also von Vorteil.
Und dann wuchtet sich der Sportler hinaus in die Luft. Was für den Zuseher so leicht und selbstverständlich aussieht, stellt für den Athleten die sensibelste Phase seiner Sportart dar. Diese zwei Zehntelsekunden Absprung und die erste Sekunde der Flugphase entscheiden über Sein oder Nichtsein. Bei ungeübten Springern geht es da wirklich um Sturz oder Nicht-Sturz, bei den erfahrenen um das Finden einer effektiven Flugposition. Damit der Ski Luft von unten bekommt – andernfalls würde man nach unten abschmieren –, muss der Sportler auf ein Luftpolster »hinaufspringen«. Bei einem optimalen Absprung bewegt sich der Körperschwerpunkt weiter nach oben, während Oberkörper und Kopf möglichst unten und in der Strömung bleiben. Die Streckung erfolgt nur aus Beinen und Hüfte. Bei einem Trockentraining ist diese Bewegung für einen Laien noch recht gut nachvollziehbar, auf bewegtem Untergrund schaut es da schon anders aus. Ein Absprung auf Eis oder mit Inline-Skates lässt erahnen, wie schwierig dieser Moment im Skispringen ist.
Skisprungimitationen von einer bewegten Unterlage mit Zug nach oben (Heinz Kuttin, stehend, mit Thomas Morgenstern)
In der Fachsprache oder im Fernsehen ist nun davon zu hören, dass sich das »System schließt«. Mit System ist in diesem Fall das Zusammenlaufen von Körper und Ski gemeint, was gerade in Zeitlupenaufnahmen eindrucksvoll zu sehen ist. Der Sportler drückt sich mit einer schnellen Bewegung vom Schanzentisch ab, und während er an Höhe gewinnt, biegen sich die Skier massiv nach unten durch. Sobald der Athlet in der Luft ist, muss er aktiv die Zehen nach oben ziehen, damit er den Ski zum Körper holen kann. Die Ferse löst sich von der Bindung, die Skier beruhigen sich und öffnen sich gleichzeitig zum V. Der Körper befindet sich in dieser Phase unter höchstem Stresseinfluss und ist dabei unheimlichen Luftkräften ausgeliefert – trotzdem braucht es jetzt ein hundertprozentiges Fluggleichgewicht. Jeder Anstellwinkel, egal ob Oberkörper, Ski oder Arme entscheidet darüber, wie die Balance aussieht. Wie stark der Luftwiderstand wirkt, wird schnell klar, wenn man beim Autofahren – als Beifahrer – die Hand durchs Fenster nach draußen streckt. Da braucht es einiges an Kraft, um sich dem Wind entgegenzustellen. Skispringer sind zu diesem Zeitpunkt mit über 90 km/h unterwegs.
Kognitiv ist der Übergang vom Absprung zum Flug nicht steuerbar, weil es einfach viel zu schnell geht. Bis ich einen klaren Gedanken gefasst habe, bin ich schon am Boden zerschellt. Skispringer handeln in diesem Moment intuitiv, im Idealfall greifen sie auf erlernte Muster zurück, niemals würden sie jetzt die Beine einziehen. In unzähligen Trainingseinheiten haben sie die notwendigen Bewegungsabläufe verinnerlicht und sich das Vertrauen erarbeitet, dass die Luft sie trägt. Für Spitzenleistungen muss dieses Vertrauen absolut gegeben sein, nur der kleinste Zweifel kann Schutzmechanismen in Gang setzen, die nicht bewusst gesteuert sind: Schon zum Schanzentisch hin verlagert man den Schwerpunkt leicht nach hinten, man zieht sich zurück, um quasi die Zeit bis zum Absprung etwas zu...