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E-Book

Der vorletzte Samurai

Ein japanisches Abenteuer

AutorDennis Gastmann
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783644100305
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Rätsel, Regeln und Rituale - Dennis Gastmann macht sich auf, Japan zu erkunden, ein Land, das noch immer unvergleichlich fremd und geheimnisvoll wirkt. Dabei ist er nicht allein: Natsumi, seine Frau, die aus einer Samurai-Familie stammt, begleitet ihn. Die beiden bereisen den gesamten Inselstaat, von den grünen Gipfeln auf Hokkaid? bis zu den Vulkanen auf Ky?sh?, sie pilgern in die Tempelstadt Nikk? und verlieren sich im Lichterrausch der Metropolen. Japan, wie es sich der Westen vorstellt, erlebt Gastmann im Neongewitter eines Tokyoter Roboterrestaurants. In einer Bar in Kagoshima wird er selbst als Fremder bestaunt: 'Wir sitzen hier seit dreißig Jahren', erzählen ihm die Trinkenden, 'und noch nie hat sich ein Gaijin hereingetraut.' Schließlich, in den 'sieben Höllen' von Beppu, das für seine heißen Quellen bekannt ist, sucht er nach Ruhe und begegnet einem ergrauten Herrn im Yukata, der plötzlich rauchend vor ihm sitzt. Ist er der Geist eines Samurai? Dennis Gastmanns Reiseerzählung ist das faszinierende Porträt eines Landes zwischen Anarchie und Ordnung, Besessenheit und Zen - und ein sehr persönliches Abenteuer: Kann ein 'Gaijin', ein Fremder, eine Kultur verstehen, die ein Fremder gar nicht verstehen kann?

Dennis Gastmann, geboren 1978 in Osnabrück, hat alle Kontinente bereist - als Schriftsteller, Filmemacher und «Guerilla-Korrespondent» der ARD-Auslandsmagazine. Er reiste «Mit 80.000 Fragen um die Welt» (2011), begegnete Heiligen und Hexern, Asketen und Oligarchen, und wanderte zu Fuß über die Alpen, um seine Sünden zu büßen («Gang nach Canossa», 2012). Seine Reportagen wurden mehrfach preisgekrönt und dreimal für den Grimme-Preis nominiert. Für den «Atlas der unentdeckten Länder» (2016) besuchte er die letzten unbekannten Orte der Erde, für «Der vorletzte Samurai» (2018) erkundete er Japan. Zuletzt erschien «Dalee», sein erster Roman. Dennis Gastmann lebt in Hamburg und arbeitet in der ganzen Welt.

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Leseprobe

Das Haus der knienden Frauen


Tokyo

Langsam, ganz langsam wogten die Laternen im Abendwind, als sich ein zierliches Wesen vor uns verneigte. Es wartete auf dem Gehweg und wies nickend auf eine Stiege, die hinauf in einen Pagodenbau führte. Äußerlich, inmitten all der Wohntürme, die ihn überragten, war er mir klein vorgekommen wie ein Teehaus. In seinem Inneren aber wollte er nicht enden. Verwinkelt und verwunschen, schien er neunundneunzig Zimmer in sich zu bergen, eines wie das andere verschlossen, als hüteten sie Geheimnisse. Ihre Türen waren bloß aus Papier, und doch konnte ich dahinter nur Schatten erkennen.

In jedem Winkel, auf jedem Gang und an der Schwelle jeder Kammer knieten Frauen. Sie trugen Kimonos und waren in gleicher Weise gealtert wie ihr Lokal, das so mancher, trotz seiner wächsernen Aura und der Wasserflecken an den Decken, zu den edelsten des Landes zählte. Das Dekor beschränkte sich auf ein Gesteck im Entree und eine Tuschezeichnung an einem Nagel darüber, die nichts weiter zeigte als einen Apfel, rot wie ein Tropfen Blut auf einer Trauerkarte. Wie ausgesucht dieser Ort war, verrieten die Mienen der Bediensteten, die zwar den Blick vor uns senkten, es aber mit einer solchen Klasse taten, dass sie dabei nicht geringer wirkten.

Der einzige Herr unter ihnen, nahezu ein Greis, krümmte sich vor einer Kommode und legte unsere Schuhe hinein, als seien sie aus Kristall. So schritten wir auf Strümpfen durch das Reich der Kauernden, die mit jedem Meter, den wir gingen, und mit jeder Biegung, die sich zwischen Reisstroh, Holz und Sandputz bahnte, um weitere Jahre reiften. Es war, als würde das Haar der Frauen von Flur zu Flur an Schwärze verlieren. Ihre Brauen zogen sich zu Fäden zusammen, und über ihre Züge legte sich ein milchiger Schleier, blass und bleich wie eine Maske.

Die wohl Betagteste lugte aus dem Dunkel eines Spalts hervor. Sie saß buchstäblich in der Wand, ganz am Ende eines Korridors. Weil ihre Finger damit beschäftigt waren, Scheine zu zählen, und ihre Pupillen indes über eine Liste mit Zahlen und Schriftzeichen wanderten, senkte sich ihr Kinn eher beiläufig, als wir sie passierten. Unser Pfad bog nun nach rechts und abermals nach links, wo sich zwei Damen aus der Hocke erhoben. Sie legten die Aderhände an eine Schiebetür, fuhren sie sachte beiseite und ahnten wohl nicht, wie oft ich mir diesen Moment in Gedanken vorgestellt hatte.

Vier Sommer und vier Winter war ich nun mit Natsumi zusammen. Vier Jahre, in denen sie mir von ihren Verwandten in Japan erzählt hatte. Von Cousinen aus Kyoto, der Stadt der Kaiser, und Cousins aus Osaka, der Stadt der Lichter. Von einer wunderlichen Lieblingstante aus Kōbe, die seit Jahrzehnten unsere Sprache lerne und bisher kein einziges Wort herausgebracht habe – außer der Vokabel «Entenfamilie». Von dem einstigen Herrenhaus ihrer Vorfahren, das mit jeder Erwähnung größer wurde, und von all den Dienern, die dort einmal gearbeitet hätten, einige in den Gemächern, andere in den Gärten.

Natsumi stammt aus der Linie eines Samurai, und er scheint stets an ihrer Seite zu wandeln. Sie mag zerbrechlich wirken, aber ich habe sie nie weinen sehen. Eine Kriegerin verliert keine Tränen, und sollte es dennoch geschehen, dann nur im Stillen. Mir ist, als habe sie drei Gesichter: Eines zeigt sie der Welt, das zweite zeigt sie mir, und das dritte sieht nur sie selbst, im Wandspiegel, wenn die Tür hinter ihr verriegelt ist und keine Seele stört. Natsumis Mutter ist Japanerin, ihr Vater kommt vom Bodensee, und die ersten Takte ihres Lebens spielten hier, in Tokyo, umschwirrt von dreißig Millionen Stimmen. Ironisch aber, wie das Leben ist, lotste es ihre Eltern bald an den Deich. So war Natsumi zur Melodie des Alten Landes groß geworden, jenseits der Elbe. Dort, wo die Backsteinhöfe reetgedeckt sind und das Tageblatt hin und wieder neugierig um ein Foto bat, wenn ein Verwandter aus dem ach so fernen Osten zu Besuch war.

In Japan nennt man sie hāfu, eine Halbe, und auch ich hatte immer das Gefühl, sie nur zur Hälfte zu kennen. Morgens, wenn ich gebannt zusah, wie sie ein Rührei mit Stäbchen quirlte, und fragte, ob es nicht an der Zeit sei, in ihre zweite Heimat zu reisen, zögerte sie. Sicher, wir könnten fliegen, sagte sie dann. Aber vermutlich würden uns ihre Angehörigen nicht empfangen. Nicht gemeinsam. Nicht ohne Ring. Eine japanische Familie sei etwas Intimes, so verletzlich wie ein Herz, und wer lässt schon gern jemanden in sein Innerstes, der nicht bleibt?

Nun war es so weit. Wir hatten vor vierzehn Tagen geheiratet, an einem 4. Juni, und in den kommenden viereinhalb Wochen standen uns vier Zusammenkünfte mit vier Zweigen der Verwandtschaft bevor, um unsere Hochzeit nachzufeiern. Vier Jahre hatte mich Natsumi darauf vorbereitet, und doch war mir so, als wüsste ich gar nichts über dieses Land. Ich wusste aber, dass die Vier im japanischen Aberglauben für den Tod steht, und wenn er irgendwo auf dieser Welt zu Hause war, dann wohnte er hier, in diesem Lokal.

Als sich die Schiebetür öffnete, schnellten die Leute dahinter von ihren halbhohen Stühlen auf. Japanisches, gesittetes Chaos: Es ist laut und exzentrisch, doch so rasch es anschwillt, beruhigt es sich auch wieder. Es wirkt konfus, aber wer sich mitten hineinbegibt, stellt fest, dass es einer inneren Ordnung folgt. Unsichtbare Fäden zogen mich durch das papierene, gedämpft beleuchtete Separee wie eine Figur in einem sorgsam einstudierten Schattenspiel. Natsumi dirigierte mich von Person zu Person, sie fragte, antwortete, scherzte für mich, und hin und wieder streute ich ein Hajimemashite ein – «Schön, Sie kennenzulernen» –, womit mein Repertoire weitgehend erschöpft war. Ich hatte mir vor dem Abflug einige Floskeln parat gelegt, doch sie reichten leidlich, um das Essen zu loben und später nach dem Weg um die Ecke zu fragen, wenn es mir auch wenig half, weil ich die Antwort nicht verstand.

Natsumi war ohnehin dagegen, dass ich Japanisch lernte. Es sei ihre Geheimsprache, hatte sie mich einmal wissen lassen. Darin kläre sie die wirklich wichtigen Dinge mit ihrer Mutter, die sonst niemanden etwas angingen. Gelegentlich führte das zu Situationen, in denen ich merkwürdig apathisch neben den beiden saß und ein Schulterzucken mit ihrem Vater teilte, der nur reagierte, wenn sie ihn wieder Hage-san nannten, Herrn Glatzkopf – obwohl er doch noch einige Haare besaß, dichtere an den Seiten, dünnere oben auf dem Haupt. Es war keine Frage, dass sich die Frauen über uns lustig machten, und dennoch liebte ich es, wenn Natsumi Japanisch redete. Dann sprach sie plötzlich mit einer anderen, zarteren Stimme, in einem fremden, aber süßen Ton und einer ungewohnten, viel helleren Lage. In diesen Augenblicken erlebte ich sie neu, und hier, umringt von ihren Verwandten, war es noch mehr als das. Es fühlte sich an, als würde ich sie zurück in das Element geben, in dem sie atmen konnte. Mi bedeutet Schönheit, und natsu steht für den japanischen Sommer, der für uns in diesem engen, fensterlosen Zimmer begann.

Natsumi machte mich zunächst mit einer Dame bekannt, die sich so sehr darüber zu freuen schien, dass unter ihrer feinen, pergamentenen Haut ein bläuliches Äderchen hervortrat. Es zeichnete sich für Sekunden auf ihrer Schläfe ab, um dann, wie auf Kommando, wieder zu verschwinden. Sie war allein zu diesem Treffen erschienen, denn ihr Ehemann, Natsumis Onkel, war vor einiger Zeit verschieden, lange bevor die Psychologie den Begriff «Burnout» entdeckte. Er hatte sich so sehr der Arbeit hingegeben, dass sie ihn eines Tages mit Haut und Haaren verschlang. Der Onkel sei in seinem Unternehmen rasant aufgestiegen, hatte Natsumi erzählt, bis in die Dependance in New York. Seine Dienstreisen führten ihn sogar ab und an nach Europa, doch nie habe er Zeit gefunden, die Angehörigen dort zu treffen. Bis auf ein einziges Mal, wenige Wochen bevor er im Lift der Firmenzentrale einen Schlaganfall erlitt. Dieser erste und letzte Besuch sei wie ein Abschied gewesen, und vielleicht sah mancher darin ein Zeichen des Schicksals.

Der Verstorbene hatte einen Sohn hinterlassen, der sich mit Frau und Kind zu unserer Linken setzte. Natsumis Cousin legte sein Jackett nicht ab, obwohl die Sonne stundenlang auf dem Dach gebrannt haben musste und der gebrechliche Luftumwälzer, der müde in den Raum atmete, kaum Milderung brachte. Er arbeitete in einem Großkonzern, der weltweit mit Ramennudeln handelte und ihn heute nur entbehren konnte, weil Samstag war. Ansonsten gewähre man ihm vier freie Tage im Jahr, übersetzte Natsumi, und er schien diese wenigen Stunden ohne Klage hinzunehmen. In der Firma habe jeder seinen Platz, und wenn er fehle, wisse niemand, wie seine Tätigkeiten zu erledigen seien. «Es gibt keine Vertretung für mich», sagte er und tippte sich mit einem Finger auf die Nase, ganz leicht, als sei es ihm unangenehm, so viel über sich selbst zu reden. «Letztes Jahr sind wir aber verreist», deutete er auf seine Gattin, die vor dem Lokal auf uns gewartet hatte, und seinen Sohn, der gerade am Kopfende des Tisches ein liebevoll verschnürtes Päckchen öffnete. Drei Tage Bali an einem verlängerten Wochenende.

Bei grünem Tee und einer Auswahl an Wachskürbis, Ziermais und gesalzenen, unreifen Sojabohnen begannen wir ein Gespräch unter Männern. Es brauchte jedoch weibliche Fürsorge, um mich darauf aufmerksam zu machen, dass ich der Einzige von uns beiden war, der redete. Was Natsumi meinte, dämmerte mir, als ich den Augenkontakt zu ihrem Cousin für ein Nippen an der Tasse löste und mich seiner Schwester zuwandte, die uns gegenübersaß....

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