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Der Wandel von Engagementverdrossenheit zum Wir-Gefühl

Eine soziologische Analyse am Fallbeispiel der Occupy-Bewegungen

AutorAntje Reichert
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl151 Seiten
ISBN9783656269861
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Masterarbeit aus dem Jahr 2012 im Fachbereich Soziologie - Individuum, Gruppe, Gesellschaft, Note: 1,2, Friedrich-Schiller-Universität Jena (Institut für Soziologie), Sprache: Deutsch, Abstract: Protest und Widerstand gehören zum Grundinventar demokratischer Gesellschaften. Aktuell kann weltweit eine massive Zunahme an Bürgerprotesten wahrgenommen werden. In der vorliegenden Masterarbeit wird am Fallbeispiel der Occupy-Bewegungen empirisch untersucht, wie es zu diesem Wandel von der Engagementverdrossenheit zu einem Wir-Gefühl gekommen ist, der schließlich kollektives widerständiges Handeln ermöglicht. Im Fokus der Arbeit stehen hierbei die Zuversicht, mit Protest etwas bewirken zu können, die subjektiven Motive des Einzelnen sowie die öffentliche Berichterstattung. Die theoretische Basis der vorliegenden Arbeit bildet die akteurstheoretische Perspektive mit dem Fokus auf Politikverdrossenheit, Identität und Opposition als Strategie zur Vereinbarkeit von System und Lebenswelt. Der empirische Teil beruht auf einem dreistufigen methodischen Vorgehen, bestehend aus persönlich geführten Interviews mit Occupy-Aktivisten, einer Online-Befragung sowie einer mediensoziologischen Analyse. Die generierten Daten werden jeweils inhaltsanalytisch ausgewertet. Die Einzelfallanalysen können nicht bestätigen, dass die Bürger in Deutschland das Gefühl (zurück)gewonnen haben, mit Protest etwas bewirken zu können. Vielmehr ist die Motivation zur Teilnahme durch die persönliche Betroffenheit von sozialen Missständen begründet und wird gestützt durch die sozialen Kontakte innerhalb der Bewegung. Die verdichteten Einzelschicksale werden durch die öffentliche Berichterstattung der Massenmedien allerdings kaum thematisiert. Im Ergebnis wird gezeigt, dass der Wandel von der Engagementverdrossenheit zu einem Wir-Gefühl innerhalb der Occupy-Bewegungen gestützt wird, weil sich eine Vielzahl an Menschen mit der Bewegung identifizieren können, denen dies bisher bei anderen Bewegungen oder Institutionen nicht möglich war.

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Leseprobe

3 Theoretischer Hintergrund


 

3.1 Politikverdrossenheit als Ursache und Folge politischer Probleme


 

Der Wandel von Verdrossenheit zu einem Wir-Gefühl, welches in kollektivem widerständigen Handeln als eine Form der Opposition mündet, wird im Rahmen dieser Arbeit wie folgt theoretisch hergeleitet:

 

 

Abb. 3: Visualisierung der theoretischen Grundlagen

 

Quelle: Eigene Darstellung.

 

Ausgangsbasis der Überlegungen sind Verdrossenheitseinstellungen allgemeiner Art, die diverse Ursachen haben können wie z.B. negative Meinungen gegenüber Parteien, Politiker und Medien. Darüber hinaus können strukturelle Gründe wie die Globalisierung, Anlässe für Verdrossenheitseinstellungen darstellen sowie Veränderungen der Randbedingungen z.B. ein Wertewandel oder das Wachstum des Wohlfahrtstaates. Im Fokus dieser Arbeit stehen die mit dieser Einstellung einhergehenden Außenwirkungen insbesondere die Politik- und Engagementverdrossenheit. Dabei ist zu berücksichtigen, dass gesellschaftliches Engagement viele Facetten umfasst. Präsent wird es vor allem in der Aktivität von Selbsthilfegruppen oder Freiwilligen-Zentren, bei Seniorengenossenschaften, in Netzwerken zwischen Markt, Selbsthilfe und Staat bzw. bei Arbeitslosenprojekten (Heinze & Keupp 1997). Im Rahmen dieser Arbeit wird gesellschaftliches Engagement als ein Segment nicht-institutionalisierter politischer Partizipation verstanden, das mit einem flexiblen Rahmen in Bezug auf Hierarchie, Dominanz und Macht einhergeht (Ebenda). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass die bewusste oder unbewusste Abkehr von gesellschaftlichem Engagement als ein Bestandteil von Politikverdrossenheit definiert werden kann.[10] Konsequenzen von Politikverdrossenheit sind in Anlehnung an Arzheimer (2002: 16 f.) die sinkende Wahlbeteiligung, Mitgliederverluste von etablierten Parteien, wechselndes Wahlverhalten sowie das schwindende Vertrauen in öffentliche Institutionen.

 

Die Folgen der Verdrossenheitseinstellung können sich auf verschiedene Weisen sowie auf differierenden Ebenen niederschlagen. In dieser Arbeit stehen die Handlungsweisen auf der Mikro-Ebene im Fokus, die auch von den Einstellungen gegenüber Institutionen tangiert werden. Es lassen sich drei Handlungsweisen bzw. Typen lebensweltlicher Reaktionen unterscheiden: Arrangement, Integration sowie (aktive) Opposition, die im Kapitel 3.3 detailliert erläutert werden. Einen entscheidenden Einfluss auf die Entscheidung des einzelnen Akteurs für eine spezifische Handlungsweise bilden die Verfügbarkeit Gleichgesinnter, die Möglichkeit, sich mit anderen Akteuren und gemeinsamen Zielen zu identifizieren sowie das Vorliegen/die Entwicklung von Zuversicht oder Unglaube bezogen auf die Veränderungsmöglichkeiten. Die in Abbildung 3 aufgezeigten Wege zu Integration und Opposition werden in Kapitel 3.2 spezifiziert.

 

Zunächst soll die Ausgangsbasis zur Verdrossenheitseinstellung insbesondere das Vorliegen der Politikverdrossenheit detaillierter ausgeführt werden. So wurde die Chance zur politischen Einflussnahme durch die Bürger in Deutschland in der Vergangenheit nur bedingt genutzt. Dies belegen zahlreiche empirische Untersuchungen wie die German Longitudinal Election Study (GLES) als bislang größte deutsche nationale Wahlstudie (GESIS 2012). Auch sonstige Formen der politischen Partizipation wie die Mitgliedschaft in Bürgerinitiativen und Protestgruppen waren lange Zeit rückläufig. Selbst die Resonanz auf Unterschriftenaktionen oder Boykott-Aufrufe stagnierten (Bytzek & Roßteutscher 2011). Im Jahr 1992 wurde Politikverdrossenheit als Phänomen in öffentlichen Debatten so präsent, dass die Gesellschaft für deutsche Sprache es zum Wort des Jahres erklärte (Gesellschaft für deutsche Sprache e. V. 2012). Verdrossenheitseinstellungen und insbesondere Engagementverdrossenheit wird auf diese Weise zu einer

 

„Ursache, […] Folge und [zu einem] Überbegriff für eine ganze Reihe von politischen Problemen und Entwicklungen“ (Arzheimer 2002: 16).

 

In diesem Sinne formulieren van Dyk & Graefe (2011), dass Protest und Widerstand zum Grundinventar demokratischer Gesellschaften gehören und eine Gefahr von der Nichtinanspruchnahme dieser Rechte ausgeht. Gesellschaftlicher Wandel kann vor diesem Hintergrund gleichzeitig als ein Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen und Kämpfe verstanden werden. Dass sich die rückläufige Entwicklung gesellschaftlichen Engagements aktuell umkehrt und es im Jahr 2011 zu einer massiven Zunahme von Protesten kam, wurde bereits in Kapitel 1 erläutert. Die Forschungsfragen 1 und 2 können somit direkt aus den aktuell zu beobachtenden Entwicklungen abgeleitet und wie folgt spezifiziert werden:

 

1) Wodurch haben die Bürger das Gefühl (zurück)gewonnen, mit Protesten etwas bewirken zu können? Worauf begründet sich die Hoffnung in die Veränderungsmöglichkeiten?

 

Die erste Forschungsfrage beinhaltet die These, dass die der Politikverdrossenheit zu Grunde liegenden negativen Einstellungen der Bevölkerung in Deutschland gegenüber politischen Parteien, Politikern sowie politischen Prozessen - durch Zuversicht gespeist - in eine Oppositionsstrategie führen können (entsprechend Abbildung 3). Die Hoffnung kann vor dem Hintergrund sich wandelnder Rahmenbedingungen wachsen oder als gruppendynamischer Prozess ein Teil der Identitätskonstruktion innerhalb der Bewegung darstellen. Die Entscheidung des Akteurs für die Oppositionsstrategie wird in Forschungsfrage 2 detailliert:

 

2) Aus welcher Motivation heraus engagieren sich Menschen plötzlich für Sachverhalte, die sie selbst durch ihre vorangegangene Engagementverdrossenheit (mit)verursacht haben?

 

Somit bilden akteurstheoretische Perspektiven die Basis dieser Arbeit, die von den Akteuren und deren sozialen Beziehungen auf die Gesellschaft an sich schließen lassen.

 

„Die Prämisse dieses Ansatzes lautet, dass Wirtschaftsreformen und Demokratisierung […] nicht zwangsläufig das Ergebnis von strukturellen Bedingungen wie der Wirtschaftsstruktur, Sozialstruktur, dem politischen System u.a.m. sind, sondern maßgeblich von den an ihnen beteiligten Akteuren geprägt werden. Entscheidend sind nicht in erster Linie die bestehende Struktur oder die vorgefundenen Rahmenbedingungen, sondern die Art und Weise, wie die relevanten Akteure mit diesen umgehen“ (Schwanitz 1997).

 

Als soziologischer Klassiker einer akteurstheoretischen Perspektive gilt Simmel, der den Konflikt als entscheidenden Faktor zur Integration der Menschen in Gruppen bewertet (Simmel 1992). Der Konflikt gefährdet somit nicht die Gesellschaft, sondern ist eine Form der Vergesellschaftung. Darauf aufbauend hat Coser (2009) den Konflikt als Bedingung für den sozialen Wandel beschrieben und ihm eine sozialisierende Funktion zugeschrieben: Konflikte führen zu einer Anpassung bzw. Neuschaffung sozialer Normen und Regeln. Dadurch entstehen neue soziale Strukturen. Im Konfliktgeschehen werden sich die Beteiligten dieser Regeln bewusst. Eine Besonderheit innerhalb der akteurstheoretischen Perspektive von Konflikten stellt deren Eskalationstendenz dar. Einmal wahrgenommen können sich Konflikte potenzieren, bis die Ursache des Konflikts nicht mehr dominant ist, sondern nur der Konflikt selbst (Glasl 2004).

 

Aufgrund der Wahl der Occupy-Bewegungen als Untersuchungsfeld dieser Arbeit sollen vor allem Konflikte um und durch soziale Ungleichheit(en) im Fokus stehen. Wie Rehberg (2006: 19 ff.) sowie Lessenich & Nullmeier (2006: 15 f.) zeigen, nimmt die Vielfalt gesellschaftlicher Spaltungen stetig zu und die Gerechtigkeitsdebatte trennt z.B. Generationen, Altersgruppen, Bildungsschichten, Lebensformen und -stile, Bundesländer, Berufsgruppen, Steuerzahler und Transferbezieher. Obwohl die Betroffenen in sehr unterschiedlicher Bandbreite und Qualität von den Störungen der bestehenden sozialen Ordnungen tangiert sind, existiert ein verbindendes Moment, welches die Menschen zu widerständigem Handeln innerhalb und gegen gesellschaftliche(r) Ordnung motiviert. Dieses soll im Rahmen dieser Arbeit empirisch erhoben werden. Vor diesem Hintergrund ist es essentiell zu fragen, wie neue Mitglieder für die Bewegung mobilisiert werden können. Eine zentrale Rolle dabei spielt die Presseberichterstattung der Massenmedien, da diese neben der dokumentarischen Funktion auch mobilisierende Wirkung haben kann. Aus diesem Grund soll im Rahmen von Forschungsfrage 3 untersucht werden:

 

3) Spiegeln sich die Motive und Beweggründe der einzelnen Akteure in der medialen Öffentlichkeit wider oder liegt der Fokus hier explizit nicht in der akteurszentrierten Perspektive?

 

Die Leitthese zur Beantwortung der Forschungsfragen basiert auf einem strukturalistischen Ansatz der Modernisierungstheorien, die den Wandel von der traditionellen zur modernen Welt durch Attribute wie dynamisch und rational charakterisieren (Toye & Toye 2006: 27; Prebisch 1956). In Anlehnung an Parsons wird das Konzept der Modernisierung als unumkehrbarer und zielgerichteter Wachstumsprozess verstanden, der durch Differenzierung, Mobilisierung, Partizipation sowie Konfliktinstitutionalisierung beschrieben werden kann. An diese Komponenten knüpft Parsons auch im Rahmen seiner evolutionären Universalien, die für jegliche Entwicklung von...

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