Der »eine Geist«
In jeder authentischen religiösen Tradition geht es darum, zum Kern der spirituellen Übung, zum Wesen des Menschseins zu gelangen.
Darum geht es auch beim Zen, aber denkt daran: Es steht euch frei, von dem, was hier steht, Gebrauch zu machen oder nicht. Wenn ihr es hilfreich findet, gut. Wenn nicht, weg damit!
Die Körperhaltung
Warum sitzen wir beim Zazen eigentlich in einer bestimmten Haltung? Warum verknoten wir unsere Beine, sitzen Stunde um Stunde mit geradem Rücken da und konzentrieren uns auf unseren Atem?
Klar wird das, sobald wir es tun, denn Zazen ist nicht nur eine geistige, sondern auch eine körperliche Übung. Es beansprucht unser ganzes Wesen. Allen, die in der vollen Lotoshaltung sitzen oder sie sich behutsam durch Dehnübungen und Yoga aneignen können, empfehle ich sie sehr. Sie beruhigt und sammelt Körper, Atem und Gedanken. Sie ist eine uralte Körperhaltung, in der man schon vor Buddha Gautama geübt hat.
Allerdings hat jeder von uns einen anderen Körper und eine bestimmte Lebensweise. Wer nicht mit gekreuzten Beinen sitzen kann, hat viele Alternativen. Experimentiert mit verschiedenen Haltungen und lernt von eurem Körper, was gut für ihn ist. Es kommt nicht so sehr darauf an, was man mit den Beinen macht, als darauf, den Rücken auf natürliche Weise aufzurichten. Sitzt aber nicht steif wie ein Zaunpfahl da, sondern folgt der natürlichen S-Form der Wirbelsäule und verankert das Gesäß fest auf der Unterlage. Wenn der Rücken gerade ist, kann Zazen auch auf einem Stuhl oder einem Bänkchen geübt werden.
Sich selbst ergründen
Knapp ausgedrückt besteht die buddhistische Praxis darin, sich selbst zu ergründen. Es geht darum, zu dem, was wir unser Selbst nennen, vorzudringen und es zu durchschauen – also nicht darüber nachzudenken, ihm nachzuspüren oder tiefsinnige Vorstellungen davon zu entwickeln, sondern wirklich auf dessen Grund zu gelangen. Was befindet sich dort? Geht hin und findet es heraus! Es ist die vollkommene und endgültige Befreiung, die im Buddhismus als Erwachen bezeichnet wird.
Dazu ist es nicht nötig, irgendwo anders hinzugehen oder einen transzendenten, glückseligen Geisteszustand zu erfahren. Jeder von uns hat hier und jetzt bereits alles, was er braucht. Ein Lehrer ist dazu genauso wenig notwendig wie irgendwelche Bücher. Der Überlieferung zufolge saß Buddha Gautama unter dem Bodhi-Baum, um zum Grund seines Selbst vorzustoßen. Das hat er ganz alleine getan, und hier – nicht in irgendwelchen Lehren oder Dogmen – liegt das Fundament buddhistischer Praxis.
Der Buddha tat nichts anderes als das, was auch wir hier und jetzt tun können: uns selbst auf den Grund gehen. Ihr spürt doch, dass ihr ein Selbst besitzt, nicht wahr? Dann habt ihr schon mehr als genug. Geht eurem Selbst nur ein einziges Mal wirklich auf den Grund! Wenn ihr wisst, wer ihr wirklich seid, könnt ihr das lebendig werden lassen. Denn in gewissem Sinne ist es mindestens genauso wichtig wie das Erwachen selbst, diese Erfahrung in jedem Aspekt unseres Lebens zu verwirklichen.
Eins mit jedem Atemzug
Wie gelingt uns das praktisch? Ein ganz natürlicher Einstieg ist die Konzentration auf den Atem. Körper und Geist auf diese Weise in Einklang zu bringen, ist eine schlichte, einfache Methode. Normalerweise sind wir uns dessen nicht bewusst, dass wir atmen. Doch in vielen Meditationstechniken geht es darum, sich auf den Atem zu konzentrieren und ihn achtsam wahrzunehmen. Versucht es! Das braucht Zeit, Geduld und Entschlossenheit. Aber wenn ihr dabei bleibt, wird die Übung schließlich beständig sein. Sie muss dann nicht mehr bewusst begonnen und aufrechterhalten werden und wird auch nicht auf die Zeit der Meditation beschränkt bleiben.
In der modernen Zen-Praxis wird anfangs oft geraten, beim Ausatmen zu zählen. Es gibt zwei Methoden dieser Atemmeditation. Bei der einen wird jedes Ausatmen gezählt. Man beginnt mit »eins«, beim nächsten Ausatmen zählt man »zwei«, und so geht es weiter bis »zehn«. Ist man bei zehn angekommen, kehrt man zur Eins zurück und fängt mit dem Zählen von vorne an. Merkt man, dass man gedanklich abgeschweift ist, beginnt man einfach wieder mit »eins«.
Bei der anderen Methode seid ihr bei jedem Ausatmen einfach: »Eiiiins«. Zuerst könnt ihr euch die Zahl bildlich vorstellen oder lautlos formulieren, um die Konzentration aufrechtzuerhalten. Irgendwann jedoch sollten kein Bild und keine Spur mehr davon übrig bleiben, nur dieses »Eiiiins«, das sich selbst atmet, sodass aus dem Sein im Atmen ein umfassender Zustand des Eins-Seins entsteht.
Ihr werdet feststellen, dass dieser Zustand sich auch dann ergibt, während ihr euch mit den unterschiedlichsten Dingen beschäftigt. Wenn ihr euch schlafen legt, lasst dieses »Eins« ganz sanft unterhalb eures Nabels einsinken. Irgendwann merkt ihr, dass ihr es nicht wieder wecken müsst, sobald ihr aufwacht. Es wird schon da sein, bevor ein einziger Gedanke entsteht.Beide Methoden haben ihre Vor- und Nachteile. Von eins bis zehn zu zählen, kann die Vorstellung entstehen lassen, dass man irgendetwas erreichen will, also zu einem Ziel unterwegs ist. Das kann die Übung beeinträchtigen. Die Alternative ist, mit jedem Ausatmen einfach eins zu sein. So braucht man sich nicht darum zu kümmern, zur Zehn zu gelangen.
Es könnte sich jedoch herausstellen, dass die Praxis an Schärfe verliert, wenn man sich ständig nur auf »eins« konzentriert. Dann wirkt das Eins-Sein womöglich ein wenig verschwommen und verträumt. Wenn dies geschieht, zählt man besser von eins bis zehn; das kann dabei helfen, konzentriert und wach zu bleiben.
Beide Methoden haben ihren Wert. Hier im Westen reicht es meiner Meinung nach jedoch im Allgemeinen aus, einfach zu atmen und eins zu sein, solange die Übung nicht unscharf und schal wird. Experimentiert eine Zeit lang, seid geduldig und findet heraus, was für euch passt. Vielleicht ist es ja manchmal am sinnvollsten, von eins bis zehn zu zählen, und manchmal ist es besser, einfach eins zu sein.
Einfache Übung, schwieriger Geist
Anfangs benutzen wir für den Versuch, eins zu sein, unwillkürlich unseren rastlosen, suchenden Geist. Dadurch erscheint uns etwas, das im Grunde ganz einfach ist, schwierig oder sogar unmöglich. Hier ist Vorsicht geboten, denn viele sind beim Zazen schon auf diese anfängliche Schwierigkeit gestoßen und haben frustriert aufgegeben. Sie sind dem Trugschluss erlegen, so eine Praxis sei zu schwierig für sie. Aber wo genau liegt diese Schwierigkeit?
Die Studenten an der japanischen Universität, an der ich unterrichte, stehen vor demselben Problem. Wenn ich einige Minuten mit ihnen Zazen gesessen habe, frage ich sie, wie es ihnen mit dem Eins-Sein ergangen ist. Fast einhellig erklären sie dann, es sei schwierig oder gar unmöglich gewesen. Dann frage ich sie, ob sie denn gleichzeitig Fahrrad fahren, ihren Regenschirm halten und in ihr Handy sprechen können. So sieht man sie nämlich oft auf Kyotos Straßen. Das ist kein Problem für sie. Trotzdem kommt es ihnen fast unmöglich vor, ein paar Momente eins mit dem Atem zu sein. Daher noch einmal: Wo genau liegt die Schwierigkeit?
Versucht es, dann werdet ihr es selbst merken: Die Schwierigkeit liegt nicht im Zazen, sie liegt in unserem Geist. Der Geist, besonders der moderne Geist, ist überaus komplex, zersplittert und zerstreut. Wir haben praktisch vergessen, wie man einfach eins sein kann. Dabei verlange ich von euch und meinen japanischen Studenten nichts, was besonders schwierig wäre, ganz im Gegenteil! Nur weil es so einfach ist, kommt es euch so schwierig vor. Gebt euch eine Weile ganz der Übung hin, dann werdet ihr es selbst erkennen. Man braucht Zeit und Disziplin, um sie zu meistern, aber das bedeutet nicht, dass ihr etwas falsch macht oder nicht für Zazen geeignet seid. Kehrt einfach geduldig zum Eins-Sein zurück und übt weiter. Ihr habt euer ganzes bisheriges Leben darauf verwendet, den Geist zu zersplittern und zu zerstreuen. Lohnt es sich da nicht, ein wenig Zeit zu investieren, um ihn wieder eins werden zu lassen?
Mit Gedanken umgehen
Wenn ihr gerade erst anfangt, Zazen zu üben, lasst euch nicht entmutigen. Bei den ersten Versuchen werdet ihr vielleicht feststellen, dass sogar noch mehr Gedanken aufkommen als sonst! Das kann sehr frustrierend sein. Manche Meditationslehrer erklären diese Erfahrung so, dass in Wirklichkeit nicht mehr Gedanken auftauchen, sondern dass wir lediglich solche, die immer schon da sind und am Rande unseres Bewusstseins schweben, nun endlich wahrnehmen. Das könnte stimmen, aber es könnte auch sein, dass gerade der Versuch, eins zu sein, zusätzliche Gedanken erzeugt. Anders gesagt: Die Anstrengung, die wir unternehmen, verursacht weitere Hindernisse. Warum? Weil wir es nicht gewohnt sind, einfach eins zu sein. Normalerweise richten wir unsere Aufmerksamkeit auf zwei, drei oder mehr Dinge gleichzeitig. Deshalb finden wir es anfangs unmöglich, einfach eins zu sein.
Macht kein Problem daraus, fahrt einfach geduldig und entschlossen mit der Übung fort. Lasst zu, dass sich die Wahrnehmung Schritt für Schritt sammelt und fokussiert. Wenn sich Gedanken, Bilder oder Gefühle melden, müsst ihr nicht dagegen ankämpfen – das hieße nur, noch mehr Gedanken zu produzieren. Eine Methode besteht darin, alles, was an die Oberfläche kommt, einfach...