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Froschmänner am Strand von Aden?
Berlin-Neukölln, März 2015, circa 23.00 Uhr. Ich weiß, dass ich langsam schlafen gehen sollte, schließlich werde ich morgen wieder früh rausmüssen. Aber noch kann ich mich nicht vom PC losreißen; gerade habe ich bei meinen Recherchen eine englischsprachige arabische Nachrichtenseite gefunden, die berichtet, in Aden (Jemen) seien gestern Kampftaucher, sogenannte Froschmänner, von Booten aus an Land gegangen. Saudische Truppen? Amerikanische? Egal, wenn die Meldung stimmt und bestätigt wird, würde sie eine der Fragen auf unserem Prognosemarkt triggern.
Seit Monaten wägen wir die Frage: »Werden Bodentruppen einer nichtjemenitischen nationalen regulären Streitkraft (also keine Guerillaeinheiten) vor dem 30. Juni 2015 im jemenitischen Bürgerkrieg aktiv eingreifen?« ab und aktualisieren unsere Einschätzungen; nun müssen wir innerhalb sehr kurzer Zeit entscheiden, wie wir diese neue Information in unseren Prognosen berücksichtigen. Einmal könnte der gemeldete Vorfall bereits seinerseits die fragliche Intervention darstellen; zum anderen könnte die Meldung einen Hinweis auf spätere, größere Militäraktionen geben. Aber zunächst muss entschieden werden, ob sie überhaupt stimmt.
Ich denke nach: Die Seite, die die Sichtung der Froschmänner meldet, kenne ich nicht, aber sie erscheint hochprofessionell. In einem Konflikt wie diesem sagt das jedoch nicht viel: Das erste Opfer des Krieges ist bekanntlich immer die Wahrheit; alle Seiten streuen Desinformation. Dagegen sind professionelle Medienleute genauso wenig gefeit wie obskure Blogger. Doch absurd erscheint die Meldung auch keineswegs. Der Konflikt eskaliert gerade, die vom Iran unterstützten Milizen der Huthis sind auf dem Vormarsch, ein verstärktes Eingreifen der Saudis, die bisher nur aus der Luft ihre Verbündeten unterstützen, erscheint nur folgerichtig.
Andererseits: Wollen die Saudis in einen verlustreichen Guerillakrieg gezogen werden? Wohl kaum, deshalb war ich bisher auch so skeptisch bei dieser Frage. Das saudische Königshaus steht unter großem Druck, der kürzlich stark gefallene Ölpreis bedroht nicht nur die unmittelbare ökonomische Situation, sondern langfristig die gesamte Grundstruktur des Staates. Doch wer weiß, in solchen Krisensituationen können Staaten auch besonders aggressiv werden und ihr Heil in der Offensive suchen. Und vielleicht handelt es sich um eine begrenzte Kommandoaktion, Aufklärung, Koordination von Luftschlägen …
Dass die Meldung unter Umständen nicht der Wahrheit entspricht, ist eine Sache. Doch selbst wenn sie korrekt ist, könnte die Beweislage nicht ausreichen, um die Frage als klar entschieden zu werten. Üblicherweise ist dafür eine Meldung in klar definierten Referenzmedien wie The Economist, BBC oder New York Times erforderlich. Und wenn der Einsatz weder offiziell bestätigt wird noch die Vorhut einer großen, dann nicht mehr zu leugnenden Bodenoffensive darstellt, könnte die Frage weiter als offen gelten.
Was ist mit den Amerikanern? Könnten sie hinter einer Aktion stecken? Denkbar, aber wenig plausibel. Obama hat wirklich kein Interesse an einem weiteren Krieg und arbeitet immer noch an einem Abkommen mit dem Iran. Eine Eskalation an dieser Front dürfte ungelegen kommen. Amerikaner schließe ich aus. Es bleiben die Saudis.
Was sagen meine Kollegen? Das Diskussionsforum zu dieser Frage ist äußerst lebhaft, täglich werden neue Ereignisse diskutiert. Ich kenne viele der Diskutanten inzwischen persönlich, andere nur von der Online-Zusammenarbeit, aber ich habe einen Heidenrespekt vor der hier versammelten Brainpower. Doch manchmal hilft diese nicht weiter; die Frage bleibt offen, die Argumente für beide Seiten sind einfach gleichermaßen plausibel. In solchen Situationen bleibt der Preis eben nahe der 50-Prozent-Marke. Theoretisch sollte ich mit meinem fachlichen Hintergrund als Islamwissenschaftler sogar Experte für diese Ecke der Welt sein, aber wenn ich eins gelernt habe, dann, dass Bücherwissen über Länder, Regionen und Akteure in der Vorhersage selten viel bringt. Das ist ja der Ausgangspunkt unserer ganzen Arbeit, die Einsicht, dass Experten oft genug genauso wenig wissen wie jeder andere.
Ich entscheide mich schließlich für das Risiko und kaufe 200 Anteile, für fast ein Viertel meines aktiven Kapitals. Ich bin nicht der Einzige, zeitweise steigt der Preis der »Aktie« auf über 80 Dollar (fiktive Währungseinheit), was eine 80-prozentige Eintrittswahrscheinlichkeit des Ereignisses impliziert. In dieser Zahl stecken verschiedene Teilwahrscheinlichkeiten. Einmal, dass die jüngste Meldung selbst korrekt ist und die Frage als entschieden gewertet wird, doch auch wenn dies nicht der Fall ist, bleiben ja immer noch circa drei Monate Zeit, in denen eine Intervention geschehen könnte.
Doch kurz darauf setzt eine Gegenbewegung ein, eine große Zahl anderer Superforecaster ist nicht überzeugt.
Die hier beschriebene Art der Arbeit ist für mich eigentlich ungewohnt. Normalerweise ist unsere Arbeit eher langfristig orientiert; wir diskutieren Fragen wie diese sonst in Teams von etwa 15 Forecastern, hitzig, aber stets zivilisiert, und geben dann unsere Einschätzungen ab, die wir meist nur langsam anpassen. Aber für dieses Jahr haben sich die Gurus in Philadelphia etwas Neues einfallen lassen, den »Supermarkt«. Wir sollen auf einem prediction market Anteile handeln, die Ereignisse darstellen; der Preis gibt die implizite Wahrscheinlichkeit des Ereignisses an. Theoretisch handelt es sich dabei um einen noch effektiveren Weg, kollektive Intelligenz zu bündeln und individuelle Vorhersagen zu aggregieren.
Im Nachhinein wird sich meine Wette auf die saudischen Froschmänner als einer der größten Fehler meiner Forecasterlaufbahn herausstellen. Die Meldung bleibt allein, verschwindet im Rauschen der weltweiten Medien, es folgen keine weiteren Einsätze. Waren an diesem Tag Kampftaucher am Strand von Aden? Wir werden es aller Voraussicht nach nie erfahren. Manchmal ist nicht nur die Zukunft, sondern auch die Vergangenheit unbekannt.
Ich verliere viel (fiktives) Geld, kann diese Verluste aber im Laufe des Jahres ausgleichen, unter anderem mit soliden Prognosen zum schottischen Unabhängigkeitsreferendum und zur Ausdehnung des Packeises in der Arktis. Am Ende des Jahres steht meine Performance im oberen Mittelfeld der Superforecaster. Das ist, in Anbetracht der Konkurrenz, immer noch etwas, das mich mit großem Stolz erfüllt.
Aber wie bin ich zu alldem gekommen? Warum verbringe ich im vierten Jahr täglich Stunden damit, Fragen nach nordkoreanischen Atomtests, dem Zerfall der Eurozone, Flüchtlingszahlen im Mittelmeer oder eben Bodentruppen im Jemen zu beantworten und dafür Geld (echtes, wenn auch nicht viel) von amerikanischen Informationsdiensten zu bekommen? Warum bin ich Teil einer Gruppe von Menschen, sogenannten Superforecastern, die das scheinbar besser können als die Mitarbeiter ebenjener Dienste selbst? Und was können wir aus alldem lernen, wenn es darum geht, Entscheidungen in unserem Leben zu treffen?
Alles begann knapp vier Jahre zuvor, im Sommer 2011, als mein Freund Mike, ein Soziologiedoktorand aus Chicago, einen Link auf Facebook postete: Freiwillige gesucht, um geopolitische Entwicklungen vorherzusagen. Als ich mich registriere, ahne ich noch nichts davon, wie dieses obskure Nerdhobby mein Leben verändern wird, was ich für unerwartete Fähigkeiten an mir selbst entdecken oder was für faszinierende Menschen ich darüber kennenlernen werde; all das habe ich also nicht korrekt vorausgesagt.
Diese Grundspannung zwischen kleinen Fortschritten in der Vorhersage und dem endlosen Meer des weiterhin nicht Vorhersagbaren ist das zentrale Thema dieses Buches. Nach vielen Umwegen bildet die Vorhersage heute meinen Hauptberuf, was ich mir lange Zeit nicht einmal im Traum ausgemalt hätte. Große Konzerne ebenso wie Regierungsstellen bezahlen inzwischen für die kollektiven Einschätzungen meiner Kollegen und mir über die Zukunft, ob zu sicherheitspolitischen Fragen oder zur Entwicklung der Rohstoffpreise im nächsten Jahr.
Aber wahrscheinlich muss ich noch weiter zurückgehen als sieben Jahre. Versuche, die Zukunft vorherzusagen, sind wohl so alt wie die Menschheit selbst. Ähnlich lang ist die Geschichte des oft spektakulären Scheiterns dieser Versuche – Hellsicht ist keine Gabe der Menschen, die Zukunft bleibt in aller Regel im Dunkeln. Selbst die Explosion wissenschaftlichen Wissens in den letzten Jahrhunderten hat daran nur wenig geändert, mit Ausnahme einiger Gebiete.
Auch um diese mehr als 2000 Jahre alte Geschichte der Vorhersage soll es in diesem Buch gehen, um die zahlreichen Misserfolge ebenso wie die raren Erfolge und Fortschritte, zu denen ich auch »unser« Projekt, das Good Judgment Project, zähle. Geboren wurde es aus besonders folgenschweren Fehlern der Vorhersage, begangen von amerikanischen Nachrichtendiensten in den letzten 20 Jahren. Aus einer historisch äußerst unwahrscheinlichen Konstellation wurde der Versuch geboren, Laien wie mir die Chance zu geben, die Art von Ereignissen vorherzusagen, die sonst Nachrichtendienste beschäftigen. Das Ergebnis überraschte viele, fast alle, Beobachter: Die Laien waren oft besser als die Profis, und das ganz ohne Zugang zu geheimen Informationen. Vor allem aber zeigte sich, dass es eben Menschen gibt, die darin scheinbar noch einmal entscheidend besser als andere sind: die sogenannten Superforecaster, in deren erlauchten Kreis auch ich nach zwei Jahren der intensiven Mitarbeit aufgenommen wurde.
Die Superforecaster sind natürlich keine Seher, keine Medien oder Precogs, sondern einfach Individuen mit einer relativ seltenen Kombination...