Das politische Klima in Deutschland hat sich seit einigen Jahren verschlechtert. Immer deutlicher und zahlreicher artikulieren Menschen ein grundsätzliches Misstrauen gegenüber der etablierten Politik und den Qualitätsmedien. Dieser Prozess ist durch die Entstehung der AfD im Jahre 2013 und ihre seit dem Frühjahr 2015 immer rasanter verlaufende Radikalisierung beschleunigt worden. Mit dieser Partei, die bis heute von ihrem aus der Anfangszeit resultierenden bürgerlichen Anstrich profitiert, verfügt das rechte Denkmilieu erstmalig in der Geschichte der Bundesrepublik über einen relevanten politischen Arm. Allen zuvor gegründeten Parteien mit einer Ausrichtung rechts der CDU/CSU, wie sie etwa die »Republikaner« oder der »Bund freier Bürger« hatten, gelang es nicht, sich dauerhaft zu etablieren.
Die im Herbst 2014 ins Leben gerufene Pegida-Bewegung, deren Name ein Akronym für die Eigentitulierung als »Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes« ist, brachte den Protest von rechten Wutbürgern in Dresden mit zeitweise bis zu 25000 Teilnehmern auf die Straße. »Volksverräter« und »Lügenpresse« lauteten die bekanntesten Schlachtrufe. Zwar gelang es den Pegidisten nicht, den Protest in signifikantem Ausmaß bundesweit in die Innenstädte zu tragen, jedoch erfreuen sie sich bis heute in bestimmten Milieus auch weit über Sachsen hinaus großer Sympathie.
Wie eingangs erwähnt, hat sich ausgerechnet ein Teil des konservativ-christlichen Milieus als sehr bereit erwiesen, rechtes Gedankengut zu übernehmen. Die typischen Punkte, an denen dies deutlich wird, sind neben der Haltung zur AfD und der Pegida-Bewegung die Einstellung gegenüber Autoren wie Thilo Sarrazin und Akif Pirinçci. Gleiches gilt für die Positionen, die man zu Gender-Themen, zum Islam und der Flüchtlingspolitik unter Bundeskanzlerin Angela Merkel vertritt.
Die Existenz einer solchen Bruchlinie ist keineswegs ein Umstand, der nur kritischen Beobachtern der rechtskonservativen Szene auffällt. Vielmehr lud der in diesen Kreisen beliebte Publizist Michael Klonovsky – selbst kein Christ – bereits im Dezember 2014 auf seinem Blog acta diurna einen Eintrag hoch, den das rechtslibertäre Magazin eigentümlich frei kurz darauf unter dem Titel »Pegida gießt den Tea zur Party – Die Fronten müssen völlig neu gezogen werden« zweitverwertete. Zu lesen war dort wörtlich:
»Es wird in den nächsten Jahren eine Spaltung dieses Landes in zwei Lager stattfinden, wie sie in den USA bereits weitgehend vollzogen ist. Die Bruchlinien sind mit Namen wie Sarrazin, Pirinçci, AfD und Pegida markiert, desgleichen gehören die Petitionsbetreiber gegen die Schulsexualisierung in bald vielen Bundesländern dazu, vielleicht auch die Maskulinisten, ein paar HoGeSa-Leute (Hooligans gegen Salafisten) und die Handvoll deutsche Libertäre. (…) Ich für meinen Teil werde wenig mit dieser Bewegung zu tun haben, aber ein gewisses Maß an Verständnis für sie hegen, denn mir fällt kein Argument ein, warum diejenigen, so da seit Jahren für das humanitaristische Theater blechen und sich gleichzeitig von den Lautsprechern des Zeitgeistes als dumpfdeutsche Mitte-Extremisten schmähen lassen müssen (in den Öffentlich-Rechtlichen sogar auf eigene Kosten), sich nicht endlich einmal spürbar gegen diese Plage zur Wehr setzen sollten.«[5]
Der katholische Publizist Andreas Püttmann erkannte rasch das Sprengpotenzial dieser Äußerung und kommentierte im Februar 2015 in der ZEIT-Beilage Christ & Welt, dass das, »was der konfessionslose Klonovsky als ›humanitaristisches Theater‹ schmäht, durch manche Verzerrung hindurch, mit unserer christlichen Prägung zu tun habe«.[6] Und folgerte daraus: »Ein entchristlichter Konservativismus ist zu fürchten. Ihm fehlt es an Solidarität mit den Fremden, Gestrauchelten, irgendwie Andersartigen, die als Störer des Herkömmlichen wahrgenommen werden. Er will dagegen seine Interessen und Ordnungsvorstellungen durchsetzen und das Individuum, in welchem er nicht das Bild Gottes zu erblicken vermag, autoritär einem möglichst homogenen Kollektiv unterordnen – in der Regel dem auf ›gesunden Familien‹ aufbauenden Volk deutscher Nation.«
Spätestens seit der ab dem Sommer 2015 einsetzenden Flüchtlingskrise zeigte sich, wie richtig Püttmann mit dieser Wertung lag. Von Nächstenliebe und Empathie gegenüber den Geflüchteten war in den rechtschristlichen Kreisen wenig zu sehen, von Ressentiments dafür umso mehr. Wobei man bei Püttmanns Äußerung anmerken muss, dass das »Christliche« kein zwingendes Merkmal des Konservativismus bundesrepublikanischer Provenienz in seiner heutigen Form ist, auch wenn bei dessen Herausbildung in den 1950er-Jahren, wie die Historikerin Martina Steber in ihrem detailreichen, klugen Buch Die Hüter der Begriffe hervorhebt, »das Christliche sich im Diskurs der 1950er-Jahre immer deutlicher als Essenz« dieses Konservativismus »herauskristallisierte«.[7] Vorstellungen von Recht und Ordnung gehören bis heute ebenfalls dazu, sind aber klar von rechtsautoritären Idealen wie demjenigen einer möglichst ethnisch-kulturell homogenen Gesellschaft zu unterscheiden.
Wer Letzterem anhängt, hat oftmals ein revolutionäres Verständnis vom Konservativen, das dem bundesrepublikanischen Konservativismus diametral entgegensteht. Statt Westbindung mit transatlantischer Freundschaft zu USA und NATO träumen manche von einer »Eurasischen Union« unter der Führung von Putins Russland, statt der Europäischen Einigung in Form der EU fordert man eine Rückkehr zum Nationalen, und anstelle einer vom Individuum her denkenden liberalen Politik favorisiert man eine illiberalere, autoritäre Gesellschaftsordnung, in der jeder seinen festen Platz hat. Bis heute gilt der Spruch »Dinge zu schaffen, die zu erhalten sich lohnt« vielen als Mantra. Er geht auf Arthur Moeller van den Bruck zurück, einen der wichtigsten Protagonisten der antiliberalen Vordenker der Weimarer Republik. Gemeint ist damit, dass das, für dessen Erhalt man streiten möchte, erst noch (wieder)hergestellt werden müsse.
Wie verbreitet ein solches Denken längst auch in Teilen des frommen christlichen Milieus ist, beschrieb ebenfalls bereits Püttmann im Februar 2015. Dabei identifizierte er mit dem Jahr 2013 überdies den Zeitpunkt, ab dem diese Entwicklung so richtig in Schwung kam:
»In einem Zeitraum von kaum zwei Jahren schieden sich die Geister in eine moderat-konservative und eine radikal-rechtskonservative Strömung, in welcher vordemokratische und vorkonziliare Denkmuster – ›Keine Freiheit für den Irrtum!‹ – aufscheinen. Sie ähneln ideologisch der russischen Orthodoxie und der ›konservativen Revolution‹ der Weimarer Zeit: Völkisch, nationalistisch, antiliberal-ordnungsfixiert, parteien- und medienverdrossen, antiwestlich (speziell anti-amerikanisch), von Ressentiments gegen Minderheiten und von Untergangsfantasien erfüllt, eine ›Identität‹ von Religion, Kultur und Nation, Regierung und Volk erstrebend.«
Fragt man sich, warum die Spaltung des vormals recht geschlossenen konservativ-christlichen Milieus ausgerechnet ab dem Jahr 2013 so manifest wurde, spielen im katholischen Bereich neben der Gründung der AfD in ebendiesem Jahr die Affäre um den damaligen Limburger Bischof Franz-Peter Tebartz-van Elst sowie der Beginn des Pontifikats von Papst Franziskus eine entscheidende Rolle.
Die Causa Tebartz-van Elst verstärkte die zu jener Zeit ohnehin bereits auffällige Opferhaltung und Wagenburgmentalität in einem Teil des konservativen katholischen Milieus. Wer dazu zählte, empfand sich in seinen gesellschaftlichen und politischen Ansichten als zunehmend marginalisiert, etwa durch die Einführung der Eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare, das für zu liberal gehaltene Abtreibungsrecht, die Abschaffung der Wehrpflicht und die, wenn auch eingeschränkte, Zulassung embryonaler Stammzellenforschung. Gleiches galt hinsichtlich der Euro-Rettungsmaßnahmen, der Energiewende sowie der Entwicklung Deutschlands hin zu einem religiös und ethnisch vielfältigen Land.
Hinzu kam die Verärgerung über eine in zweiter Ehe verheiratete protestantische Bundeskanzlerin, welche die CDU in die Mitte rückte und deren konservativen Parteiflügel inhaltlich wie personell nahezu lahmlegte. Mit Christian Wulff einen zwar katholischen, aber ebenfalls geschiedenen und in zweiter Ehe verheirateten CDU-Politiker als Bundespräsidenten zu haben, der überdies fand, dass der Islam zu Deutschland gehöre, machte es nicht besser. Desgleichen stieß Wulffs Nachfolger Joachim Gauck als ein nicht nur von seiner Frau getrennt lebender früherer evangelischer Pastor, sondern überdies seine Lebensgefährtin zur First Lady machender Mann nicht gerade auf Begeisterung.
Im evangelikalen Milieu sah man das erwartungsgemäß ganz ähnlich. Helmut Matthies, Chefredakteur des evangelikalen Wochenmagazins idea Spektrum, schrieb im Juli 2013 unter dem Titel »Nach welchen Werten leben wir« mit dröhnendem Unterton: »Der Kölner Kardinal Joachim Meisner legte sich 1991 mit Kanzler Helmut Kohl an, als er Angela Merkel ins Kabinett holte. Der Grund: Sie lebte damals noch in wilder Ehe. Nur 21 Jahre später – vor Weihnachten 2012 – ging ein Bild durch die Medien, das den totalen Wandel illustriert: Vor dem Brandenburger Tor stehen der verheiratete...