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Der Weg des geringsten Widerstands

Ein Wanderbuch

AutorFlorian Werner
VerlagNagel & Kimche
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783312011049
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR

Wo kommen wir hin, wenn wir kein Ziel haben? Im Sommer 2017 begibt sich Florian Werner alleine auf Wanderschaft. Im Gepäck ein Zelt, ein Schlafsack, keine Landkarte, dafür Mut und Humor - und der Vorsatz, stets den Weg des geringsten Widerstands zu gehen: Wenn der rechte Weg bergauf führt, geht der Wanderer nach links. Wenn der Wind von Westen weht, geht er nach Osten. Auf seiner Reise durch Deutschland trifft Werner allerhand kuriose Zeitgenossen. Er wird von Kühen verfolgt, von Zecken ausgesaugt und beim Zelten fast überfahren. Er meditiert über Kartographie, Ziellosigkeit und die Philosophie des Wanderns. Und er stellt fest: Der Weg des geringsten Widerstands birgt ganz eigene Abenteuer.

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Leseprobe

 

 

1

 

Was ich am ersten Tag auf dem Weg des geringsten Widerstands gelernt habe

 

1.

Der Weg des geringsten Widerstands ist nicht unbedingt auch der kürzeste.

 

2.

Im Gegenteil.

 

3.

Der Fotoautomat neben dem Kater Blau eignet sich bei Gewitter hervorragend zum Biwakieren.

 

4.

Ein Flaneur trägt keinen Rucksack.

 

5.

Im Zweifelsfall immer dem Wasser nach.

 

6.

Flussüberquerungen sind ein Problem.

 

 

Die ersten Meter sind einfach: zur Wohnungstür hinaus, nach rechts, tripp trapp die Trepp hinab, vier Stockwerke, insgesamt dreiundneunzig Stufen, und dann mit dem Schwung vom letzten Absatz zum Haus hinaus. Vorbei an den Briefkästen, unbesehen – warum sollte ich auch nach der Post schauen, wenn ich ohnehin in den kommenden Wochen nicht dazukommen werde, sie zu beantworten, «ich kann keine Adresse zur Antwort geben», schrieb schon Arthur Rimbaud, «weil ich selbst nicht weiß, wo ich mich demnächst befinden werde und auf welchen Straßen ich dahin gelangen werde, und wo und warum und wie!» Genau.

Aber schon vor der Haustür halte ich inne. Mein Nachbar behauptete am Vortag, unser Haus stehe auf einer Wasserscheide, wir wohnten exakt auf dem Gipfel des Prenzlauer Bergs, nach rechts gehe es bergab nach Weißensee, nach links bergab zum Alexanderplatz (geradeaus ist keine Option, dort verläuft eine vierspurige Straße plus Schienenverkehr). Ich schließe die Augen, konzentriere mich auf das Vestibularorgan in meinem Innenohr – das Gefälle ist in beiden Richtungen kaum der Rede wert, aber mein Gleichgewichtssinn sagt: Die Neigung nach links ist ein wenig stärker.

Also nichts wie weiter, hinab ins Berliner Urstromtal. Der Fernsehturm reckt sich wie ein gigantischer Betonpoller in den Himmel, seine Spitze steckt in griesgrauen Wolken. An der ersten Straßenecke wende ich mich wieder nach links, eine minimale Neigung des Trottoirs gibt den Ausschlag. Ich habe mir heute Morgen in Vorbereitung der Wanderung die Füße pedikürt, die Zehennägel geschnitten und gefeilt, die Hornhaut von Ferse und Ballen geraspelt, zuerst mit der groben Körnung, dann mit dem Feinsandpapier: zum einen wegen des Gehkomforts, vor allem aber für verbesserte Oberflächensensibilität. Keine noch so geringe Unebenheit des Weges soll mir entgehen.

Erstaunliche Erkenntnis: Der Weg ist nicht nur abschüssig, fällt also in Gehrichtung nach vorn ab – er ist auch sachte seitwärts, zur Straße hin geneigt. Eigentlich logisch, korrigiere ich mich: So kann das Regenwasser vom Gehweg zum Rinnstein hin ablaufen. Erstaunlich ist eher die Tatsache, dass mir dieser Neigungswinkel, obwohl ich diesen Weg schon geschätzte zehntausendmal gegangen bin, noch nie zuvor aufgefallen ist.

Vor mir geht eine Frau mittleren Alters, über der Schulter ein Leinenbeutel, er ist mit dem Jugendwort des Jahres 2014 beschriftet: «Läuft bei dir.» Genau, denke ich: Ich gehe, wandere, laufe – noch nie fand ich den Ausdruck passender als heute. Ich spiele kurz mit dem Gedanken, der Frau und ihrem Beutel zu folgen, mir von ihr und diesem Slogan für die folgenden Minuten oder gar Stunden die Richtung vorgeben zu lassen – so wie der amerikanische Installationskünstler Vito Acconci, der 1969 im Rahmen seiner Performance Following Piece einen Monat lang wahllos fremde Fußgänger verfolgte, bis diese einen ihm nicht zugänglichen Ort betraten: I keep following until that person enters a private place (home office etc.) where I can’t get in … Aber erstens würde dieses Prinzip vermutlich in kürzester Zeit mit meinen Regeln für den WdgW kollidieren. Zweitens erscheint mir ein solches Verfolgungsverhalten, gerade für einen Mann, heutzutage anstößig und riskant. Und drittens geht die Frau für meine beschwingte Schrittlänge einfach zu langsam.

Ich überhole sie, gehe zügig weiter in Richtung der nächsten Magistrale, der Greifswalder Straße. Meine größte Befürchtung: Ich könnte in meiner Aufbruchstimmung und meinem arg rustikalen Outfit (Wanderstiefel, Funktionskleidung, Zelt und Isomatte am 80-Liter-Tornister) einem Bekannten begegnen und ihm meine Maskerade erklären müssen. Meine allergrößte Befürchtung: Ich könnte meinem zweijährigen Sohn begegnen, den ich vor wenigen Stunden tränenreich verabschiedet habe und der gerade mit seiner Kitagruppe auf dem Weg zum Spielplatz oder Park ist – der WdgW führt geradewegs auf seine Kindertagesstätte zu. Wahrscheinlich würde ich sofort den Tornister fallen lassen, meinen Sohn schultern und zurück nach Hause laufen.

Wenige Schritte später, ich habe inzwischen die Greifswalder Straße erreicht, sehe ich ein Schild in einem Schaufenster: «Sie nehmen Abschied, wir kümmern uns um den Rest.» Ich bereue es kurz, für die emotionale Bredouille meines Aufbruchs nicht die Dienste dieses Fachgeschäfts in Anspruch genommen zu haben – da sehe ich, dass es sich um ein Bestattungsunternehmen handelt.

An einem Bankautomaten, der mir am Wegesrand seinen Scheinschlitz entgegenstreckt, hebe ich noch eine stille Bargeldreserve ab. Arroganz des Hauptstadtbewohners: die Sorge, außerhalb Berlins an keinem Geldautomaten mehr vorbeizukommen und nirgendwo mit Karte bezahlen zu können. Dabei wird es mutmaßlich noch Tage dauern, bis ich die Stadtgrenzen passiere. Ich deponiere die Scheine im wasserfesten Innenfach meines Rucksacks und stelle erfreut fest, dass ich liquider bin als angenommen: Aus irgendeiner mir nicht präsenten Quelle (ein lange säumiger Schuldner? Ein Reisezuschuss aus der schwarzen Kasse meines Verlags?) muss am Wochenende Phynanz auf mein Konto geflossen sein. Ich rechne nach und stelle fest, dass ich mit geschicktem Verhandeln und gewissenloser Ausschöpfung meines Dispokredits statt zu Wandern vermutlich auch mit dem nächsten Taxi in die Toskana fahren könnte. Oder mich in dem schicken Hotelneubau auf der anderen Straßenseite einquartieren und die kommenden drei Wochen zwischen Wellnessbuffet und Whirlpool verbringen. Oder …

Ich versetze mir zur Maßregelung ein paar Schläge mit dem Teleskopwanderstock gegen den Hinterkopf, verjage die blasphemischen Gedanken. Der WdgW ruft.

 

Kurz vor dem Alexanderplatz kreuzt die Karl-Marx-Allee (ehemals Stalinallee) meinen Weg – eine wie auch immer geartete Straßenneigung ist beim besten Willen nicht mehr auszumachen: Offenbar habe ich hier, an dem großen, nach Osten führenden Prachtboulevard den tiefsten Punkt des Warschau-Berliner Urstromtals erreicht. § 3 Abs. 2 WdgW («Wenn der rechte Weg bergauf führt, gehe nach links») ist damit erst einmal obsolet, ich orientiere mich an minimalen Unebenheiten der Gehwegplatten, aber auch an meinem eigenen Bedürfnis nach Abgeschiedenheit und Ruhe und schlage mich am Haus der Gesundheit, das als einziges Vorkriegsgebäude den Bau der Stalinallee überlebt hat und deshalb in merkwürdig schrägem Winkel zum Straßenverlauf steht, abseits in die Büsche.

Oder besser: in das Dickicht der Plattenbauten. Mehr als 30 000 Menschen leben in diesem Kiez, und ich stelle nach kurzem Überlegen fest: Ich kenne keinen Einzigen von ihnen. Streng genommen kenne ich die ganze Gegend nicht, obwohl ich ein leidenschaftlicher Radfahrer und Spaziergänger bin und vor obskuren Abzweigungen, Abschweifungen und Umwegen sonst nicht zurückschrecke. «Ein ganz und gar neuer Ausblick ist eine große Freude», schreibt der amerikanische Wanderphilosoph Henry David Thoreau in seinem Essay «Vom Wandern», «und ich kann sie jeden Nachmittag erlangen. Ein Spaziergang von zwei oder drei Stunden führt mich in ein Land, das mir so fremd ist, wie es nur irgend sein kann.» Ich stelle perplex fest: Wofür Thoreau im ländlichen Massachusetts zwei bis drei Stunden brauchte, habe ich bereits in dreißig Minuten geschafft. Ich befinde mich in der völligen Fremde.

Auf einem überraschend ruhigen Platz hinter der Plattenbauriege begegne ich der bildschönen Bronzeplastik eines Feldhasen: lebensgroß, die Lauscher neugierig aufgerichtet, die Hinterläufe zum Sprung bereit. Ich werte das als gutes Omen (was könnte es für einen Wanderer Ermutigenderes geben als die Statue eines notorischen Läufers?), wie überhaupt mein Weg bisher ausnehmend glatt verläuft. Ich habe meinen Sohn nicht getroffen, habe Geld im Kontor und hatte bisher wie von Zauberhand eine Grünphase: Jede Ampel, der ich mich näherte, schaltete, auch wenn ich mein Schritttempo konsequent beibehielt, just in dem Moment, als ich den Fuß auf die Fahrbahn setzte, auf Gehen.

Doch kaum beginne ich, mein Glück zu preisen, als es zu regnen beginnt, ach was: Es schüttet, kübelt, kotzt – die migränegrauen Wolken hatten es schon vermuten lassen. Ich lege meine Regenmontur an und lasse mich auf Höhe des Kinos International über die Karl-Marx-Allee schwemmen.

 

 

Berliner Biwakschachtel

 

Eine halbe Stunde später stehe ich an der Holzmarktbrücke vor dem legendären Elektroklub Kater Blau, es ist Montagmittag um halb zwölf, ein paar letzte verstrahlte Gäste wanken gerade ins Freie. Für einen Moment spiele ich mit dem Gedanken, dort einzukehren, mich aufzuwärmen – fühle mich für einen Klubbesuch dann aber doch ein wenig underdressed. Ich suche also stattdessen in dem mobilen Passbildautomaten Zuflucht, der neben dem Eingang zum Kater aufgebaut ist, schließe den verdunkelnden Plastikvorhang, klemme den Rucksack in die hintere, halbwegs trockene Ecke, kauere mich auf den klapprigen Metalldrehstuhl und...

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