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Der zweite Code

EPIGENETIK oder Wie wir unser Erbgut steuern können

AutorPeter Spork
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783644008212
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Als die Entschlüsselung des menschlichen Genoms gelungen war, glaubte man, bald alle Geheimnisse unserer Existenz gelüftet zu haben. Charakter, Talent, Krankheiten, Lebenserwartung - für alles schien es ein entsprechendes Gen zu geben. Doch diese Vorstellung war naiv. Denn Gene allein sind nichts - wie sie wirken, lässt sich steuern. Und zwar nicht zuletzt von uns selbst. Peter Spork nimmt uns mit auf eine faszinierende Entdeckungsreise durch die Welt einer revolutionären neuen Wissenschaft: Epigenetik. Er erklärt, weshalb selbst solche Menschen immer wieder an Krebs sterben, die weder Krebsgene geerbt noch ungesund gelebt haben. Warum man als Erwachsener anfällig für bestimmte Krankheiten ist, wenn man als Baby nicht genügend Liebe bekommen hat. Wieso unser Lebensstil mitunter selbst noch das Schicksal unserer Enkel beeinflussen kann. Und er zeigt, was jeder von uns tun kann, um gesund zu bleiben und möglichst alt zu werden. «Eine kundige Einführung in die wundersamen Weiten der Epigenetik.» Der Spiegel

Dr. Peter Spork, geboren 1965 in Frankfurt am Main, Studium der Biologie, Anthropologie und Psychologie in Marburg und Hamburg. 1995 Promotion in Hamburg (Bereich Neurobiologie/Biokybernetik). Seit 1991 freiberuflicher Wissenschaftsjournalist (unter anderem für «Die Zeit», «Geo Wissen», «FAZ», «NZZ», «Süddeutsche Zeitung», «bild der wissenschaft») und viel eingeladener Redner bei Firmenkongressen und ärztlichen Fachtagungen. Im Rowohlt-Verlag publizierte er unter anderem die Bücher «Das Uhrwerk der Natur», «Das Schlafbuch» und «Der zweite Code». Sein neuestes Buch heißt «Wake up! Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft». Sporks Bücher wurden bisher in neun Sprachen übersetzt.

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Leseprobe

Ungeahnte Macht


Was haben Sie heute gefrühstückt? Fahren Sie regelmäßig mit dem Fahrrad zur Arbeit? Haben Sie sich in den letzten Tagen mal so richtig Zeit für sich selbst genommen und Stress abgebaut? Wann haben Sie Ihrem Kind zuletzt über den Kopf gestreichelt und es aufgemuntert?

Warum ich solche Fragen stelle? Sie berühren Themen, um die es in diesem Buch gehen wird. Denn fast alles, was wir Menschen tun und was andere mit uns tun, wirkt sich auf unsere Zellen aus. Es hinterlässt Spuren im molekularbiologischen Fundament unseres Körpers. Eine neue Wissenschaft kann jetzt sogar zeigen, dass solche Spuren, wenn sie nur nachhaltig und stark genug sind, das innerste Wesen unserer Zellen beeinflussen: das Erbgut.

 

«Wir haben eine ungeahnte Macht über unsere Gene und die unserer Kinder», sagt Randy Jirtle, Biologe an der Duke University in Durham, USA. In bemerkenswerten Experimenten bestimmt er Gesundheit und Aussehen genetisch gleicher Mäuse allein dadurch, was er ihren Müttern während der Schwangerschaft zu fressen gibt: Enthält die Nahrung spezielle Vitamine und Nahrungsergänzungsmittel, werden die Jungen schlank, gesund und braun. Fehlen diese Zusätze werden sie fett, krankheitsanfällig und gelb.

Ihre Gene bleiben von diesen Einflüssen unberührt. Irgendetwas anderes als der bloße Text des Erbguts muss sich bei den Mäusen wandeln, während sie noch im Mutterleib sind. Irgendetwas, das sie für den Rest ihres Lebens prägt, das beispielsweise darüber entscheidet, ob sie im Alter verkalkte Herzkranzgefäße bekommen oder nicht.

Forscher aus aller Welt haben die rätselhaften Ursachen des Phänomens inzwischen gefunden. Mit ihnen beschäftigt sich die neue Wissenschaft, von der dieses Buch handeln soll: die Epigenetik. Neun von zehn Menschen, die man auf der Straße anspricht, haben davon noch nie etwas gehört. Epigenetik heißt so viel wie «Über-» oder «Nebengenetik». Sie beschäftigt sich mit den Epigenomen, die sich über – manche sagen auch nach, neben oder auf – den Genomen unserer Zellen befinden.

Das Genom ist die Gesamtheit aller Gene, die im Erbgut versteckt sind. Das wiederum besteht aus einer schier endlos erscheinenden Abfolge von nur vier verschiedenen chemischen Bestandteilen. Sie sind die Buchstaben des genetischen Textes und bilden einen Code, den die Zellen wie Baupläne lesen und in die zahlreichen Proteine übersetzen können, aus denen sich ein Lebewesen zusammensetzt.

Dass wir Menschen so verschieden sind, weil sich einige unserer Gene minimal unterscheiden, und dass sich Geschwister ähneln, weil sie viele identische Gene von ihren Eltern geerbt haben, gehört inzwischen zum Allgemeinwissen. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Wäre der Gentext nämlich allein entscheidend, müssten wir untereinander viel ähnlicher sein. Selbst Schimpansen wären fast wie wir.

Auch ein anderes Phänomen lässt sich mit dem genetischen Code allein nicht erklären: Warum kann unser Körper verschiedene Typen von Zellen bilden, obwohl sie alle identische Genome haben? Warum gibt es Nerven-, Haar-, Leber- und viele andere Zellen? Wie kann es sein, dass in den Zellkernen meines Muskelgewebes exakt das gleiche Erbgut steckt wie zum Beispiel in der Darmschleimhaut oder der Schilddrüse?

Hier kommt die Epigenetik ins Spiel. Sie erforscht die Strukturen, die jeder Zelle eine Identität verleihen und in ihrer Gesamtheit deren Epigenom bilden. Es sorgt dafür, dass die Zelle nicht nur die Baupläne für alle möglichen Proteine speichert, sondern auch die Anweisungen, welche dieser Baupläne zum Einsatz kommen sollen. Und diese Anweisungen können die Zellen – wenn sie sich teilen – gemeinsam mit dem Gentext an ihre Tochterzellen weitergeben.

Man könnte auch sagen, das Epigenom definiert die Bestimmung einer Zelle. Es sagt dem Genom, was es aus seinem Potenzial machen soll. Es entscheidet, welches Gen zu welcher Zeit aktiv ist und welches nicht. Dabei programmiert es sogar, ob eine Zelle schnell oder langsam altert, ob sie empfindlich oder abgestumpft auf äußere Reize reagiert, zu Krankheiten neigt oder ihre Aufgabe möglichst lange erfüllen kann.

Die Werkzeuge des Epigenoms sind sogenannte epigenetische Schalter. Sie lagern sich gezielt an bestimmte Stellen des Erbguts an und entscheiden, welche ihrer Gene eine Zelle überhaupt benutzen kann und welche nicht. So liefert das Epigenom die Grammatik, die dem Text des Lebens eine Struktur verleiht. Es ist die Software, die den Zellen hilft, die Hardware – also ihren Gencode – richtig einzusetzen. Denn es herrschte Chaos, läse eine Zelle alle ihre Gene gleichzeitig ab und produzierte sie all die vielen Proteine, deren Baupläne sie gespeichert hat, zugleich.

Per biologischer Definition beschäftigt sich die Epigenetik mit all jenen molekularbiologischen Informationen, die Zellen speichern und an ihre Tochterzellen weitergeben, die aber nicht im Erbgut enthalten sind.

«Wie bitte?», werden Sie jetzt fragen. «Das habe ich in der Schule ganz anders gelernt. Zellen geben doch nur ihr Erbgut weiter. Sonst nichts.» Falsch! Seit wenigen Jahren sind die Biologen überzeugt, dass unser Schulwissen korrigiert werden muss. Wenn Zellen sich teilen, vererben sie auch das epigenetische Programm.

Dass es Epigenome geben muss, hätte man sich eigentlich schon lange denken können. Und viele Forscher haben es sich Anfang des vergangen Jahrhunderts auch gedacht. Der Begriff Epigenetik wird deshalb unter Genetikern schon seit fast 70 Jahren gebraucht. Doch erst jetzt, da die Forscher den menschlichen Gencode in einem riesigen, fünf Jahrzehnte währenden Kraftakt komplett entschlüsselt haben, öffnet sich der Blick der Wissenschaft wieder neu für alte Ideen. Nun gerät zum Beispiel die Frage in den Blickpunkt, wieso im Herz nur noch Herzzellen wachsen, sich aus einer Stammzelle aber viele verschiedene Zelltypen entwickeln können.

Doch was die Epigenetik aus dem Elfenbeinturm der Grundlagenforschung holt, ist ein anderes Phänomen: Die Epigenschalter sind flexibel. Sie reagieren auf Umwelteinflüsse. Deshalb können Erziehung, Liebe, Nahrung, Stress, Hormone, Hunger, Erlebnisse im Mutterleib, Vergiftungen, Psychotherapie, Nikotin, außergewöhnliche Belastungen, Traumata, Klima, Folter, Sport und vieles mehr unsere Zellen umprogrammieren.

Solche Faktoren können die Biochemie der Zelle umkrempeln und lassen dennoch den genetischen Code vollkommen unangetastet. In dieser Erkenntnis steckt eine riesige Chance, die Moshe Szyf, israelischer Epigenetiker von der Universität in Montreal, Kanada, so formuliert: «Wenn die Umwelt eine Rolle bei der Veränderung unserer Epigenome spielt, dann können wir eine Brücke zwischen biologischen und sozialen Prozessen schlagen. Und das ändert unsere Sicht des Lebens total.» Denn die Epigenetik erklärt, wieso die Außenwelt unseren Körper und Geist dauerhaft verändern kann.

Und je jünger wir sind, desto offener scheinen unsere Zellen auf Umwelteinflüsse zu reagieren. Randy Jirtles Mäuse sind noch im Mutterleib, wenn die Nahrung ein paar ihrer Gene für den Rest ihres Lebens abschaltet und ihre Fellfarbe und Krankheitsanfälligkeit manipuliert.

Die Hinweise häufen sich, dass bei uns Menschen genau die gleichen Prozesse ablaufen. Vor allem wird endlich klar, warum es den Charakter von Kindern so nachhaltig prägt, welche emotionalen Erfahrungen sie und ihre Eltern kurz vor und nach der Geburt machen, so dass zum Beispiel manche Menschen eher zu Depressionen und Angsterkrankungen neigen als andere. Die Epigenetik legt außerdem nahe, dass es sich oft schon vor der Geburt entscheidet, ob wir eines Tages Krebs, Diabetes, starkes Übergewicht, eine Suchterkrankung oder eine Herz-Kreislauf-Krankheit bekommen. Und sie kann erklären, warum manchen Menschen eine ungesunde Lebensweise weniger ausmacht als anderen.

 

Was die Forscher bisher herausgefunden haben, klingt sensationell: Indem wir die Programmierung des Genoms mehr oder weniger bewusst verändern, können wir unsere Physiologie – unseren Körper und Geist – dauerhaft beeinflussen. Und wir haben eine riesige Verantwortung gegenüber unseren Nachkommen. Denn manche Entscheidung, die wir teils schon lange vor ihrer Geburt treffen, verändert ihre Persönlichkeit, ihre Gesundheit, ihre Lebenserwartung.

Rudolf Jaenisch vom weltberühmten Whitehead Institute in Boston, USA, deutscher Pionier der Gentechnik und Stammzellforschung sowie seit vielen Jahren Nobelpreiskandidat, verriet mir: «Das Jahrzehnt der Genetik ist schon lange vorbei. Wir befinden uns jetzt mitten im Jahrzehnt der Epigenetik. In diesem Feld passieren derzeit die wichtigsten und aufregendsten Dinge der Molekularbiologie.»

Wir stehen an der Schwelle zu einem neuen Denken in der Biologie, an der Schwelle zur «postgenomischen Gesellschaft», weiß auch Thomas Jenuwein, Leiter der Arbeitsgruppe für Epigenetik am Max-Planck-Institut für Immunbiologie in Freiburg im Breisgau. Denn der neue Zweig der Genetik liefert das lange gesuchte Bindeglied zwischen der Umwelt und den Genen. Er macht die nurture-versus-nature-Diskussion, die das Fach seit hundert Jahren antreibt, endlich hinfällig: Die Frage, welche Eigenschaften wir von unseren Vorfahren geerbt und welche wir durch Erziehung, Kultur und die Interaktion mit unserer Umwelt erworben haben, stellt sich in dieser Form nicht mehr. Beide Seiten sind keine Gegensätze, sie ergänzen...

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