2 · KRIEGSHETZE
Militärische Führung verlangt militärisches Handeln. Bei seinem ersten öffentlichen Auftritt präsentierte sich Hitler als Anführer eines Militärputschs gegen die verfassungsmäßige Regierung der deutschen Republik. Diesen Putsch plante er seit fünf Jahren; von 1919 bis 1923 habe er an nichts anderes als einen Staatsstreich gedacht, enthüllte er 1936 in München.
In jenen Jahren führte Hitler ein Doppelleben. Als Kopf einer Partei, die um Mitglieder und Unterstützung warb, hatte er fortwährend, unermüdlich – und mitreißend – vor jedem Publikum gesprochen, das er von seiner politischen Basis in Bayern aus erreichen konnte. Er ließ sich über die «Verbrecher von Versailles» aus, über Deutschlands Leiden im Weltkrieg, seine Gebietsverluste, die Ungerechtigkeit der Abrüstungsbestimmungen, die Anmaßung der neuen Staaten – vor allem Polens –, die auf historischem deutschem Boden gebildet worden waren, überzogene Reparationsforderungen, die nationale Schande, über die Rolle der Feinde im Innern – Juden, Bolschewiken, bolschewistische Juden und deren liberale republikanische Marionetten –, die Deutschland 1918 in die Niederlage getrieben hätten. Am 25. Januar 1923 verkündete er auf dem ersten Parteitag der Nationalsozialisten in München: «Wer … will, daß endlich diese Glut auch den letzten Deutschen ergreift, muß wissen, daß die Todfeinde der deutschen Freiheit, die Verräter am deutschen Vaterlande zuerst zu beseitigen sind … Nieder mit den Novemberverbrechern. Und da setzt die augenblickliche große Mission unserer Bewegung ein. In all dem Geflunker und Geschwätz von ‹Einheitsfront› usw. haben wir nicht zu vergessen, daß sich zwischen uns und den [!] Volksbetrügern [der republikanischen Regierung in Berlin] … zwei Millionen Tote schieben.» Das war das zentrale Thema seiner Botschaft: Der deutsche Mann hatte ehrenhaft gekämpft, gelitten und war gestorben in einem Krieg, der damit endete, dass der nachfolgenden Generation das Recht, Waffen zu tragen, genommen wurde. Im Endergebnis war das entwaffnete Deutschland in Hitlers Augen nichts als eine wehrlose Beute seiner räuberischen Nachbarn.
Zu diesen Nachbarn gehörten für Hitler die Polen, denen die Freikorps 1920 zur Verteidigung des Reichsgebiets zahlreiche Grenzgefechte geliefert hatten. Dazu kamen die bolschewistischen Russen und die neuen slawischen Staaten, Tschechoslowakei und Jugoslawien, sowie die instabilen Reste des Habsburgerreiches, Österreich und Ungarn; sie waren schon einmal kommunistischer Bedrohung ausgesetzt, und in der Zukunft konnte sich das wiederholen. Die Franzosen zählte er ebenfalls dazu, die habgierigsten unter den Siegern: Sie hatten sich nicht nur die Reichslande Elsass-Lothringen wiedergeholt, sondern standen auch noch mit Truppen im Rheinland und drohten unverhüllt mit militärischer Gewalt, um ihrer Forderung nach vollständiger Begleichung der Kriegskosten in Form von Reparationszahlungen, wie sie von den Alliierten in Versailles festgesetzt worden waren, Nachdruck zu verleihen. Diese Drohungen und Forderungen, so Hitler in endlosen Wiederholungen, ließen sich nur aus der Welt schaffen, wenn Deutschland statt seines erbärmlichen Hunderttausend-Mann-Heeres ohne Panzer und Flugzeuge und ohne schwere Artillerie, wie es der Versailler Vertrag vorschrieb, wieder über eine richtige Volksarmee verfügte, deren Umfang dem größten und bevölkerungsreichsten Lande auf dem Kontinent angemessen war.
Das war eine Botschaft, die Hitlers Zuhörer – ihre Zahl wuchs zwischen 1919 und 1923 stetig an – in ihren Bann schlug. Er hatte sich zu einem brillanten Redner entwickelt, und in dem Maße, in dem sich seine rhetorischen Fähigkeiten entfalteten, wuchs auch die Menge derer, die etwas auf seine Worte gaben. «Mein Blick geht zurück», sagte er im Jahre 1932, «auf die Zeit, als ich mit sechs andern unbekannten Männern diese Gemeinschaft gründete und vor elf, zwölf, dreizehn, vierzehn, zwanzig, dreißig, fünfzig Menschen sprach. Wenn ich bedenke, daß ich nach einem Jahr vierundsechzig Mitglieder für die Bewegung gewonnen hatte, so muß ich gestehen, daß das, was heute geschaffen ist, da Millionen unserer Bewegung zuströmen, etwas Einzigartiges in der deutschen Geschichte darstellt.» Der Zustrom von Millionen hatte 1923 noch nicht begonnen, damals zählte seine Gefolgschaft nach Tausenden. Sie reagierten jedoch begeistert auf sein Verlangen nach Rache. «Es kann nicht sein», sagte er im September 1922 auf einer Kundgebung in München, «daß zwei Millionen Deutsche umsonst gefallen sind und man sich mit Verrätern später an einem Tisch freundschaftlich zusammensetzt. Nein, wir verzeihen nicht, sondern fordern – Vergeltung!»
Manche seiner Anhänger hörten auf seine Aufrufe zur Gewalt. Denn außer als Politiker betätigte sich Hitler als Verschwörer gegen die Weimarer Republik und organisierte eine «Parallelarmee». Im Jahr 1923 zählte die «Sturmabteilung» (SA) 15 000 Uniformierte; sie hatte Zugang zu zahlreichen geheimen Waffenlagern, die auch Maschinengewehre enthielten. Darüber hinaus glaubte Hitler, eine Zusage vonseiten des regulären Heeres, des in Bayern liegenden Teils der Reichswehr, zu besitzen. Von vielen Offizieren der Division war Hitler in diesem Glauben bestärkt worden, nicht zuletzt von Hauptmann Ernst Röhm, dem künftigen Stabschef der SA, bis 1923 ebenfalls aktiver Soldat. Durch Röhm, aber auch wegen der Haltung des Infanterieführers in Bayern, des Generals Otto von Lossow, hatte Hitler den Eindruck gewonnen, dass die Reichswehr nicht eingreifen werde, wenn die SA und andere Milizverbände, die gemeinsam den rechtsextremen «Kampfbund» bildeten, einen Putsch anzetteln würden.
Ein solches Unternehmen brauchte einen Anführer und einen Vorwand zum Handeln. Die Führung wollte Hitler selbst übernehmen, die Rolle der Galionsfigur jedoch dem General a. D. Erich Ludendorff überlassen, der als Erster Generalquartiermeister im Weltkrieg de facto Generalstabschef gewesen war und nun die Schirmherrschaft über den Kampfbund übernahm. Den Vorwand lieferten die Franzosen. Um die Forstsetzung der Reparationszahlungen zu erzwingen, zu denen sich die deutsche Regierung außerstande erklärte, hatte die französische Regierung im Januar 1923 Truppen in Marsch gesetzt, die das Ruhrgebiet, das Herz der deutschen Schwerindustrie, besetzen und das Geld direkt eintreiben sollten.
Diese Intervention verschärfte die Währungskrise in Deutschland, die das deutsche Finanzministerium zum Teil selbst angefacht hatte, um die Zahlungsschwierigkeiten zu begründen. Dadurch wurde eine Inflation beschleunigt, welche die Kaufkraft der arbeitenden Bevölkerung untergrub und die Ersparnisse der Mittelschicht vernichtete. Der Wert der Mark gegenüber dem Dollar, der im Juli bei 160 000 zu 1 gestanden hatte (1914 betrug er 4 zu 1) fiel im August auf 1 Million zu 1 und im November auf 130 Milliarden zu 1. Reichskanzler Gustav Stresemann rief zunächst zum passiven Widerstand an der Ruhr auf, doch der beeindruckte die Franzosen wenig, während das Beispiel der Gesetzwidrigkeit, das damit gegeben wurde, die Kommunisten in Sachsen und Hamburg, die Separatisten im Rheinland und die ehemaligen Freikorpskämpfer in Pommern und Preußen dazu ermunterte, mit zivilem Ungehorsam zu drohen.
Nachdem diese Unruhen erstickt waren und Stresemann das Ende des passiven Widerstands verkündet hatte, hielt Hitler den Augenblick für gekommen. Am 8. November war im Münchener Bürgerbräukeller eine öffentliche Versammlung geplant, für die General von Lossow und der Kommandeur der bayerischen Staatspolizei (Oberst von Seisser) unklugerweise ihr Kommen zugesagt hatten. Hitler erschien in Waffen, hatte draußen ebenfalls bewaffnete Kräfte postiert, stellte Lossow und die anderen Männer von Rang unter Arrest und verkündete die Bildung einer neuen deutschen Regierung: «Die Regierung der Novemberverbrecher in Berlin wird für abgesetzt erklärt. Eine neue deutsche nationale Regierung wird in Bayern, hier in München, heute noch ernannt. Es wird sofort gebildet eine deutsche nationale Armee … [Ich] übernehme … die Leitung der Politik der provisorischen nationalen Regierung. Exzellenz Ludendorff übernimmt die Leitung der deutschen nationalen Armee …»
Am nächsten Tag, dem 9. November 1923, machte sich der Kern dieser nationalen Armee, der Kampfbund, marschbereit, um mit Hitler und Ludendorff an der Spitze zum ehemaligen Bayerischen Kriegsministerium zu ziehen. Röhm und die SA hatten das Kriegsministerium in ihre Hand gebracht und erwarteten die Ankunft dieses Zuges, aber bewaffnete Polizeikräfte versperrten Hitler den Weg über den Odeonsplatz. Die erste Sperrkette überwand er auf dem Verhandlungswege, die zweite wich nicht, eröffnete das Feuer, traf den Mann an Hitlers Seite tödlich (der diesen mit sich zu Boden riss) und brachte Göring, dem künftigen Oberbefehlshaber der Luftwaffe, eine Schussverletzung bei. Ludendorff aber blieb unverletzt; er marschierte, von dem Blutbad um sich herum vollkommen unbeeindruckt, weiter, hatte allerdings, als er das Kriegsministerium erreichte, nur noch einen einzigen Mann an seiner Seite. Die deutsche nationale Armee hatte sich aufgelöst.
Die unmittelbaren Folgen des Hitlerputsches waren bedeutungslos: Neun der Verschwörer stellte man vor Gericht; Ludendorff wurde freigesprochen, während Hitler zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt wurde, von denen er allerdings nur neun Monate...