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E-Book

Deutschjüdische Glückskinder

Eine Weltgeschichte meiner Familie

AutorMichael Wolffsohn
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl400 Seiten
ISBN9783423431668
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis10,99 EUR
Der Bestseller jetzt im Taschenbuch Als Glu?ckskinder oder fast Glu?ckskinder - denn sie hatten alles verloren außer dem Leben - können die Mitglieder der weitverzweigten Familie Wolffsohn bezeichnet werden, die dem Holocaust entkommen sind, nach Palästina, später Israel, oder in andere Gegenden der Welt. Einige kehrten sogar nach Deutschland zuru?ck, trotz allem, so wie Michael Wolffsohns Großvater Karl Wolffsohn mit seiner Frau Recha. Was sie erlebten, wie sie vorher, im Exil und nachher lebten und liebten, wie ihr Erleben Kinder und Kindeskinder prägte, davon erzählt Michael Wolffsohn pointiert und ohne jede Schönfärberei.

Michael Wolffsohn, geb. 1947 in Tel Aviv, stammt aus einer deutschjüdischen Familie, die 1939 nach Palästina floh und 1954 nach Deutschland zurückkehrte. Er war Professor für Neuere Geschichte an der Bundeswehruniversität München, veröffentlicht regelmäßig in nationalen und internationalen Medien und hat über 30 Bücher verfasst. 2017 wurde er als »Hochschullehrer des Jahres« ausgezeichnet, 2018 erhielt er den Franz-Werfel-Menschenrechtspreis.

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Leseprobe

Recha Wolffsohn – die Christjüdin


Wie der Seelenknoten entstand

Recha benahm sich in der Regel sehr damenhaft. Doch eines Tages bewarf sie ihren Sohn Max aus heiterem Himmel mit Gurken. Die hatte er auf dem Tel Aviver Markt gekauft. Hatte Rechas Gurkenkanonade, wie bei Karl Wolffsohns Schlauchaktion, Vorgeschichten? Hatte die Gurkenkanonade einen tieferen Sinn? Ja, auch ihr Seelenknoten war geplatzt. Der Auslöser? Eine der Gurken war verfault. Mehr als eine konnte es nicht gewesen sein. Denn auf dem »Schuck HaKarmel«, dem Karmel-Markt, bekam man täglich bestes, frisches, meist auch relativ preiswertes Obst und Gemüse. Man darf sogar annehmen, dass die Ware besser und auf jeden Fall frischer und preisgünstiger war, als einst in den noblen Feinkostläden Berlins, wo Recha bis 1939 eingekauft hatte. Genauer: wo sie hatte einkaufen lassen. Denn meistens erledigte das Personal den Einkauf, allen voran Elli und Paul Pötschner. Er war Familienchauffeur, sie als Hausdame Mädchen für alles. »Gnä’ Frau, was darf ich bringen, was soll ich machen? Ja, gnä’ Frau, gerne, gnä’ Frau.«

Sehr gerne mochte Recha zum Beispiel Crêpes Suzettes. Die hatten die beiden in den Goldenen Zwanzigern abends oft in Berlins Feinschmecker-Tempeln verspeist. Eher selten zu Hause, denn abends waren Karl und Recha oft unterwegs. Sie repräsentierten und sie amüsierten sich.

Für die Söhne Willi und Max war das weniger schön. Statt der Mutter kümmerte sich die Nanny, Gouvernante Dada, um die Buben. Dada statt Mama. Eines Morgens, 1924, wachten Willi und Max auf, und die Eltern waren weg. Ohne ein Wort des Abschieds und ohne vorab etwas zu sagen, waren sie verreist. Über den Atlantik mit der (wie es sich für staatstragende Juden gehörte) »MS Deutschland« in die USA, für vier Monate. Blankes Entsetzen, heiße Wut.

Ja, auch die Legende von der immer fürsorglichen jüdischen Mamme hat ihre Risse. Als Mama Recha über den Großen Teich tuckerte, tröstete Dada die beiden Jungs. Max und Zeew/Willi haben Recha später deswegen oft bittere Vorwürfe gemacht. Dann weinte sie sehr. Das hinderte sie nicht daran, ihre Söhne ihr Leben lang herumzukommandieren. Ich erinnere mich an einen Familiensonntag im Garten des Bungalows am Stölpchensee. Ihr Sohn Willi war ungefähr fünfzig. Er solle ihr die Gartenliege hierher bringen, herrschte sie ihn an. Nein, dorthin. Besser da. Nicht doch da. Dort. Und so weiter und so fort. Willi, der sonst eine mit- und hinreißende große Klappe hatte, folgte seiner Mami wie ein dressiertes Hündchen.

Dada wurde besonders vom anlehnungsbedürftigen Max sehr geliebt. Sie liebte ihn auch. So sehr, dass sie ihm 1938, nach ihrer eigenen Auswanderung in die Vereinigten Staaten, eine der wenigen, heiß begehrten Einwanderungsgenehmigungen erkämpfte und zukommen ließ. Max, der immer folgsame Sohn, folgte jedoch seinen Eltern nach Palästina. Dada war tief enttäuscht, verletzt und ließ nie wieder von sich hören.

Am Enkelkind, an mir, übte Sabta (Großmutter) Recha tätige Reue, Umkehr, Wiedergutmachung. Sie galt auch mir, doch nicht nur mir. War sie nicht eigentlich an Willi und Max adressiert? Nach dem Tod ihres über alle und alles geliebten Karl, ungefähr von 1958 bis 1966/67, gingen Sabta und ich, Wolffsohn’scher Filmtradition folgend, fast jeden Samstag ins Kintopp. Meistens und am liebsten in den komfortablen Gloria-Palast neben der Gedächtniskirche. Der gehörte Max Knapp, einem früheren Kollegen Karl Wolffsohns, der unbefleckt das Dritte Reich überstanden hatte. In den Gloria-Palast gingen wir auch gerne, weil wir dort den guten alten Paul Pötschner trafen, der als Kartenabreißer seine Rente aufstockte. Karl Wolffsohn und seine »gnädige Frau« hatten ihm diesen Job vermittelt.

Natürlich kaufte Sabta, solange es angeboten wurde, das vierseitige Filmprogramm. Längst wurde es nicht mehr von der Lichtbildbühne verlegt. Nach dem Kino gingen wir zwei, drei Schritte weiter. Ins »Mampe« am Ku’damm, die altbürgerlich gute Stube mit großem Kachelkamin. Dort wehte noch oder wieder ein Hauch vom guten alten hinüber ins neue Berlin.

Dada war im großbürgerlichen Altberliner Wolffsohn-Alltag Mamaersatz, Paul Pötschner, Ellis Mann, war der Vaterersatz. Der schwarzhaarige Paul hatte lange einen Oberlippenschnurrbart getragen. Als aber diese Schnurrbartart automatisch mit einem bei den Wolffsohns und anderen anständigen Deutschen ungut beleumundeten und brüllenden deutschen Politiker verbunden wurde, rasierte der Wolffsohn- und judentreue Familien-Chauffeur den zahnbürstenartigen »Schnurres« unter seiner Nase ab. Paul war nicht nur Faktotum, er war ein herzensguter Mann, und er war, nicht zuletzt, Spielkamerad der beiden Buben, deren Eltern für Kinderspielereien selten Zeit hatten. Sie mussten, sie wollten, sie haben repräsentiert. Glamourös. Weniger bravourös waren sie als tatkräftige, anwesende Erzieher.

Madame

Recha war stets eine Grande Dame gewesen und blieb es ihr Leben lang. Das hielt sie auch in der Tel Aviver Hitze aufrecht. Sie lief nicht, sie schritt, sie promenierte im schwarzen Kostüm mit großem Revers, einen schwarzen Hut mit weißem Band auf dem Kopf, und weißen Handschuhen durch Tel Avivs Straßen, die vor Hitze glühten; vorbei an den vielen strahlend weißen »Bauhaus«-Häusern der ebenfalls aus ihrer Heimat vertriebenen deutschjüdischen Architekten. Die Häuser weiß, Recha in Schwarz. Gekonnter, gewollter, inszenierter Kontrast zum »sozialistischen Schlampertum« der neuen Zionsväter und -mütter.

»Frau Wolffsohn, Sie müssen Schwarz-Weiß tragen«, hatte ihr, noch in Berlin, der seinerzeit hochberühmte (und sündhaft teure) Modeschöpfer Gerson eingeredet. Eingeredet? Nein, Schwarz-weiß-edel stand ihr wirklich gut. Aber ins damals klein- und halbbürgerliche Tel Aviv sowie ins agrarisch-rüpelhaft-burschikose Jüdisch-Palästina passte es wie die berühmte Faust aufs Auge.

Wie sah damals »die« zionistische Idealfrau aus? Gammelig, aber sauber. Körpergeruch? O nein. Saubere Kleidung? O ja. Ansonsten weite Hosen, weite Bluse, bequeme Sandalen, ungeschminkt, »Idiotenhut« (»Kowa Tembel«) auf dem Kopf, mit dem man tatsächlich wie ein Idiot aussah.

Wie konnte es also dazu kommen, dass Recha, diese Lady, Dame, Madame, diese auch noch im hohen Alter schöne Frau, die ihre Umwelt mit Hilfe ihres quasi aristokratischen, schon damals und erst recht im mehrheitlich sozialistischen Vor-Israel anachronistischen, einglasigen Lorgnon kritisch beäugte, die sonst so fein und wohlerzogen und diszipliniert war, die so auf Contenance achtete, so ausrastete, dass sie ihren Sohn Max mit Gurken bombardierte? Es passt so gar nicht ins Bild, das ich von dieser geradezu herrschaftlichen Persönlichkeit hatte. Auch nicht ins Bild, das ihre Söhne Willi/Zeew und Max oder ihre Schwiegertöchter Lea und Thea zeichneten.

Es wird ihr ähnlich wie ihrem Karl bei seiner Sozialistenflutung ergangen sein. Es bedurfte nur einer faulen Gurke oder eines Tropfens, um das Fass ihrer Palästina-Zion-Israel-Bitternis überlaufen zu lassen. Wie ihr Karl und Hunderttausende deutscher Juden hatte sie alles verloren, was ihr lieb und teuer war. Bis auf das Leben. Genau dieses Leben war aber – sechsmillionenfacher Judenmord = Holocaust = Schoah = wörtlich: Katastrophe – ein Gottesgeschenk. Ja, gewiss, Recha war IHM, dem »Lieben Gott«, dankbar. Sehr sogar. Aber die faule, womöglich sogar in einem Kibbuz (= sozialistisches Landwirtschaftskollektiv) gewachsene Gurke war einfach zu viel des Schlechten vom Guten.

Vielleicht stammte die faule Gurke gar aus der landwirtschaftlichen Genossenschaft (»Moschaw«) ihres älteren Sohnes Willi (jetzt, o Graus, hebräisch Zeew)? Kam diese faule Gurke etwa von seinem Acker, aus seinem schlechten Gut? Von ihrem Sohn, dem Landwirt, ach was: Bauer. »Ick bin Bauer«, verkündete er immer wieder berlinernd seiner piekfeinen Mutter, die es nicht hören und nicht wissen wollte. Aufstieg und Fall des Römischen Reiches. Nun war Familie Wolffsohn dran, mit allen Juden zusammen, mag Recha gedacht haben und, wie so oft »JessesMaria« oder nur »Jesses« (für, jawohl, Jesus) gesagt haben.

JessesMaria – Rechas Weg

Ja, JessesMaria oder auch JessesMariaundJosef sagte sie oft. War Recha Katholikin? Nein, Jüdin. Sie stammte aus Exin, Kreis Schubin, Regierungsbezirk Bromberg, wo sie am 10. November 1887 als Tochter des wohlhabenden Kaufmanns Hermann Landecker geboren wurde und die ersten Lebensjahre verbracht hatte. Exin gehörte zum Deutschen Reich, die Bevölkerungsmehrheit war polnisch, sprach Polnisch und – war katholisch.

Recha betete allabendlich auf Deutsch zu Gott. Des Hebräischen war sie nicht mächtig. Weder vor noch in oder nach Israel. Der Gott, zu dem sie betete, war für Recha Wolffsohn nicht der jüdische oder christliche, sondern eben Gott, der Gott, der Gott aller Menschen. Vom Islam oder anderen Religionen wusste sie nichts, folglich war Gott, ihr Gott, der Gott, christjüdisch beziehungsweise judenchristlich und sie, so sehe ich es, so etwas wie eine Christjüdin. Eine von ihrer katholischen Umwelt mitgeprägte, Jesus verehrende Herkunftsjüdin. Juden und Judentum waren für sie, wie für so viele westeuropäische oder westeuropäisierte Juden, eher gesellschaftliche Veranstaltung als verinnerlichte Verwurzelung. Auch wer wollte, konnte diese Wurzeln selten abtrennen und musste, weil...

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