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E-Book

Deutschland, Verbrecherland?

Mein Einsatz gegen die organisierte Kriminalität

AutorAxel Spilcker, Egbert Bülles
VerlagUllstein
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl304 Seiten
ISBN9783843705936
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis8,99 EUR

Menschenhändler, Russen-Mafia, Camorra-Ableger und Rockergangs: Deutschland gerät immer fester in den Würgegriff der organisierten Kriminalität. Das Erschreckende: Bei der Jagd auf die Verbrecher sind die Ermittler häufig auf der Verliererseite - auch, weil sie an den Unzulänglichkeiten der deutschen Strafverfolgung scheitern oder von Politikern behindert werden. Der erfahrene Staatsanwalt Egbert Bülles schlägt Alarm: Wenn wir nicht aufpassen, wird Deutschland zum Brennpunkt des organisierten Verbrechens.



Egbert Bülles, *1946, war bis zu seiner Pensionierung im März 2012 als Oberstaatsanwalt in Köln tätig und leitete die Abteilung Organisierte Kriminalität im Kölner Justizzentrum. Er ist verheiratet und Vater von zwei Kindern.

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Leseprobe

Ruhelos im Ruhestand

Januar 2013. Wagenreifen quietschen vor einer Wohnung im Kölner Stadtteil Kalk. Schwerbewaffnete Polizeibeamte eines Spezialeinsatzkommandos (SEK) springen heraus. Kurze Zeit später führen sie den 39-jährigen Gentile S. ab. Er gilt als Kopf einer sizilianischen Gruppe von Bau-­Mafiosi. Die 24-köpfige Bande steuerte über Strohmänner Dutzende von Scheinunternehmen. Unter ihrem Firmenmantel schafften Schwarzarbeiterkolonnen als Subunternehmer auf deutschen Baustellen. Sozialabgaben und die fällige Umsatzsteuer schleuste die Bau-Connection am deutschen Fiskus vorbei. Der Schaden: 30 Millionen Euro. Zeitgleich zur großangelegten Razzia in Deutschland verhafteten die italienischen Behörden im sizilianischen Piazza Armerina, Ravanusa und Licata die Hintermänner der Organisation. Die Zeitungen berichteten groß über die ganze Aktion.

Licata, immer wieder Licata, denke ich bei der Lektüre der Schlagzeilen. Schon »mein« erster Mafia-Mord nahm in dieser sizilianischen Hochburg der Cosa Nostra seinen Ausgang.

Ende der 70er Jahre nutzte die Cosa Nostra Deutschland und speziell der Großraum Köln, in dem etwa 35 000 Italiener lebten, vornehmlich als Ruheraum für ihre Mitglieder. Wenn Mafiosi in ihrer sizilianischen Heimat der Boden zu heiß wurde, tauchten sie irgendwo an der Rheinschiene bei Landsleuten unter.

Anfang der 80er Jahre übernahm ich als junger Staatsanwalt einen Fall, bei dem es um Schutzgelderpressung ging. Schon damals lagen Anhaltspunkte dafür vor, dass ein Großteil der italienischen Gastwirte in Köln wie auf ­Sizilien oder in Kalabrien Schutzgeld (»Pizzo«) an die »Ehrenwerte Gesellschaft« bezahlen musste. Aus Angst vor ­Repressalien traute sich kaum ein Gastronom, die Polizei einzuschalten.

Die deutschen Strafverfolger waren seinerzeit geradezu blind und taub, wenn es um mafiöse Umtriebe hierzulande ging. Kölns damaliger Polizeipräsident kanzelte das Gerede über die Mafia in Deutschland gar als Hirngespinst ab. Dabei hatten italienische Clans längst ihre Arme weit nach Deutschland ausgestreckt. Bereits in jenen Jahren operierten Ableger aus Sizilien, Kampanien oder Kalabrien in Me­tropolen an Rhein und Ruhr oder in Bayern. Drogen- und Waffenhandel, Schwarzarbeit auf dem Bau sowie Schutzgelderpressung gehörten zu den beliebtesten Betätigungsfeldern von Cosa Nostra, ’Ndrangheta oder Camorra.

Damals lernte ich erstmals die Methoden der Mafia kennen. Die deutsche Frau eines italienischen Gastwirts hatte uns den Hinweis auf einen Schutzgelderpresser gegeben. Der Gangster stammte aus der sizilianischen Mafia-Hochburg Licata. Kurz vor dem Zugriff konnte der Täter nach Holland flüchten, wurde aber dort geschnappt und an uns ausgeliefert.

Massimo M. war ein Ganove mit guten Verbindungen zur rheinischen Unterwelt – und mit guten Anwälten. So kam es, dass ein Verteidiger den Sizilianer noch vor dem eigentlichen Prozessbeginn aus der Untersuchungshaft auslöste. Allerdings verhängte der Haftrichter Auflagen: Massimo M. musste seinen Pass abgeben und sich fast täglich bei hiesigen Behörden melden. Außerdem nahm die Polizei ihn rund um die Uhr unter Beobachtung.

Letzteres sollte ihm aber nichts helfen. Als Massimo M. in einem italienischen Lokal im Kölner Amüsierviertel an der Friesenstraße seine Freilassung feierte und Klavier spielte, stürmte ein Attentäter hinein und streckte ihn per Kopfschuss nieder. Der Mörder flüchtete unerkannt – er wurde nie gefasst.

Mit traurigem Gesicht besuchte mich der Anwalt des erschossenen Mafioso kurz darauf in meinem Büro. Der Verteidiger beschwerte sich vor allem darüber, dass er für seine Bemühungen kein Honorar bekommen habe. Nun, da Massimo M. tot sei, werde er auch kein Geld mehr sehen, seufzte er laut. Mein Mitleid für den Advokaten hielt sich in Grenzen.

Eine Episode, sicher, aber sie sagt viel aus über das Hier und Jetzt, genauso wie über das Gestern. In jener Zeit war ich ein Anfänger in meinem Metier und voller Zuversicht, dass der Rechtsstaat im Kampf gegen das Verbrechen am Ende stets die Oberhand behält. Das alte Räuber-und-Gendarm-Spiel gewannen nach meiner Vorstellung immer die Guten. Und das waren natürlich wir: die Staatsanwälte, die Polizei, der verlängerte Arm der deutschen Exekutive.

Heute, im Rückblick auf meine Zeit als langjähriger Chef der Abteilung Organisierte Kriminalität (OK) bei der Kölner Staatsanwaltschaft, weiß ich es besser. Nun, da ich nach 36 Jahren Kampf gegen Menschen- und Drogenhändler, Rockergangs oder Rotlichtgrößen außer Dienst stehe, muss ich mein Urteil revidieren.

Denn allzu oft verläuft das Kräftemessen genau umgekehrt: Der Räuber obsiegt, nicht der Gendarm. Nicht nur, dass die Aufklärungsraten bei Massendelikten wie Einbruch, Diebstahl oder Kfz-Aufbrüchen in den großen Me­tropolen teils unter zehn Prozent liegen. Nein, gerade auf dem Feld der organisierten Kriminalität drohen Justiz und Polizei ins Hintertreffen zu geraten. Immer noch treiben beispielsweise die Mafiosi aus Licata hier ihr Unwesen. Es ist so, als wüchsen die Köpfe der Hydra schneller nach, als man einen davon abschlagen kann.

Das Problem betrifft allerdings nicht nur italienische Mafiosi. Während nämlich russische Verbrechersyndikate hierzulande längst aktiv sind, gibt es kaum irgendwelche Dienststellen in der Republik, die dieses Phänomen gezielt bekämpfen. Während Schleuserbanden aus Osteuropa, Süd­ostasien oder China jährlich Zehntausende Menschen als Arbeitssklaven oder Prostituierte nach Westeuropa schmuggeln, interessiert sich weder die Politik noch die Justiz ernsthaft für das Problem; Einbrecherbanden vom Balkan, Roma-Clans, die Kinder zu Profi-Taschendieben ausbilden und gezielt in deutschen Einkaufstraßen einsetzen; Sippen, die vor allem alte Menschen mit miesen Betrügermaschen wie etwa dem »Enkeltrick« ausnehmen, können fast ungehindert agieren.

Justiz und Polizei kapitulieren oft wegen mangelnder Ressourcen, bürokratischer Hindernisse, mitunter aber auch wegen allzu milder Rechtssprechung durch die Gerichte. Haben Sie schon einmal versucht, in Köln oder Düsseldorf einen Haftbefehl für einen jugendlichen Serieneinbrecher einer Roma-Sippe zu bekommen? Die Quote liegt bei zehn zu eins dagegen. Das heißt, von zehn Fällen wandert einer hinter Gitter, neun kommen schnell wieder frei – und waren häufig nicht mehr gesehen. Das sind keine Spinnereien eines verbitterten Strafverfolgers, das ist pure Realität.

Während sich etwa internationale Drogensyndikate, Menschenhändler oder Rockerbanden wenig um Grenzen von Bundesländern oder europäischen Staaten scheren, scheitern die Ermittlungen schon auf EU-Ebene an natio­nalen Ressentiments, unterschiedlichen Rechtssystemen oder gar an totalem Desinteresse. All das politische Sonntagsgerede von der besseren Zusammenarbeit der Justizbehörden hat nichts mit der Realität zu tun. Trotz Europol, trotz Eurojust (der europäischen Staatsanwaltschaft), trotz grenzüberschreitender Datenübermittlung ist das Projekt des gemeinsamen europäischen Ermittlungsraums illusionär.

In Wahrheit puzzeln viele europäische Ermittlungsstellen alleine vor sich herum. In den Niederlanden – von wo 90 Prozent der synthetischen Modedrogen nach Deutschland kommen – arbeitet man zum Beispiel nach einem ganz anderen Strafverfolgungsprinzip als bei uns. Bekommen Justiz oder Exekutive hierzulande Wind von einer Straftat, müssen sie ermitteln, ohne Wenn und Aber. Bei der niederländischen Polizei ist das ganz anders: Hier geht es darum, ob man den Fall als so gravierend einstuft, dass ihm nachgegangen werden muss.

Entscheidend ist aber vor allem, dass Hollands Justiz entsprechende Mittel für solche Ermittlungen bereitstellt. Ansonsten fällt die Angelegenheit hinten runter. Kein Wunder also, dass Bitten um Amtshilfe von unseren Nachbarn mitunter gar nicht oder nur schleppend angepackt werden. Beim Geld hört die Freundschaft auf – auch oder gerade in Europa.

Das Schlimmste aber ist die Ignoranz – nämlich die Ignoranz dessen, was nicht sein darf.

Dazu muss man wissen, dass Ermittlungsverfahren im Bereich der organisierten Kriminalität (OK) eine lange Vorlaufzeit haben. Meist dauern solche Nachforschungen Monate, oft Jahre. Wir ermitteln im verdeckten Bereich, mit Telefonfonüberwachung, Informanten, verdeckten Ermittlern, Bewegungsbildern, Wanzen, Videoüberwachung etc. Bevor aber all dies zum Einsatz kommt, müssen OK-Ermittler dezidierte Hinweise zusammengetragen haben, dass eine neue bandenmäßige Organisation auf den Plan getreten ist. Wenn es gut läuft, verfügen die großen Polizeibehörden über Auswertestellen, die Informationen aus dem kriminellen Milieu bündeln und Alarm schlagen, wenn die Analytiker auffällige kriminelle Aktivitäten rund um Personen entdecken, die miteinander in Verbindung stehen. Oder aber Spitzel aus dem Milieu liefern Hinweise auf eine Verbrecherbande, die sich gerade breitgemacht hat.

Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder, die Auswertestelle kommt zu dem Ergebnis, dass womöglich eine neue Bande aktiv ist – oder aber das Verfahren wird von der Kripo oder auch der Staatsanwaltschaft »kaputtgeschrieben«. Damit zitiere ich nur den üblichen Polizeijargon. So etwas passiert insbesondere dann, wenn die Kapazitäten der OK-Dienststellen der Polizei vollauf mit anderen Ermittlungen beschäftigt sind. Die Folge: Deutsche Strafverfolger bekommen eigentlich nur stichpunktartig mit, wie und wo die überwiegend ausländischen Verbrechersyndikate über­all operieren. Vieles davon bleibt im Dunkeln.

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