In diesem Teil der Arbeit soll ein Überblick über den derzeitigen Wissenstand der Forschung und die derzeitige fachliche Diskussion um ADHS vermittelt werden. Neben der Beschreibung der Verhaltensvariante ADHS und des Vorgehens bei der Diagnostik werden die beiden konkurrierenden Paradigmen, auf der einen Seite das medizinische und auf der anderen Seite das psychologische Paradigma, vorgestellt und hinterfragt. Im Anschluss daran werden die drei in Deutschland gängigsten Therapieansätze - die medikamentöse Therapie, die Verhaltenstherapie und die multimodale Therapie - dargestellt. Das darauf folgende Teilkapitel ist den neueren Forschungsergebnissen und den daraus resultierenden Schlussfolgerungen für den Umgang mit der Diagnose ADHS gewidmet.
„Vieles ist klar, manches ist bewiesen, zu vieles ist noch unklar“
(DRÜE 2007, S. 48)
ADHS gehört derzeit zu den am häufigsten diagnostizierten kinder- und jugendpsychiatrischen Störungen (Ahrbeck 2007). In Abhängigkeit von diagnostischen Kriterien und der Auswahl der Stichproben schwanken die Angaben der Häufigkeit von ADHS zwischen 3% und 15% der Bevölkerung, wobei Jungen häufiger davon betroffen sind als Mädchen; in den verschiedenen Studien wird ein Verhältnis von 3-9 : 1 angegeben (Heinemann & Hopf 2006). Es werden zwar mehrere Ursachen für dieses Missverhältnis diskutiert, gegenwärtig erklärt jedoch keine dieser Theorien das Missverhältnis zwischen Jungen und Mädchen hinreichend.
Aktuellen Schätzungen nach werden derzeit weltweit 80 Millionen Kinder mit Amphetaminen behandelt weil sie an ADHS leiden (Leuzinger-Bohleber 2006). Im Hinblick auf die stetig steigenden Fallzahlen von Kindern, bei denen ADHS diagnostiziert wird, taucht die berechtigte Frage auf, ob ADHS nur eine Modediagnose unserer heutigen Gesellschaft ist und ob jedes Kind, das hyperaktive Verhaltensweisen aufzeigt, auch behandlungsbedürftig ist. Den Medien zufolge halten manche Erziehungsfehler für die Ursache von ADHS, andere behaupten, ADHS werde als Ausrede für Lernfaulheit benutzt und sei lediglich eine Charakterschwäche; und einige Wissenschaftler können anhand von Studien belegen, dass ADHS genetisch bedingt ist. Doch was bedeutet die Diagnose ADHS? Unterscheiden sich Kinder mit der Diagnose ADHS wirklich von anderen Kindern? Wenn ja, worin?
„Kinder mit eine[m] ADHS werden allgemein als Zappelphilippe beschrieben, denn ihre äußerlich sichtbare und nervende motorische Unruhe fällt recht bald auf. Die motorische Unruhe ist das, was man zuerst wahrnimmt, jedoch bildet sie nicht, wie viele meinen, das eigentliche Problem, sondern sie gibt ,nur' die im Kopf und im Körper herrschende Unruhe nach außen wieder.“ (Drüe 2007, S. 46)
Nach Mattner (2004, S. 62) handelt es sich bei der Diagnose ADHS „nicht um ein einheitliches Störungsbild in Sinne der medizinischen Krankheitslehre, sondern lediglich um eine Verhaltensbeschreibung, wobei dieses Verhalten sehr unterschiedliche Ursachen besitzen kann“. ADHS ist ein sehr komplexes Erscheinungsbild. Es wird als Syndrom bezeichnet, das bedeutet, dass es als Sammelbecken für verschiedene Symptome dient (Köckenberger 2007). Aus dem Grundsatz der Syndromatologie[4] heraus ergibt sich das zentrale Problem bei der Diagnostik von ADHS: es kann nicht von den äußeren Symptomen her - durch das Messen und Beobachten von Verhalten - auf die zugrunde liegende Ursache geschlossen werden.
Detaillierte Beschreibungen des typischen Verhaltens von Kindern, welches auf die Diagnose ADHS hinweist, sind im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich, denn:
„Die Liste der Auffälligkeiten [ist] im Verlauf der letzten Jahre immer länger geworden [und] umfasst inzwischen nahezu alles, was am Verhalten eines Kindes auffallen kann.“ (HÜTHER & BONNEY 2005, S. 21)
Deshalb werde ich mich im Folgenden nur auf die Beschreibung der drei wesentlichen Hauptsymptome des ADHS beziehen, woran sich auch die Diagnostik von ADHS orientiert: Unaufmerksamkeit, Hyperaktivität und Impulsivität. Die drei Symptombereiche können gemeinsam oder getrennt voneinander auftreten. Bei einzelnen Kindern kann beispielsweise die Unaufmerksamkeit überwiegen, ohne dass eine motorische Unruhe oder Impulsivität festzustellen ist. Andere Kinder hingegen zeigen eine ausgeprägte motorische Unruhe und Impulsivität, ohne dass die typischen Symptome von Unaufmerksamkeit beobachtet werden. Folglich sind bei der Diagnostik verschiedene Subtypen zu unterscheiden (siehe Kapitel 2.2).
Neben den eben genannten Hauptsymptomen von ADHS können auch eine Reihe von Begleiterscheinungen und zusätzliche Störungen auftreten, die sehr starke Ähnlichkeit mit anderen Verhaltensauffälligkeiten aufweisen, bzw. mit ihnen identisch sind, und deren Erscheinen häufig die Ursache sind, dass überhaupt ein Arzt oder Psychologe konsultiert wird. Diese Störungen werden auch komorbide Störungen[5] genannt und betreffen: Lernstörungen/ Teilleistungsstörungen (Rechen- und Leseschwäche), oppositionelle Störungen, Depressionen, Ängste, Anfallsleiden (Tics), Störungen im Sozialverhalten, Suchtentwicklung, Schlafstörungen, Sprachentwicklungsstörungen, Einnässen (Neuy-Bartmann 2005; Ruf & Arthen 2006; Reuner & Oberle 2000; Henning 2004; Neraal 2007; Benecke et al 2007; Döpfner, Schürmann & Frölich 2002).
„Es ist bisher noch ungeklärt, ob die Begleiterkrankungen unmittelbar aus dem AD[H]S heraus entstehen oder daraus resultieren, dass der Betroffene eine problematische Entwicklung nimmt und viele Misserfolge hinnehmen muss (...). Bei 40 % aller AD[H]S- ler finden sich (...) Störungen, die gegebenenfalls einer umfangreichen Behandlung bedürfen. Einige dieser gesundheitlichen Beeinträchtigungen bessern sich erst, wenn auch das AD[H]S behandelt wird. Diese Begleiterscheinungen treten jedoch nicht bei jedem Betroffenen auf, und die Störungen können unterschiedlich ausgeprägt sein.“ (Neuy-Bartmann 2005, S. 67)
Kinder mit den genannten Symptomen, die auf ein ADHS hinweisen, befinden sich sehr schnell in einer Art Teufelskreis, indem sich zunächst die Familie den zunehmenden Belastungen durch das Verhalten ihres Kindes nicht gewachsen sieht. Enttäuschung und Schuldgefühle stellen sich oftmals bei den Eltern ein und das Kind erfährt zunehmend negative Rückmeldungen, Restriktionen, Bestrafungen und Ablehnung durch sein Umfeld. Dies wiederum führt dazu, dass das Kind wenig Selbstwertgefühl entwickeln kann, sich als Störenfried und/ oder Versager fühlt, durch sein Verhalten oftmals zum Außenseiter wird und darauf enttäuscht mit Rückzug oder auch mit Aggressionen reagiert. Automatisch nehmen Misserfolge zu und die schulischen Leistungen nehmen (meistens) ab (Panten 2007; Köckenberger 2007).
Sie fühlen sich missverstanden und alleingelassen, nicht mehr geliebt und als vollständiger Mensch akzeptiert. Sie verlieren das Vertrauen in sich und ihre Umwelt. Das auffällige Verhalten kann als Hilfeschrei, als heftiges Aufbäumen, als Mobilisierung letzter Überlebenskräfte angesehen werden, bevor die Kinder in der Teufelsspirale endgültig resignieren. Es gibt keine Auffälligkeiten ohne Grund!“ (Köckenberger 2007, S. 251)
Abb.1: Teufelskreis (KÖCKENBERGER 2007, S. 251)
Bei der Diagnose ADHS besteht immer die Gefahr einer dauerhaften Störung bzw. Entwicklungsgefährdung, die mit zum Teil „weitreichenden negativen, individuellen, gesundheitspolitischen und gesellschaftlichen Folgen bzw. Auswirkungen (z.B. hinsichtlich Schulabschlüssen, Sozialkontakten, Selektionsmaßnahmen...)“ verbunden ist (Beudels 2000, S. 92; vgl. auch Lauth, Schlottke & Naumann 2007). Nach derzeitigem Stand der Forschung tritt ADHS oftmals mit Beginn der Pubertät in den Hintergrund, verschwindet jedoch nicht gänzlich im Zuge von Reifungs- und Entwicklungsprozessen und begleitet die Betroffenen ihr Leben lang. Bleibt ADHS unerkannt und unbehandelt, erleben sie vom Kindes- bis hin ins Erwachsenenalter ständig neue Enttäuschungen und Niederlagen und produzieren täglich neu ihr Chaos, dass sie sich selbst nicht erklären können (Neuy-Bartmann 2005).
„AD[H]S ist für Betroffene und deren Angehörige immer eine Herausforderung, an der alle wachsen können, wenn sie bereit sind, sich ernsthaft und wertschätzend mit dem AD[H]S auseinanderzusetzen und neue Sichtweisen einzunehmen.“ (Neuy-Bartmann 2005, S.81)
An dieser Stelle ist es mir ein großes Anliegen, darauf aufmerksam zu machen, dass die Diagnose ADHS nicht nur mit negativen Seiten verbunden ist, sondern auch viele positive Aspekte, wie zum Beispiel die vielfältigen kreativen Fähigkeiten, welche Menschen mit der Diagnose ADHS oftmals haben, in sich birgt. Wenn es ihnen gelingt, ihr Leben zu organisieren und ihre Gefühle in den Griff zu bekommen, können „Menschen mit AD[H]S [...] unsere Welt mit ihrer Originalität und ihrer unkonventionellen Art sehr bereichern“ (Neuy-Bartmann 2005, S. 14f.). Als typische Eigenschaften...