1 Allgemeine Grundlagen der Diagnostik in der Psychotherapie
Anton-Rupert Laireiter und Karin Kalteis
1.1 Einleitung
Von den vielen Aufgaben, die Diagnostik in der Klinischen Psychologie hat (Befundung, Begutachtung, Erklärung, Indikation etc.; Röhrle et al. 2007), sind diejenigen im Rahmen der Psychotherapie von besonderer Bedeutung: Diagnostik übernimmt hier im Vergleich zu anderen Anwendungsbereichen eigene Aufgaben und ist zentraler Bestandteil derselben und Voraussetzung für diese. Die Bedeutung der Diagnostik für die Psychotherapie wird daher heute kaum mehr in Frage gestellt (Laireiter 2011a) und die Anzahl entsprechender Publikationen hat in den letzten Jahren zugenommen (z. B. grosse Holtforth et al. 2009; Röhrle et al. 2007). Auch sehen verschiedene Richtlinien, z. B. zur Dokumentation oder Qualitätssicherung (grosse Holtforth et al. 2009; Laireiter 2011c), Diagnostik als einen verpflichtenden Bestandteil der Psychotherapie.
Die Diagnostik selbst und das Verhältnis von Diagnostik und Therapie zueinander haben sich stark verändert: Vermehrt werden therapierelevante Methoden entwickelt (z. B. OPD, klinische Verhaltensanalyse, Therapietracking), ebenso wird anerkannt, dass der Wert der Diagnostik nicht nur zu Beginn einer Therapie gegeben ist, sondern auch in der Verlaufs- und Prozesssteuerung (Boswell et al. 2015) und für die Evaluation ( Kap. 3). Störungsbezogene Therapieprogramme haben vermehrt an Bedeutung gewonnen, exakte Diagnostik ist hier integraler Bestandteil einer qualitätsgerechten Durchführung (Röhrle et al. 2007).
Im vorliegenden Kapitel wird die Bedeutung, die die Diagnostik für die Psychotherapie besitzt, anhand ihrer spezifischen Funktionen in den verschiedenen Therapiephasen aufgezeigt. Abschließend werden Qualitätskriterien erörtert, die für deren Durchführung relevant sind.
1.2 Diagnostik im Prozess der Psychotherapie
Allgemein kann man drei große diagnostische Fragestellungen unterscheiden (Laireiter 2011a): Statuserfassung, Prozess- und Veränderungsdiagnostik sowie Evaluation. Diese entsprechen gleichzeitig den zentralen Aufgaben der Diagnostik im Verlauf der Psychotherapie (grosse Holtforth et al. 2009).
1.2.1 Diagnostik zu Therapiebeginn
Zu Therapiebeginn hat Diagnostik vor allem statusdiagnostische und indikatorische Aufgaben. Entsprechend wird diese häufig auch als indikative oder indikationsorientierte Diagnostik bezeichnet (grosse Holtforth et al. 2009).
Funktionen und Aufgabenbereiche von Diagnostik zu Therapiebeginn – indikationsorientierte Diagnostik (erweitert nach Laireiter 2011, S. 16 f.)
• Beschreibung/Identifikation und Erfassung psychischer Auffälligkeiten und Probleme
• Erfassung psychopathologischer Status (status psychicus) und Diagnostik der Suizidalität
• Klassifikation und Diagnostik psychischer Störungen
• Differenzialdiagnostik
• orientierungsspezifische Beschreibung, Erfassung und Analyse von Therapieproblemen (»Theorienbezogene Diagnostik«, z. B. Problem-/Verhaltensanalyse, psychodynamische Diagnostik, systemische Diagnostik)
• biografische Analyse und Anamnestik; Klärung ätiologischer Fragestellungen
• Klärung prognostischer Fragestellungen: möglicher Therapieverlauf, Störungsverlauf etc.
• Ressourcendiagnostik: Erfassung psychologischer und sozialer Ressourcen, Resilienz
• Analyse möglicher therapeutischer Zielvariablen und Zielbereiche (Goal Attainment Scaling, GAS)
• Unterstützung von Indikation, Fallkonzeption und Therapieplanung
• Dokumentation
• therapeutische Aufgaben: Rückmeldung, Psychoedukation etc.
• berufsrechtliche Aufgaben: Aufklärung, Informed Consent, Therapievereinbarung etc.
• Beginn evaluativer Diagnostik: Statuserhebung psychischer Auffälligkeiten, therapeutischer Zielvariablen, sonstiger evaluativer Parameter, Zielvereinbarungen und -festlegungen, Kernsymptomatik etc.
Neben der Einschätzung des psychopathologischen Status und der Vergabe von Diagnosen sind die Therapieprobleme im Sinne der jeweiligen Therapieorientierung zu erfassen und zu analysieren, um darauf aufbauend eine Fallkonzeption und eine therapeutische Strategie mit entsprechendem Vorgehen zu entwickeln.
Ein zentrales weiteres Element zu Therapiebeginn ist im Sinne der Sicherung der Prozess- und Ergebnisqualität die Durchführung quantifizierender Erhebungen, vor allem in den zentralen Behandlungsbereichen, den vereinbarten Therapiezielen (grosse Holtforth et al. 2009) und wichtigen Prozessvariablen, um nach späteren Erhebungen Veränderungsbeurteilungen vornehmen zu können ( Kap. 3). Welche Bereiche dabei erfasst und welche Verfahren eingesetzt werden sollen, wird kontrovers diskutiert (z. B. grosse Holtforth et al. 2009; Röhrle et al. 2007). Einigkeit besteht hingegen darin, dass qualitätssichernde Evaluation in der Praxis ökonomisch sein muss und sowohl die Kernsymptomatik wie auch darüber hinausgehende Bereiche, z. B. Befindlichkeit, zwischenmenschliche Probleme, Therapieziele und relevante Prozessvariablen, abdecken soll.
1.2.2 Diagnostik im Therapieverlauf
Nach Abschluss der diagnostischen und indikatorischen Phase (Probatorik) und der Genehmigung der Therapie durch den Kostenträger beginnt die eigentliche Behandlung, in deren Verlauf die Diagnostik neue Funktionen annimmt.
Funktionen und Aufgabenbereiche von Diagnostik im Therapieverlauf – therapiebegleitende Diagnostik (erweitert nach Laireiter 2011, S. 17 f.)
• Verlaufs- und Prozessmonitoring/Therapietracking: kontinuierliche Erfassung von
– psychischen Symptomen und therapeutischen Zielvariablen (Verlaufsdiagnostik)
– therapeutischen Prozessvariablen (Prozessdiagnostik)
• evaluative Diagnostik/ Zwischenevaluation(en):
– Status- und Veränderungsdiagnostik ( Kap. 3)
– Zielerreichungsbeurteilung (GAS)
• Unterstützung adaptiver Indikation
• Unterstützung weiterer Prognose
• Dokumentation
• therapeutische Aufgaben: Information, Psychoedukation, Einsicht etc.
• berufsrechtliche Aufgaben: Aufklärung, Informed Consent etc.
Die zentralste Funktion ist das Monitoring des Behandlungsverlaufs (therapiebegleitende Diagnostik, vgl. Schulte 1996) auf zwei Ebenen. Auf der ersten Ebene erbringt das Ergebnis- oder Verlaufsmonitoring die Grundlage für die Einschätzung, ob sich eine Therapie in die richtige Richtung hin entwickelt (positive Veränderungen der Therapieprobleme, Erreichung der avisierten Therapieziele). Auf der zweiten Ebene erlaubt die Erfassung zentraler Prozessvariablen (Prozessmonitoring) im Sinne Schultes (1996) zweigleisigem Therapiemodell eine Beurteilung, ob sich diese Variablen (Therapiemotivation, Beziehungsqualität etc.) im funktionalen Bereich bewegen, sodass ein entsprechender Therapieerfolg erwartet werden kann (grosse Holtforth et al. 2009; Laireiter 2011b). Im Falle nicht positiver Ergebnisse wären in beiden Fällen unterschiedliche Maßnahmen der adaptiven Indikation zu setzen (Laireiter 2011b): Abänderung der Therapieziele, Bearbeitung der Therapiemotivation, neue Indikationsentscheidungen, Überweisung in stationäre Therapie etc. (vgl. Lambert und Vermeersch 2008).
Hinsichtlich des Designs kann therapiebegleitende Diagnostik unterschiedlich betrieben werden (Laireiter 2011b): Im Rahmen prospektiver Erfassungen finden sich längere und kürzere Erhebungsintervalle. Längere Erfassungen werden im Rahmen von Zwischenevaluationen durchgeführt und entsprechen herkömmlicher Veränderungsmessung ( Kap. 3). Kurzfristige Erfassungen variieren zwischen hoch- (z. B. täglich bis mehrmals täglich) und niederfrequenten Aufzeichnungen (einmal wöchentlich bis seltener). Hochfrequente Aufzeichnungen werden meist im wissenschaftlichen Kontext appliziert (grosse Holtforth et al. 2009), in der Praxis findet man meist tägliche (Tagebücher) bis wöchentliche Aufzeichnungen (Sitzungs-, Postsession-, Intersession-Aufzeichnungen) (Hoyer et al. 2009).
Unter methodischer...