2 Befundungskonzepte
2.1 Beurteilung im Stand
2.1.1 Allgemeines
Physiologische Haltungs- und Bewegungsmuster im funktionellen Sinne ermöglichen unserem System „Körper“ nach dem Prinzip der Ökonomie zu leben: mit dem geringsten Aufwand das Größtmögliche zu erreichen. Ausreichende Mobilität im Sinne einer kraniokaudalen Elastizität aller Strukturen der Zentralsehne, eines von der Schädelbasis bis zum kleinen Becken reichenden Faszienzuges, sind dafür Grundvoraussetzung.
Aus der Embryologie wissen wir, dass das Centrum tendineum sich vom zervikalen Teil des Septum transversum ableitet und beim Hinabsteigen in der Embryonalphase die gesamten Faszien wie eine Säule nach sich zieht. Das Diaphragma abdominale trennt dann Brust- und Bauchhöhle und wahrt somit die Verbindung zwischen thorakalen und abdominalen Faszien.
Die kraniale Bedeckung des Diaphragma abdominale ist die Fascia endothoracica, die den Thorax innen auskleidet. Diese wiederum wird bedeckt von der Pleura der Lunge. So sind die faszialen Gewebe des Mediastinums als thorakaler Anteil eingebunden in das fasziale System der Zentralsehne. Die Aufhängung des Zwerchfells selbst wird durch das Perikard gewährleistet, das diesem während der Atembewegung als Punctum fixum dient.
Fascia endothoracica und Pleura setzen sich nach kaudal hin in der Fascia transversalis fort. Somit wird die Kontinuität ins Abdomen hergestellt. Nach dorsal/kaudal hin hat das Diaphragma abdominale mit seiner Unterseite Kontakt zur Nierenfaszie und zur Faszie des Psoas. Somit entsteht eine Verbindung zu absteigenden faszialen Strukturen der Wirbelsäule und der unteren Extremität.
Unmittelbar oberhalb des muskulären Beckenbodens, sozusagen als kaudaler Abschluss der abdominalen Blase, befindet sich die Faszie von Delbet oder auch Lamina pubo-vesico-utero-recto-sacralis. Sie wird gebildet von den Ligg. pubovesicale, vesicouterinum, rectouterinum, sacrouterinum und rectosacrale. Diese von anterior nach posterior verlaufende fasziale Struktur verbindet und stabilisiert die Harnblase, den Uterus/die Prostata und das Rektum gleichermaßen. Aufgrund der Ansätze am Os pubis und am Os sacrum stellt sie außerdem den Kontakt zum knöchernen Beckenring her. Die funktionelle Einheit „LWS, Becken, Hüftgelenke, inklusive muskulärer, viszeraler und faszialer Strukturen dieser Region“ entsteht. Als solche funktionelle Einheit übernehmen die Gewebe Haltefunktion, unterstützen den Druckausgleich und stabilisieren die WS und die ISG.
Der Mundboden und die obere Thoraxapertur wahren die Verbindung zwischen kranialen/zervikalen und den thorakalen Faszien. Im Wesentlichen sind es die Faszienhüllen der kurzen Nackenmuskeln, der Mundbodenmuskulatur sowie der supra- und infrahyalen Muskulatur und die Sibson-Faszie (Kap. ▶ 6), die die Kontinuität und vor allem eine funktionelle Einheit von Schädel, Kiefer, HWS und Thorax herstellen.
Von der Schädelbasis absteigend finden wir die Fascia interpterygoidea und die Fascia palatina, die über die Fascia pharyngobasilaris und das Perikard den Kreis zum Diaphragma abdominale schließen.
„Das Diaphragma verkörpert somit die Kontinuität der Faszien zwischen Schädelbasis, Hals, Thorax und Abdomen.“ (▶ [28], S. 83)
Eine ebenso wichtige Voraussetzung für physiologische Haltungs- und Bewegungsmuster im funktionellen Sinne ist die viskoelastische Beschaffenheit der unterschiedlichen Gewebe. Diese ist unmittelbar abhängig von dem Druck, der auf die Organe, deren Aufhängepunkte und deren Inhalt (Arterien, Venen, Lymphgefäße und Nerven) ausgeübt wird. Eine chronische Steigerung des Druckes durch z.B. Fehlhaltung, Übergewicht oder postchirurgische Zustände kann die viskoelastische Beschaffenheit und die Homöostase dieser Gewebe beeinträchtigen. Die Druckkräfte wirken auf muskuloparietale, viszeroabdominale, thorakale und kraniale Sphären.
Auch die posturale Funktion des Diaphragma abdominale spielt eine große Rolle für die physiologische Haltung und Bewegung. Zusätzlich zur Atmung sorgt es mit Unterstützung des M. transversus abdominis und der Beckenbodenmuskulatur für die Stabilisation der Abschnitte BWS/Thorax und LWS/Becken. Durch deren Kontraktion erhöht sich der intraabdominale Druck, der wiederum im Sinne einer Koaptation auf die LWS wirkt.
Schließlich dürfen wir den Einfluss der Psyche nicht vergessen. Jeder Mensch hat seinen ureigenen Atemrhythmus, von dem er sich leiten lässt. Er spiegelt zu jeder Zeit dessen seelische Verfassung wider. Auch diese drückt sich, wie uns allen nur zu gut bekannt ist, in der Haltung des Menschen aus.
Atmung, seelische Verfassung, fasziale Züge, Druckunterschiede und Körperhaltung bedingen sich gegenseitig und sind aufs Engste miteinander verbunden.
Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit der Beurteilung der Haltung im Stand.
2.1.2 Vorgehensweise
Es ist in keiner Weise sinnvoll, sich im Detail zu verlieren. Ein spezifisches Gewebe in Dysfunktion zieht Reaktionen der umgebenden Region nach sich. Dies ermöglicht uns eine Herangehensweise vom Globalen zum Spezifischen. So ist es wichtig, wesentliche Auffälligkeiten der im Folgenden genannten Kriterien, die am besten einen Eindruck über den Zustand der Atmung, der seelischen Verfassung, der faszialen Züge, der Druckunterschiede und der Posturalität vermitteln, zu beobachten:
Neigung der KLA nach anterior oder posterior
WS-Krümmungen auf allen drei Ebenen
Thoraxdeformitäten
vorgewölbter Ober- und/oder Unterbauch
Extremitätenfehlstellungen
Fuß- und Beinachsen
Narben und Trophik der Haut
2.2 Inhibitionstest
Die Diaphragmen reagieren häufig im Sinne einer Kompensation.
Sollten sie dennoch als primäre Dysfunktion auftreten, lassen sie sich wie jedes andere Gewebe, das als primäre Dysfunktion eine Rolle spielt, durch Inhibitionstests aufdecken. Als Parameter eignen sich die faszialen Arm- und Beinzüge. Sie sind einfach und schnell durchzuführen, zeigen deutlich vorhandene Restriktionen und ebenso deutlich eine Verbesserung.
Diese Möglichkeit der Diagnostik ergibt sich aus dem Vorhandensein verschiedener neurophysiologischer Prozesse.
Alois Brügger prägte den Begriff nozizeptiver somatomotorischer Blockierungseffekt, abgekürzt NSB (▶ Abb. 2.1). Dieser Blockierungseffekt als efferente Antwort des Systems auf eine vorliegende Afferenz dient der Schonung derselben – eine Leistung im Dienste der Schonung des Krankheitsherdes.
Unter normalen Bedingungen werden Muskeltätigkeiten durch propriozeptive Systeme reguliert. Das Beispiel des Tractus iliotibialis lässt das fein abgestimmte Zusammenspiel zwischen bewegendem und bewegtem Teil erkennen. Während der Standbeinphase erfährt der Oberschenkelknochen eine Biegespannung. Dieser wirkt der Tractus iliotibialis entgegen, indem er bei seiner Kontraktion den Trochanter major als Hypomochlion nutzt. Die Spannungsverhätnisse von Kapsel, Bursa, Ligamenten und Knochen sowie die Dekontraktion der antagonistischen Muskelgruppen passen sich einander an. Ein hochdifferenzierter Rezeptorenapparat steht dem Organismus hierfür zur Verfügung: Sehnenspindeln, um die Spannungsverhältnisse an den Sehnen zu messen; Muskelspindeln,...