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Didaktik. Eine Einführung

Terhart, Ewald - Erläuterungen; Erziehungsfragen; Bildung - 18515 - Aktual. und erw. Ausgabe 2019

AutorEwald Terhart
VerlagReclam Verlag
Erscheinungsjahr2019
ReiheReclams Universal-Bibliothek 
Seitenanzahl256 Seiten
ISBN9783159614311
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis6,49 EUR
In der Didaktik geht es um Lehren und Lernen. Diese bewährte Einführung vermittelt eine Übersicht über die Grundlagen des Lehrens und Lernens sowie über traditionelle und neuere didaktische Theorien und Modelle. Sie stellt so wichtige Voraussetzungen für die erfolgreiche Gestaltung und Reflexion von Unterricht bereit.Neu sind in dieser aktualisierten und erweiterten Ausgabe Kapitel zur Hattie-Studie, zur Heterogenität von Schülergruppen und zu den neuesten Unterrichtstheorien.

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Leseprobe

5.2 Elemente Neuer Lernkulturen


Findet Lernen in organisierter Form statt, so ist dies in aller Regel mit dem Vorhandensein irgendeiner Form von Lehre (Unterweisung, Anleitung, Unterstützung, Beratung …) verbunden. Damit verbunden schließen organisierte Lehr-Lern-Prozesse inhaltlich und methodisch artikulierte Lehrpläne oder Lehrprogramme ein, eine juristisch wie psychologisch privilegierte Stellung des Lehrenden, Verfahren der Sortierung und Kanalisierung von Lerngruppen entlang den verschiedenen Entscheidungspunkten eines Bildungswesens sowie einen festgelegten Modus der Erteilung von Berechtigungen und Zertifikaten, die dann gegebenenfalls bestimmte Optionen für weitere Bildungsabsichten eröffnen bzw. verschließen. Organisiertes Lehren und Lernen findet außerhalb des ›gewöhnlichen‹ Lebenszusammenhangs statt; Lernzeit ist ausgelagerte, spezialisierte Lebenszeit, deren Nutzen sich, so das Versprechen, erst sehr viel später erweisen wird. Die Makro- und Mikroorganisation von Lehr- und Lern-Prozessen ist mit bestimmten Vorteilen verbunden, zugleich aber sind hieran auch bestimmte Nachteile geknüpft. Vor- und Nachteile lassen sich jedoch nicht pauschal gegeneinander aufrechnen, sondern sind je nach Lernanlass, Lerngruppe, Lehrerqualität, Kontext und Lern-Absicht unterschiedlich zu gewichten.

Zum tradierten Selbstverständnis selbstorganisierten Lernens gehört es, sich angesichts dieser Lage von den als negativ beurteilten Aspekten und Folgen des Schul-Lernens kritisch abzusetzen und sich gerade durch den Hinweis auf Entschulung, Freiwilligkeit, radikalen Adressatenbezug etc. positiv zu konstituieren. Denn erst unter der Bedingung von Ent-Institutionalisierung verliert die Formel vom »lebenslangen Lernen« ihren ja immer auch bedrohlichen Charakter. Gleichwohl aber wird dieser Anspruch vor allem im Bereich der Lehr- und Lernmethoden in der Erwachsenenbildung nicht immer eingelöst; dies vor allem dort, wo es um enge,betriebsinterne Schulungs- und Trainingsverfahren geht. Damit aber stellt sich die Frage, ob nicht viele bisherige Formen der Erwachsenenbildung entgegen ihrem Selbstanspruch faktisch nicht doch eher eine Art Verlängerung des Schul-Lernens darstellen, und ob deshalb nicht nach viel grundsätzlicheren Alternativen gesucht werden muss, die den abhängig-machenden und -haltenden Charakter von organisiertem und methodisiertem Lehren und Lernen überwinden. Konstruktive Antworten auf diese Fragen werden gegenwärtig im Bereich des mehr oder weniger vollständig selbstorganisierten Lernens entwickelt.

Selbstorganisiertes Lernen wendet sich kritisch gegen Formen und Folgen einer Verschulung und außengesteuerten Methodisierung des Lernens: Gegen die Organisiertheit und damit immer auch gegen eine an allgemeinen Kriterien orientierte administrative Regulation von Lehr- und Lernverhältnissen setzen die Verfechter des selbstorganisierten Lernens das Prinzip der Befolgung spontaner Lernanlässe durch die Betroffenen selbst. Hierdurch soll der Situationsbezug gesichert werden. Gegen die Position eines bevorrechtigten Lehrers oder Experten setzt selbstorganisiertes Lernen eine Art gemeinschaftliches Gruppenlernen, in dessen Verlauf jeder je nach Gelegenheit, Kompetenz und Bedarf Lehrender und Lernender sein kann. Damit soll der Entstehung von Expertenkulturen (mit verlängerter oder gar verstärkter Abhängigkeit der Laien) entgegengewirkt, Partizipation auch material möglich werden. Übergreifende, standardisierte Lehrpläne können entfallen, ebenso ein Zertifikationswesen, denn selbstorganisierte Lernprozesse sollen unmittelbar bedürfnis- oder gebrauchswertorientiert ablaufen. Damit wird das herkömmliche schulische Lernen ›auf Vorrat‹ überwunden zugunsten einer direkten Verbindung des Lernens zu erfahrbaren, aktuellen Problemlagen. Hieran geknüpft ist eine optimistische Anthropologie, welche auf die eigendynamischen und selbstregulativen Kräfte der Menschen setzt. Alles in allem wird selbstorganisiertes Lernen von der grundlegenden Idee getragen, die historisch gewordene Absonderung von Lernen und Leben aufzuheben und dadurch die Chancen für ein situationsbezogenes, lebenspraktisch bedeutsames, intrinsisch motiviertes Lernen zu erhöhen.

Geht man davon aus, dass die Etablierung eines öffentlichen Schul- und Unterrichtswesens ein wichtiges Element im Prozess der Entstehung moderner Gesellschaften ist, so ist in dieser Kritik sowie in den hierauf beruhenden Konzepten eine deutliche Absetzbewegung von den ›modernen‹ Schul- und Unterrichtsverhältnissen, vielleicht sogar von modernen Gesellschaften generell zu sehen. (Die Protagonisten der neuen Lernkulturen halten dagegen, dass diese Ausdruck einer zweiten, reflexiven Moderne sind.) Nicht zufällig ist die Entschulungsdebatte ursprünglich von Theoretikern aus der so genannten »Dritten Welt« ausgelöst worden, die sich gegen den einfachen Export von Bildungsvorstellungen und -institutionen aus den Industrienationen in Entwicklungsländer gewandt haben, weil sie dies für untauglich und sogar gefährlich hielten. Die Kritik blieb jedoch nicht auf die Exportabsichten beschränkt, sondern wirkte zurück auf die Schul- und Bildungskultur der ›exportierenden‹ Länder selbst und verband sich mit dort bereits vorhandenen schul- und institutionenkritischen Positionen. Diese Bündelung verschiedener Ideenströme aus Entschulungsdebatte sowie traditioneller (z. B. reformpädagogischer) und moderner Schulkritik war in den 1980er Jahren im Bereich der sog. Alternativpädagogik und der Alternativschulbewegung zu beobachten. Eine vollkommen neue und grundsätzlich ›alternative‹ Didaktik und Methodik ist im Rahmen von Schulunterricht jedoch bislang nicht explizit entwickelt worden. Immerhin könnte man bei weitester Auslegung des Begriffs die verschiedenen Postulate einer schüler-, handlungs- und erfahrungsorientierten Unterrichtsplanung und -gestaltung in diesem Sinne ausdeuten. Schulisch verfasste Lehr-Lern-Prozesse scheinen dem radikalen Anspruch auf selbstorganisiertes Lernen derzeit konträr gegenüber zu stehen. In außerschulischen Lehr-Lern-Feldern dagegen sind die Umrisse einer »alternativen Didaktik« schon eher erkennbar (vgl. als Übersicht: Fuhr 1986).

Was sich seit den 1980er Jahren aus der Praxis der Alternativpädagogik und der (damals) Neuen sozialen Bewegungen (Ökologie-, Friedens- und Frauenbewegung etc.) heraus als alternative Didaktik und selbstorganisiertes Lernen an den Rändern des pädagogischen mainstream abzeichnete, ist in den 1990er Jahren zur Diskussion um Neue Lernkulturen ausgeweitet worden. Derart ausgeweitet, hat diese Entwicklung ihren Weg in das pädagogisch-didaktische Establishment gefunden und ist dort mittlerweile prominent vertreten. Deutlicher Ausdruck der Umwandlung von einer zunächst kleinen, kritischen Alternative am Rande zu einer breiten, ja mittlerweile geradezu staatstragenden Massenbewegung ist z. B. das »Forum Bildung«.

Dieses Forum ist vom Bund und von den Ländern eingesetzt worden und hat zwischen 1999 und 2001 in elf Bänden Analysen und Handreichungen zur Bildungs- und Lernentwicklung innerhalb und außerhalb der Schule vorgelegt. Im Forum Bildung hat der Staat selbst seine bisherige Konzentration auf die eigene Staats-Schule und vor allem: auf das dort veranstaltete verschulte Lehren und Lernen selbst kritisiert und relativiert. Insofern hat man es mit der Paradoxie zu tun, dass staatliche Stellen sich vielfältige Kritiken, Argumentationen und Konzepte zu eigen machen, die man ursprünglich und eigentlich im Lager alter und neuer Staats- und Schulkritiker sowie Reformpädagogen vermutet hat. So ungewöhnlich ist dies jedoch nicht, denn in gewisser Weise spielt sich die Entwicklung des Schul- und Bildungssystems schon immer im Wechselspiel von staatlicher Modernisierung und deren Verfestigung einerseits und von außen kommenden weiterführenden Reformimpulsen alternativer Art andererseits ab. Letztere haben dann – meistens in gemäßigter Form – doch ihren Nachhall im staatlichen Regelsystem gefunden und dieses vorangetrieben. Dies ist ein unabschließbarer Prozess: Denn die jeweils vorgefundene, reformbedürftige Bildungslandschaft ist schließlich immer das Ergebnis der letzten Reform. Und deshalb kann die Devise nur immer wieder lauten: Neue Reform!

Die Tatsache, dass die Neuen Lernkulturen eine solche Breitenwirkung erfahren konnten, hat sicherlich auch damit zu tun, dass seit Mitte der 1990er Jahre (beginnend mit der internationalen Vergleichsstudie zum mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht, genannt TIMSS, und dann fortgeführt durch die diversen PISA-Erhebungswellen; vgl. Terhart 2002) das Bildungswesen in seinen Effekten, Prozessen, Strukturen und Voraussetzungen in der Öffentlichkeit sehr stark kritisiert worden ist. Der daraus resultierende Handlungsdruck weist in zwei Richtungen:

Zum einen ist aus den in der Tat sehr bedenklichen Resultaten für Deutschland der Schluss gezogen worden, durch die Erarbeitung allgemeingültiger und konkreter Bildungsstandards für die verschiedenen Jahrgangsstufen, Fächer und Schulformen präzise zu definieren, was eigentlich vom Bildungssystem erreicht werden soll. Dabei wird die Einführung dieser Bildungsstandards von kontinuierlichen Lernstandserhebungen begleitet, die einer flächendeckenden Systembeobachtung, einem Qualitätsmonitoring ›von oben‹ dienen sollen. Diese Richtung könnte man als die eher ›harte‹ Reaktion auf PISA bezeichnen: Genug geredet – nun wird Ernst gemacht!

Zum anderen hat man sich darauf verlegt, eine Art...

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