WENN DIE LERNLUST SCHWINDET
Kennen Sie dieses unbeschreiblich tolle Gefühl, wenn Ihr Kind mittags aus der Schule kommt, sich ohne Aufforderung an die Hausaufgaben setzt, sie voll motiviert in einem Rutsch erledigt und hinterher auch noch freiwillig die Lateinvokabeln wiederholt? – Ich auch nicht. Deshalb habe ich dieses Buch geschrieben.
DER ERNST DES LEBENS
In den ersten beiden Grundschuljahren fragte ich meinen Sohn, wenn er mittags von der Schule kam, häufig, wie es denn gewesen sei. »Toll!«, strahlte er jedes Mal. Was denn so toll gewesen sei, wollte ich wissen. Und täglich glich seine Antwort der vom Vortag: Mit glänzenden Augen erzählte er mir, was er wieder Neues gelernt hatte, von dem Riesenspaß, der super Action und all dem Spannenden, das die Schule ihm täglich bot – in den P-A-U-S-E-N. Nach dem Unterricht selbst befragt, winkte er oft ab. Die Schule war für ihn trotz guter Noten eher Nebensache und Zeitverschwendung. Alles andere als lustig! Er hatte sie in die Kiste »Notwendiges Übel« gepackt. Und diesen Ort hat sie bis heute nur hin und wieder verlassen. Der schwerfällige »Ernst des Lebens« konnte nicht konkurrieren mit dem pulsierenden Leben außerhalb des Unterrichts, das die Schule für 20 Minuten am Tag zuließ. Nein, »Schule« hatte niemals eine reelle Chance gegen all die Lernerfahrungen in der großen Pause. Und so wie meinem Sohn geht es vielen Kindern.
In den ersten Lebensjahren sind die Kinder zutiefst beglückt von jeder neuen Lernerfahrung und lechzen geradezu danach, in die Schule zu kommen! Eine Einrichtung, die verspricht, dass sie täglich Neues entdecken und lernen können.
Es dauert aber keine zwei, drei Jahre, dann ist bei vielen die Lernfreude bereits deutlich gedämpft. So wie bei Max, der seine Mutter schon in der 2. Klasse fragte, wie viele Jahre er denn in die Schule gehen müsse. Die Mutter erklärte ihm, das käme auf die Schule an, die er besuchen würde – neun, zehn oder zwölf Jahre. Max’ Antwort: »Dann gehe ich auf jeden Fall in die Hauptschule, da bin ich schneller fertig!« Spätestens wenn es die ersten Noten gibt, gehen viele Kinder mit mulmigen Gefühlen zur Schule. Manche sogar mit Angst. Nachmittags fließen die ersten Tränen, und nicht wenige Kinder klagen über Einschlafstörungen, Bauchschmerzen und Übelkeit. Die unbändige Lernlust ist plötzlich wie verflogen. Sicher nicht bei allen. Aber die Lustkurve sinkt deutlich. Die »Guten« laufen mit im System, doch auch von ihnen kommen zunehmend Klagen. Sind die Schüler dann an weiterführenden Schulen, tragen sie neben ihren Schulbüchern bereits einen dicken Lernfrust mit im Schulranzen herum.
Was ist da passiert? Wie kommt es, dass Kinder, die ihren ersten Schultag mit Begeisterung antreten, sich schon bald dem Lernen verweigern? Im Laufe der Jahre habe ich viele Schüler dazu befragt. Herausgekommen ist eine Liste der 10 größten Lernlustkiller.
LERNLUST UND LERNERFOLG SIND UNTRENNBAR VERBUNDEN
Derzeit gibt es kein größeres Problem in unserem Bildungssystem als das der Motivation. Die Mehrheit der Schüler an weiterführenden Schulen hat »keinen Bock« auf Lernen. Sie ist »voll genervt«, hasst es, den ganzen Vormittag lang »zugelabert« zu werden, findet den größten Teil des Unterrichts langweilig und den Stoff häufig »überflüssig«. Wenn Unterricht ausfällt, schwappt eine Begeisterungswelle durch das Klassenzimmer. Mittags sind die Jugendlichen froh, wenn sie das Schulhaus so schnell wie möglich verlassen können. Lernen macht meist wenig bis gar keine Freude. Zumindest nicht in der Schule. »Lust« ist ein Begriff, den wir im Zusammenhang mit Schule kaum hören oder lesen – »Leistung« schon. Lehrern und Schulbehörden kommt es in erster Linie darauf an, dass Schüler etwas leisten. Viele Eltern dagegen bedauern, dass ihre Sprösslinge immer seltener einfach nur Kind sein können. Sie sind oft zerrissen zwischen dem Schuldruck und dem Wunsch, dass sich ihre Kinder entfalten können. Aber im Zweifelsfall spielen auch für sie die Noten die alles entscheidende Rolle.
Dabei wird eines gern übersehen: Lernerfolg und Lernlust sind untrennbar verbunden. Sie gehören zusammen wie Wasser und Seife. Wer mit Spaß und Lust lernt, ist in der Regel zu Höchstleistungen fähig. Und wer beim Lernen viele Erfolgserlebnisse hat, ist motiviert, noch mehr zu leisten.
MANGELNDE LERNLUST – NICHT NUR DAS PROBLEM DER SCHÜLER
Unter dem Motivationsproblem der Schüler leiden nicht nur sie selbst, sondern auch Eltern und Lehrer. Viele Eltern beobachten besorgt, wie ihre Kinder nachmittags lustlos am Schreibtisch vor sich hinträumen, statt Hausaufgaben zu machen. Wie sie das Lernen oft bis auf den letzten Drücker hinausschieben. Und jeder Lehrer hat Schüler, die auf ihren Stühlen lümmeln und sich teilnahmslos berieseln lassen. Mit ihren Gedanken sind sie bei »Germany’s Next Topmodel«, beim Bundesliga-Neuzugang oder was sie am Nachmittag mit den Freunden unternehmen werden. Pubertierende haben wahrlich andere Sorgen als die Schule!
Da stellt sich die Frage: Wieso gehen viele Kinder so ungern in die Schule? Wieso macht das Lernen so wenig Spaß? Und wieso haben sie scheinbar so wenig Lust, sich anzustrengen? Diesen Fragen gehe ich im Folgenden nach. Dabei begebe ich mich auf die Suche nach den Wurzeln des Lernfrustes: Wo stehen wir den Kindern als Eltern, Lehrer und mit unserem Schulsystem im Weg? Wo zerstören wir ihre Lernlust sogar, weil wir es nicht besser wissen? Und wo könnten wir ansetzen, um in unseren Kindern das Lernfeuer neu zu entfachen, damit sie wieder motiviert sind und mehr Spaß an der Schule haben?
PISA – DER SCHIEFE TURM DER BILDUNGSLANDSCHAFT
Für die Schulbehörden steht das Thema »Lernlust« nicht oben auf der Agenda. Das Wort »Spaß« im Zusammenhang mit Schule ist eher verpönt. Vielmehr geht es um Leistung – und das Kriterium dafür sind die internationalen Leistungstests PISA, TIMSS, IGLU usw. Durch die Bildungslandschaft zieht die »Testeritis«. Dennoch steht der Turm von Pisa schief. Nicht nur in der Toskana. Die PISA-Studien zementieren alle paar Jahre von Neuem die Schieflage unseres Schulsystems. Während Bildungsexperten in den Kultusministerien über das noch immer schlechte PISA-Abschneiden diskutieren, macht sich an der Basis der Schullandschaft in den letzten Jahren zunehmend Unmut breit: Lehrer, Pädagogen, Psychologen, Philosophen und Hirnforscher veröffentlichen Bücher, die für eine Schule kämpfen, in die die Kinder gerne gehen. Bekannte Fernsehformate und Talkshows greifen schulische Missstände auf. Dokumentationen und Kinofilme zeigen das ganze Ausmaß der Schulmisere und stellen Modellschulen vor, wie sie sich die Kinder wünschen. Organisationen und Initiativen werden gegründet, in denen sich veränderungswillige Eltern und Lehrer zusammenfinden, um die Schule hirn- und damit kindgerechter zu gestalten. Hirnforscher reisen durch die Lande und verbreiten die aktuellsten Erkenntnisse der Neurowissenschaften und ihre Bedeutung für Lernen und Bildung. Vieles davon ist der Schulpädagogik seit Langem bekannt – aber sie ignoriert es weitgehend, ergreift ihre Chancen nur spärlich und verwehrt damit den Kindern viele Entwicklungsmöglichkeiten.
Die Reaktionen in der Fachwelt sind geteilt. Sie bilden zwei Fronten: die Innovativen, die Windmühlen bauen und aktiv mithelfen wollen beim großen Wurf, Schule zu transformieren. Und die eher Konservativen, die Mauern errichten, gerne alles beim Alten lassen möchten und allenfalls offen sind für kleine Korrekturen.
WINDMÜHLENBAUER WAGEN DAS NEUE – MAUERBAUER HABEN ANGST
Zu den Windmühlenbauern gehören viele verzweifelte Eltern, die sich für eine »neue« Schule engagieren, weil sie es satthaben, ihre Kinder täglich mit viel Überredungskünsten oder unter Androhung von Strafen zum Lernen zu zwingen. Die sich durch die Schule nicht mehr die Harmonie in der Familie zerstören lassen wollen. Dazu gehören die vielen engagierten, motivierten LehrerInnen, die ihre Schüler nicht länger dem permanenten Beurteilungsdiktat aussetzen möchten. Lehrer, die lieber fördern als selektieren. Windmühlenbauer sind auch eine wachsende Gruppe innovativer SchulleiterInnen, die mutig neue, unerprobte Wege gehen. Und Windmühlenbauer sind aufgeschlossene und interessierte Beamte in der Schulbürokratie, die erkannt haben, dass die Schulen vor ganz neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen stehen, und sich daher für eine neue, kindgerechte Schulkultur einsetzen.
Mauerbauer dagegen sind Eltern, die sich überhaupt nicht vorstellen können, dass Lernen ohne Druck möglich ist. Eltern, die diese ganze Schuldebatte überflüssig finden: »Aus uns ist ja schließlich auch was Ordentliches geworden!«
Zu den Mauerbauern gehören Lehrer, die sich angegriffen fühlen und zurückziehen, weil sie mit Schuldzuweisungen konfrontiert werden. Die Angst vor all den Veränderungen haben, weil sie ihr Lebenswerk infrage gestellt sehen: »Soll falsch gewesen sein, wie wir jahrelang unseren Unterricht gestaltet haben?«
Mauern bauen auch Schulleiter, denen himmelangst wird, wenn sie an die kontroversen Diskussionen im Lehrerzimmer denken. Die befürchten, dass all die neuen Ideen eine organisatorische Katastrophe heraufbeschwören, sobald sie diese einmal im Haus haben.
DER ARZT SIEHT DEN PATIENTEN NICHT
Ganz ehrlich: Ich verstehe die Angst der Eltern, ihre Kinder könnten nicht genug lernen. Ich verstehe die Wut der Lehrer, die permanent angegriffen werden und für ihre Arbeit nicht genügend Wertschätzung erhalten. Und ich...