Vorwort
Unter den vielen Büchern von Heinz Zahrnt in meinem Regal ist mir eines besonders ans Herz gewachsen. Es ist ein kleines Bändchen mit einem braunen Pappeinband mit dem Titel »Der Mensch an der Grenze«. Innen steht »Military Government Information Control 1947«. Heinz Zahrnt hat es mir zur Einführung als hannoversche Landesbischöfin geschenkt und in seiner unverkennbaren Schrift mit der stets verwendeten grünen Tinte hinein geschrieben: »Für Margot Käßmann. Ich gedenke der alten Zeit, der vergangenen Jahre (Ps 77) und wünsche gute neue Zeit in noch vielen zukünftigen Jahren. Heinz Zahrnt.«
Ich habe dieses Büchlein noch einmal gelesen in der Vorbereitung auf diesen Band mit Texten zu Heinz Zahrnts 100. Geburtstag. Es war sein erstes Buch, 1946 geschrieben. Und es hat mich gefesselt wie alle seine Bücher. Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem er vier Jahre als Soldat war, ist es ihm gelungen, die großen Fragen nach dem Sinn des Lebens, nach dem Umgang mit Leid, Schuld und Verzweiflung zu benennen, ja in ein Gespräch zu bringen, denn es handelt sich um einen fiktiven Briefwechsel. Er zeigt eine Gabe, die Heinz Zahrnt bis zu seinem letzten Buch »Glauben unter leerem Himmel« ausgezeichnet hat: Die großen Glaubens- und Lebensfragen so in Worte zu fassen, dass Theologie lebendig, spannend, mitreißend wird. Die Leserin und der Leser beginnen mitzudenken, seine Gedanken aufzugreifen und in ein Gespräch mit eigenen Gedanken zu bringen.
Genau das zeichnet das Buch aus, das ich als erstes von ihm gelesen habe und das sein wohl bekanntestes ist: »Die Sache mit Gott«. Es wurde mir geschenkt zum Beginn meines Theologiestudiums 1977 und hat mir einen weiten Horizont eröffnet, in den ich einordnen konnte, was mir begegnete. Der SPIEGEL schrieb dazu 1967 (Ausgabe 6): »Zahrnt macht die Höhen und Tiefen, die Hintergründe und Auswirkungen der protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert wie in einer gewaltigen dramatischen Handlung anschaulich. Da gibt es die Hauptakteure: Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer, Rudolf Bultmann und Paul Tillich. Dazu werden Nebenrollen verteilt: so etwa an Friedrich Gogarten, Emil Brunner, Paul Althaus, Helmut Thielicke, an die Schüler Bultmanns und an Wolfhart Pannenberg. Selbstverständlich können bei diesem Schauspiel nicht alle Theologen mitwirken, aber sie dürfen es auch nicht, denn der Autor, der zugleich Regisseur ist, behält in virtuoser Führung alle Fäden in der Hand, um sein Ziel zu erreichen. Dieses theologische Drama ist höchst spannend, erweckt Aufmerksamkeit und reizt zum Widerspruch.« Wer die Auszüge aus dem Buch hier nachliest, wird auch ein halbes Jahrhundert später beeindruckt sein von dieser Regieleistung. Auf jeden Fall hatte ich den Eindruck: Ich begreife Zusammenhänge, beginne zu verstehen, worum es diesen Männern der Theologie ging und geht – Frauen kamen in der Tat nicht vor.
Heinz Zahrnt war Pfarrer und Studentenpfarrer. Er hat das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt in Hamburg mit aufgebaut und als sein theologischer Chefredakteur den evangelischen Diskurs in Deutschland viele Jahre geprägt. Er war Mitglied im Präsidium des Deutschen Evangelischen Kirchentages und 1971/73 auch Kirchentagspräsident. Vor allem aber war er Autor, der seinen Leserinnen und Lesern theologische Grundfragen und theologische Erkenntnisse nahegebracht hat, etwa in »Jesus aus Nazareth«, »Das Leben Gottes« oder auch »Gott kann nicht sterben«. Immer wieder hat er dafür plädiert, Glaube und Vernunft nicht auseinanderzureißen, was ihm heftige Kritik von evangelikalen Kreisen einbrachte. Aber wer in diesem Sammelband noch einmal nachliest, wie er über Auferstehung schreibt, vom Bericht des Paulus im ersten Korintherbrief her die Entstehung des Osterglaubens nachzeichnet, aber klar macht: »Die Wahrheit des Ostergeschehens erschließt sich nicht dem historischen Wissen, sondern allein dem Glauben«, kann nur als hilfreich wahrnehmen, wie Historisches erklärt und die Glaubensfrage gestellt wird. Zahrnt plädiert dafür, dass sich der Glaube den Anfragen der säkularen Welt, des Atheismus zu stellen hat, etwa in »Gotteswende. Christsein zwischen Atheismus und Neuer Religiosität«. Damit war er für viele hilfreich, die nach Sprache für den Glauben suchen in einer Zeit, in der er mit alten Formeln meist nicht zu vermitteln ist. Im Grunde hat Heinz Zahrnt ein Leben lang darum gerungen, Gott ins Gespräch zu bringen.
Gesehen habe ich Heinz Zahrnt von weitem bei Vorträgen auf Kirchentagen. Als ich selbst zur Generalsekretärin gewählt wurde, begegnete er mir mit großer Skepsis. Mit der ökumenischen Bewegung verband er keine positiven Assoziationen, warum, habe ich nie ganz verstanden, vermutlich war er schlicht nicht mit ihr in Berührung gekommen. Dass ich bei Konrad Raiser über den Ökumenischen Rat der Kirchen promoviert hatte, sah er daher nicht gerade als Ausweis angemessener Kompetenz für die Leitung des Kirchentages. Und so stichelte er gern gegen mich mit der Anrede »Meine liebe Frau Doktor Generalsekretärin«. Im Laufe der Jahre kam er aber immer wieder in Fulda vorbei und lud mich dort oder anderswo zu einem langen Essen ein, bei dem wir über Gott und die Welt sprachen, manches Mal gemeinsam mit Klaus von Bismarck. Ich hatte den Eindruck, die beiden Männer, die dem Deutschen Evangelischen Kirchentag seit seiner Gründung eng verbunden waren, wollten mir weitergeben, was den Kirchentag ausgemacht hat, welche Bedeutung er in der Nachkriegszeit hatte, was Reinold von Thadden-Trieglaff und die anderen Gründer angetrieben hatte. Das waren für mich Stunden lebendiger deutscher Kirchengeschichte.
Und so entwickelte sich mit den Jahren die Anrede zu »meine Liebe« und war zunehmend mit Sympathie ausgedrückt. Eines Tages rief Heinz Zahrnt mich an und sagte: »Liebes, es wird nicht mehr so sehr lange dauern, denke ich. Würden Sie mich beerdigen?« Ich habe das als Auszeichnung empfunden, ich mochte Heinz Zahrnt sehr, sehr gern. Und manchmal musste ich dabei auch lachen. In Präsidiumssitzungen des Kirchentages saß er am liebsten neben Ernst Benda. Und wenn ihn dann ein Thema langweilte, begannen die beiden Männer miteinander Nebengespräche zu führen wie Schuljungen, sodass ich sie manchmal bitten musste, leiser zu sein. Dann feixten sie wie Lausbuben, das war nicht zu fassen. Sobald es um Dinge ging, die Heinz Zahrnt für Unsinn hielt, allem voran feministische Theologie, verlor er jede Contenance. Die Kirchentagsübersetzung in inklusiver Sprache und mit Berücksichtigung des sozialen Kontextes sowie der Erfahrungen des jüdisch-christlichen Dialogs nahm er regelmäßig und mit großem Vergnügen auf die Schippe. Und wenn er sich in etwas verbissen hatte, konnte er radikal dafür kämpfen. Für den Leipziger Kirchentag 1997 etwa wollte er unbedingt die Losung durchsetzen »Wer die Hand an den Pflug legt und schaut zurück, ist nicht gemacht für das Reich Gottes«. Als die Mehrheit sich für »Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben« entschied, war er verärgert und sah diese Entscheidung als eklatanten Fehler an.
Als »Urgestein des Kirchentages« gab es für Heinz Zahrnt ein paar Sonderregeln. Etwa die, dass er an allen drei Abenden einen Vortrag hielt. Das wurde manchmal hinterfragt, weil es nicht dem Schema entsprach, die Vorträge vormittags um elf Uhr zu halten, aber diese Vorträge setzte er immer wieder durch und sein Publikum dankte es ihm. Es waren dichte und gut besuchte Abende. Beim Stuttgarter Kirchentag 1999 erklärte er, das sei für ihn nun das letzte Mal, und ich konnte ihn am Samstagabend bei diesem Vortrag aus dem Kirchentag verabschieden. Damit ging 50 Jahre nach seiner Gründung ein Stück Kirchentagsgeschichte zu Ende, so haben die meisten Anwesenden das empfunden, denke ich.
Als ich im November 2003 auf dem Weg zur EKD Synode war, rief mich Dorothee Merseburger Zahrnt an, ihr Mann sei in der Nacht gestorben. Am 14. November haben wir ihn in Soest beerdigt. Es war eine würdige Trauerfeier, in der Heinz Zahrnt der Theologe, aber auch der Vater und Ehemann zur Sprache kam. Daher bildet die Traueransprache den Abschluss dieses Bandes. Beim anschließenden Beisammensein haben viele, die von Heinz Zahrnt geprägt waren, Erinnerungen an ihn geteilt, etwa Arnd Brummer, der einer seiner Nachfolger war als Chefredakteur des Sonntagsblattes. Oder der Journalist Ezzelino von Wedel. Letzterer erzählte, dass er Heinz Zahrnts Kirchenwitze so geschätzt hatte. Alle konnten zustimmen, er konnte unnachahmlich Witze erzählen, bei denen oft Bischof Lilje, Bischof Dibelius oder auch Martin Niemöller vorkamen. Aber dann hat Ezzelino von Wedel versucht, Zahrnt diese Witze vor dem Mikrofon erzählen zu lassen, um daraus eine Hörfunksendung zu machen. Das ist leider nicht möglich gewesen, weil klar wurde: Zahrnt brauchte den Menschen als Gegenüber, um zu erzählen.
So entstanden oft auch seine Texte. Er sandte mir ab und an einen Text zu, bat mich, ihn zu lesen, um dann am Telefon hin und her abzuwägen, ob das eine gute Formulierung sei oder nicht. Das habe ich stets bewundert, diese Art und Weise, Worte abzuwägen, Formulierungen zu verwerfen, um bessere zu finden. Und so entstanden wunderbare sprachliche Bilder. Eines, das ich besonders mag, ist: »Am Sterbebett lautet das letzte Wort des Arztes ›Exitus‹ – die christliche Beerdigungsliturgie nimmt dieses Wort auf und verwandelt den Exitus in den Introitus: ›Der Herr behüte deinen Ausgang und Eingang von nun an bis in Ewigkeit.‹ (Psalm 121,8). So wird der Tod aus dem Exitus zum Transitus, aus dem Ausgang zu einem Durchgang und Übergang.« Er stammt aus seinem letzten Buch »Glauben unter leerem Himmel«. Während dieses Buch entstand, habe ich ihn einmal in Soest besucht, wo er mit seiner zweiten Frau lebte, die dort...