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E-Book

Die 21

Eine Reise ins Land der koptischen Martyrer

AutorMartin Mosebach
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl272 Seiten
ISBN9783644904125
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Im Frühjahr 2017 reiste Martin Mosebach nach Ägypten. Er besuchte im Dorf El-Or die Familien der 21 koptischen Männer, die zwei Jahre zuvor von IS-Terroristen an einem Strand in Libyen ermordet worden waren. Er saß in Empfangszimmern, durch die die Schwalben flogen, und machte sich ein Bild: von den Madonnenbildern und Jesus-Porträts an den Wänden, den grob geschreinerten Reliquienschränken, von einer Lebenswelt, in der alles die Spiegelung oder Erfüllung biblischer Vorgänge ist. Immer wieder wurde ihm, umgeben von Kindern, Ziegen, Kälbern, auf einem iPad das grausame Propagandavideo des IS vorgeführt; er staunte über den unbefangenen Umgang damit. Von Rache war nie die Rede, sondern vom Stolz, einen Martyrer in der Familie zu haben, einen Heiligen, der im Himmel ist. So erscheinen die 21 auf den neuen Ikonen gekrönt wie Könige. Martin Mosebach hat ein Reisebuch geschrieben über seine Begegnung mit einer fremden Gesellschaft und einer Kirche, die den Glauben und die Liturgie der frühen Christenheit bewahrt hat - der «Kirche der Martyrer», in der das irdische Leben von der himmlischen Sphäre nur wie durch ein Eihäutchen geschieden ist. Er traf den Bischof und die koptischen Geistlichen der 21 Wanderarbeiter, besuchte ihre Kirchen und Klöster. In den Zeiten des Kampfes der Kulturen sind die Kopten als Minderheit im muslimischen Ägypten zu einem politischen Faktor geworden - und zu einer Art religiösen Gegengesellschaft. Damit ist dieses Buch auch ein Bericht aus dem Innenleben eines arabischen Landes zwischen biblischer Vergangenheit und den Einkaufszentren von Neu-Kairo.

Martin Mosebach, geboren 1951 in Frankfurt am Main, war zunächst Jurist, dann wandte er sich dem Schreiben zu. Seit 1983 veröffentlicht er Romane, dazu Erzählungen, Gedichte, Libretti und Essays über Kunst und Literatur, über Reisen, über religiöse, historische und politische Themen. Dafür hat er zahlreiche Auszeichnungen und Preise erhalten, etwa den Heinrich-von-Kleist-Preis, den Großen Literaturpreis der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, den Georg-Büchner-Preis und die Goethe-Plakette der Stadt Frankfurt. Er ist Mitglied der Akademie für Sprache und Dichtung, der Deutschen Akademie der Künste in Berlin-Brandenburg sowie der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und lebt in Frankfurt am Main.

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Leseprobe

2 Worüber ich nicht schreibe und worüber ich schreibe


Die einundzwanzig koptischen Wanderarbeiter wurden an einem libyschen Strand geköpft, nachdem der Anführer der Mörder den «barmherzigen Gott» angerufen hatte; das Video, das die Ermordung dokumentiert, bezeichnet sich als «Antwort Mohammeds» und als Botschaft an die «Nation des Kreuzes». Das ist eine deutliche Sprache – die Situation scheint keiner weiteren Erklärung zu bedürfen. Zwei Parteien stehen sich paritätisch gegenüber, auf jeden Ermordeten kommt ein Mörder. Das war den Regisseuren des Vorgangs offenbar wichtig: daß die heilige Reinigung der Welt von jedem einzelnen Reinen vollzogen werden muß. Daß es notwendig ist, sich dafür die Hände schmutzig zu machen, daß der Tod der Ungläubigen gut ist, aber daß es ebenso gut und gar noch besser ist, sie selbst und mit eigenen Händen zu töten – das ist ein Werk, das vollbracht werden muß, eine ernste Pflicht.

So meine ich die «Botschaft an die Nation des Kreuzes» verstehen zu sollen und weiß doch ebensowenig wie sonst jemand, wer die Hintermänner des Verbrechens wirklich waren. Masken verbargen die Gesichter der Täter, und auch nachdem einige von ihnen im Oktober 2017 festgenommen worden sind, darunter auch der Kameramann des Video, ist noch unbekannt, welchen Nationen sie alle angehört haben. Sie seien Mitglieder der kriegführenden und Terrorakte ausführenden Landsknechtstruppe «Islamischer Staat» – aber in Ägypten behaupten fromme, gebildete Muslime, hinter diesem schreckenverbreitenden Namen seien die widersprüchlichsten Interessen verborgen, die mit der Religion nichts, mit dem Einfluß der großen Mächte auf den Nahen Osten dagegen viel zu tun hätten. Wie könnten gläubige, gottliebende Menschen auf Mord ausziehen, fragen sie rhetorisch. Man müsse sich davor hüten, in dem Massaker das Kapitel eines Religionskrieges zu sehen – die Religion werde hier mißbraucht, um den Unfrieden in Ägypten anzuheizen, die Militärdiktatur zu rechtfertigen und die westlichen Staaten zum Eingreifen mit Waffen, Luftangriffen und Truppen anzustacheln.

Man versuche nur einmal, im Hinblick auf dieses Verbrechen die alte Kriminalistenfrage «Cui bono?» – «Wem nützt es?» – zu stellen. Die Antworten darauf werden aus einem grellbunten Strauß von Thesen bestehen. Beinahe jede der im Nahen Osten in den Krieg verwickelten Mächte wird man genannt hören; Amerikaner und Russen, die Diktatoren in Syrien und Ägypten und die ihnen feindlichen Muslimbrüder, Israel und die Golfstaaten, Iran und Türkei – alles ist irgendwie plausibel, weil ersichtlich keine der beteiligten Kräfte an einer Beendigung dieses «arabischen Dreißigjährigen Krieges» interessiert ist. Haben die Mörder in perversem Glaubenseifer gehandelt, oder sind sie gewissenlose Söldner, die sich für jede Art Bluttat gewinnen lassen? Tragen sie allein die Verantwortung, als jeder Beherrschung entzogene Terroristen, oder waren sie kleine, umhergeschobene Bauern auf einem Spielfeld, dessen eigentliche Parteien und deren Ziele ihnen selbst unbekannt sind?

Auch auf diese Fragen gibt es viele, allzu viele Antworten – Gutachten von hoher Sachkenntnis sind darunter, aber auch wilde Gerüchte, und gelegentlich gelangen sie beide zu einem ähnlichen Ergebnis. Und darf denn dem Selbstzeugnis der Täter, wie es sich in dem berüchtigten Video ausspricht, ohne weiteres geglaubt werden? Ist es nicht fahrlässig, Männern, die solcher Taten fähig sind, Vertrauen zu schenken?

Ich bekenne, daß mich diese Fragen nicht beschäftigt haben, als ich den Entschluß faßte, mehr über die enthaupteten Kopten erfahren zu wollen. Es ist mir, als ich nach Ägypten aufbrach, eben nicht darum gegangen, mehr über die Täter in Erfahrung zu bringen. Es genügte mir, sie in dem Dunkel zu lassen, das sie selbst für sich angestrebt haben. Die politische Lage, die den Hintergrund für das Massaker am libyschen Strand darstellt, kompliziert zu nennen ist ein schon betulicher Euphemismus. Soviel weiß jeder, der auch nur den oberflächlichsten Anteil nimmt an den an Widersprüchen reichen Nachrichten aus dieser Weltregion. Ob der Islam, die Religion des Propheten Mohammed, in seiner reinsten Form Elemente enthält, die das Zusammenleben mit Gläubigen anderer Religionen grundsätzlich erschweren – worüber heute heftig gestritten wird –, habe ich gleichfalls nicht zu ergründen gesucht. Hier wird deshalb der Islam nur dann erwähnt werden, wenn er die Lage der Kopten berührt.

Mich bewegte vielmehr das Schicksal der Ermordeten, für die, so vermute ich, alles ganz einfach gewesen war. Manche von ihnen konnten lesen, schreiben wohl eher nicht, es gab in ihrem Leben dafür keine Notwendigkeit. An den politischen Diskussionen der ägyptischen Intellektuellen haben sie nicht teilgenommen; was da erwogen wurde, wäre ihnen wahrscheinlich auch unverständlich geblieben, weil ihre tägliche Mühe jenen bescheidenen Bedürfnissen galt, die von erhabenem Standpunkt aus so unbedeutend scheinen: die Frau, die Eltern und die Kinder zu ernähren, auf ein neues Haus zu sparen, Saatgut für die kleinen Äcker zu kaufen, vielleicht sogar ein wenig für Unglücksfälle zur Seite zu legen – ein ganz in den täglichen Sorgen aufgehendes Leben zu führen, kaum anders als ihre Esel, denen sie bedenkenlos übergroße Lasten aufgeladen haben, weil sie selbst daran gewöhnt gewesen waren, solche zu tragen. Mit dem Kopf in die Ackerfurche gedrückt, jedes darüber hinausgehenden Gedankens unfähig – so könnte der westliche Zivilisationsmensch, aber auch der Kairiner Akademiker sie beschreiben, Stoff für ein solches Resümee ihrer Existenz wäre reichlich zu finden. Und doch wäre es falsch, jedenfalls sehr unvollständig.

Wir wollen heute hinter jedem Konflikt zwischen den Religionen vor allem politische und wirtschaftliche Motive vermuten, weil wir es für ausgeschlossen halten, daß der Glaube eines Menschen tatsächlich zur letzten und höchsten Wirklichkeit seines Lebens wird. Für die einundzwanzig koptischen Kleinbauern und Wanderarbeiter ist ihre Religion das aber gewesen. Sie lebten in einer Welt, in der es seit vielen Jahrhunderten nicht selbstverständlich war, Christ zu sein. Schon für die lange Reihe ihrer Vorfahren ging die Zugehörigkeit zum Christentum immer auch mit der Bereitschaft einher, für den Glauben Zeugnis abzulegen. Die Nachteile, die mit dem Christsein in Ägypten von jeher verbunden waren, kannten sie aufs beste. Diese äußerlich so schwachen Menschen mit ihrem kümmerlichen Dasein waren aber bereit, diese Nachteile hinzunehmen. Sie mußten nicht lange um die Entscheidung ringen: Was sie in Gestalt des Glaubens besaßen, war unendlich viel kostbarer für sie als alles, was sie hätten erwerben können, wenn sie ihn aufgaben. Das nackte Leben wäre ohne den Glauben wertlos für sie gewesen, es wäre ein bloßes Existieren, noch unter dem der Tiere, denn die Tiere sind in sich vollkommen, aber die Menschen sind unvollkommen, sie bedürfen zu ihrer Vollständigkeit der göttlichen Ergänzung.

Darum empfand ich einen Widerwillen, wenn ich von den Einundzwanzig als «Opfern des Terrorismus» reden hörte – das Wort «Opfer» kam mir zu passiv vor, Willenlosigkeit steckte darin, Unfreiwilligkeit, etwas Beklagenswertes. Das alles war, so meinte ich, den Einundzwanzig nicht angemessen. Ich vermutete eine mit innerer Unabhängigkeit verbundene Stärke in ihnen – als ob die Grausamkeit der Mörder ihr Innerstes nicht erreicht hätte.

Das Schicksal der koptischen Christen in Ägypten steht unter keinen guten Auspizien, man muß keine Sehergabe besitzen, um vorherzusagen, daß ihnen noch viele schwere Prüfungen bevorstehen. Aber das darf nicht vergessen lassen, daß es den Kopten seit der islamischen Eroberung des Landes im siebten Jahrhundert, also seit rund eintausendvierhundert Jahren, schlecht oder sehr schlecht ergangen ist. In der Gegenwart ist nur ein weiteres Kapitel der Plagen aufgeschlagen worden. Die Ermordung von Kopten hat wahrlich nicht mit den Einundzwanzig in Libyen begonnen – die Liste der Verbrechen, die ihr vorangegangen sind, ist lang, und was dem bis heute gefolgt ist, scheint die Schrecken immer noch überbieten zu wollen. Das Blut an den Wänden der Kairiner Peter-und-Paul-Kirche, wo vor Weihnachten 2016 neunundzwanzig Frauen samt dem Küster während ihres Gebets erschossen wurden, war noch nicht getrocknet, als in den Kirchen von Tanta über vierzig Gottesdienstbesucher dasselbe Schicksal erleiden mußten, und kaum war das geschehen, fielen Pilger in der Nähe von Minyia, darunter viele Kinder, islamistischen Mördern in die Hände.

Ist es da am Ende ungerecht, aus einer langen Reihe Greueltaten, die sich, wie es aussieht, auch in der Zukunft fortsetzen wird, einzig das Schicksal der Einundzwanzig herauszulösen? So etwas bekam ich von Kairiner Kopten zu hören, die der Kirche vorwarfen, die vielen Tötungen auf ägyptischem Boden zu beschweigen, um die Regierung nicht in Verlegenheit zu bringen, und die Einundzwanzig allein deshalb hervorzuheben, weil sie im Ausland ermordet worden sind. Ich versuchte dann zu erklären, was für mich den Unterschied zwischen den vielen Erschossenen und von Bomben Zerfetzten und den Einundzwanzig ausmachte: Sie waren nicht einfach nur wehrlos abgeschlachtet worden, sondern sie hatten sich kurz vor und sogar noch während ihrer Enthauptung vernehmlich zu Jesus Christus bekannt.

Da ich meinen Blick auf die Einundzwanzig beschränke, verzichte ich auch darauf, über die weitere Zukunft der Kopten in Ägypten zu spekulieren. Manchen mag meine fatalistische Sicht auf die Verhältnisse...

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