PROLOG
In den Städten herrschte brütende Hitze; Abkühlung fand man in der Wüste.
Auf den großen öffentlichen Plätzen flatterten Transparente. Menschen, die jahrzehntelang geknebelt gewesen waren, schrien sich heiser. Ganz Nordafrika war von Protesten lahmgelegt. Allerdings war es ein städtisches Phänomen, beleuchtet von Blitzlichtern und LEDs, koordiniert in den sozialen Netzwerken. Die Menschen auf dem Land blieben außerhalb des Fokus.
Ich blickte gen Süden. Ich wollte Berge erklimmen und über Dünen reiten, Flüsse befahren und unter Doumpalmen rasten. Ich wollte Abenteuer – die Wüste durchqueren, das Land zwischen Fez und Timbuktu erkunden. Insbesondere wollte ich der Route von Leo Africanus folgen, jenem Forscher des 16. Jahr-hunderts, der mit seinem Onkel um 1510 ins Königreich der Songhai reiste.
Mir ging es weniger darum, die Wüste zu »durchqueren«. Vielmehr reizte mich die Aussicht, in der Wüste zu reisen. Ich war nicht davon besessen, irgendeine unbekannte Route zu kartografieren oder einen Rekord zu brechen – ich wollte einfach die Menschen kennenlernen, die dort lebten. Von so etwas hatte ich, glaube ich, schon als Sechsjähriger geträumt. Wie so viele Gleichaltrige hatte ich damals zum ersten Mal die Sahara erblickt, wenn auch mittels einer Braunschen Röhre in einem Kasten aus Teakholz und vom sicheren Sattel der väterlichen Knie aus.
Seit jener erste Star Wars-Film die aufregenden Dünen von Tatooine ins Wohnzimmer meiner Familie geweht hatte, verband ich die Wüste mit Fremde und Ferne – sie war das ultimative Abenteuer. Wenn ich nachts unter meiner Bettdecke las, fesselten mich nicht Heyerdahls Kon-Tiki-Expedition oder Kiplings Dschungelbuch, sondern die Geschichten von Ali Baba und Sindbad. Regenwälder und arktische Pole hatten nie eine vergleichbare Wirkung auf mich. Immer war es die Wüste, die mir – ob in Mad Max und Der Wüstenplanet oder bei T. E. Lawrence und Sir Wilfred Thesiger – das Tor zu einer Welt öffnete, die sich grundlegend von meiner unterschied.
Zwar hatte Science-Fiction mein frühes Interesse an der Wüste geweckt, doch zu dieser speziellen Reise verlockte mich das nicht sonderlich faktengetreue Buch von Leo Africanus. Zuerst in Venedig unter dem Titel Della descrittione dell’Africa et delle cose notabili che iui sono (Die Beschreibung Afrikas und der bemerkenswerten Dinge, die es dort gibt) erschienen, hat es unter den zeitgenössischen Reisebeschreibungen kaum seinesgleichen. Mit seinem Fundus an Beobachtungen über Handel und Traditionen, Historien und Legenden, einer Menge Vorurteile des 16. Jahrhunderts und hin und wieder einer schlüpfrigen Anekdote beschwört es ein Afrika herauf, das gleichzeitig schwer fassbar und doch auf unheimliche Weise vertraut scheint.
Zuerst hatte ich vor, auf Leos Spuren unterwegs zu sein. Doch während meiner ersten Reise wurde mir klar, dass ich weniger die Parallelen zu seiner Reise suchte, sondern die Menschen, die er beschrieb – und ihre Nachfahren. Das Ziel einer Reise ergibt sich oft erst, wenn man sie schon angetreten hat: Je weiter ich ins Innere Nordafrikas vordrang, umso stärker faszinierten mich die Nomadengruppen, denen ich unterwegs begegnete. Ihre Welt sollte der Höhepunkt meiner Reise werden. Ich wollte mich in Timbuktu einer Kamelkarawane anschließen, einer Nomadengruppe auf dem Weg zu den Salzminen Nordmalis – ein würdiger Abschluss meines Abenteuers.
Tief in den Dünen Südmarokkos kampierte ich unter dem zerklüfteten Kamm eines schwarzen Berges bei einem Kameltreiber, einem Berber namens Salim. Ich ritt ein Kamel, das offenbar den Harlem Shake übte, fiel zweimal herunter, aß gesalzenes Ziegentrockenfleisch, das an Salims Sattel hing, und bot der lokalen Insektenpopulation ein Festmahl. Zu meinen bleibenden Erinnerungen zählt, wie ich es gerade noch aus dem Zelt schaffte, um mich zu übergeben. Dabei trat ich fast in mein eingetrocknetes Erbrochenes von kurz zuvor, während ich im Lichtstrahl meiner Taschenlampe entsetzt Hunderte stechende Augen aufglühen sah. Meine Lernkurve in der Wüste musste so steil ansteigen wie die Düne, der ich meinen ersten Sturz verdankte.
Schon lange vor meiner Reise waren die nordafrikanischen Städte in Aufruhr gewesen. Autoritäre Regime wurden gestürzt. Ägypten litt unter den Geburtswehen einer Revolution, Libyen erstickte im Bürgerkrieg. Ein paar Wochen zuvor hatten libysche Rebellen Oberst Gaddafi aus einem Abflussrohr gezogen. Seine Waffenarsenale fanden eine Vielzahl neue Besitzer, darunter auch die Tuareg, die in seiner Armee an vorderster Front gekämpft hatten.
Ich war in derselben Richtung unterwegs wie die Aufständischen – wovon ich glücklicherweise nichts ahnte. Mit einem Rucksack, der kaum mehr wog als meine Stiefel, reiste ich mit Bussen, auf Booten und gelegentlich auf einem Eselskarren. Die Jeeps der Kämpfenden waren mit Raketenabschussrampen, Minenwerfern und Maschinengewehren beladen. Als ich Timbuktu erreichte, braute sich der Wüstensturm bereits zusammen. Ich allerdings sah nur ein paar Staubwolken am Horizont.
Theoretisch hätte mein Timing noch schlimmer sein können, aber mir reichte es auch so. Eine Woche, bevor die Salzkarawane losziehen sollte, waren bewaffnete Dschihadisten in Timbuktu eingedrungen, während die ganze Stadt beim Freitagsgebet war. Sie hatten vier Touristen in ihrem Hotel überfallen und einen, der sich wehrte, erschossen. Eine Reise durch die Wüste war jetzt unvorstellbar, schon weil mich kein Karawanenführer mehr mitnehmen wollte. Also kehrte ich unverrichteter Dinge nach Hause zurück.
Einen Monat später war nicht mehr der Osten Libyens, sondern der Norden Malis das gefährlichste Gebiet Afrikas. Ein Militärposten nach dem anderen fiel. Ganze Landstriche der Sahara waren besetzt. In Bamako, der Hauptstadt Malis, kochte die Unzufriedenheit über, weil die Armee offenbar nicht in der Lage war, die Rebellion zu ersticken. Im März 2012 stürzte ein Putsch der Militärs den Präsidenten Amadou Toumani Touré. Mali drohte im Treibsand des Aufruhrs zu versinken. Die Kämpfer nutzten das Chaos in der Hauptstadt für ihre Zwecke und erklärten den Azawad, die Wüste im Norden Malis, für unabhängig. Gut ausgebildete Dschihadisten, mit Geldern der maghrebinischen Al-Qaida, fragwürdigen Spenden aus dem Nahen Osten und Lösegeldern naiver europäischer Regierungen üppig ausgestattet, schlossen sich ihnen zuerst an, bevor sie sich gegen sie wandten und sie später besiegten. Mali, lange Zeit einer der angenehmsten Staaten im Sahara-Gürtel, war zu einer ebenso unwirtlichen No-Go-Area geworden wie Syrien und der Irak.
Ein Jahr lang hing die schwarze Flagge der Dschihadisten im windstillen Timbuktu schlaff von den Fahnenstangen. Tristesse lag über der ganzen Stadt. Man hatte den Menschen die Musik verboten, Frauen mussten ihre Haare verdecken, und der Umgang zwischen Männern und Frauen war untersagt. Wer konnte, stimmte mit den Füßen ab: Während der Besatzung verließ ein Großteil der Bevölkerung die Stadt. Doch im Februar 2013 nahm die Geschichte erneut eine überraschende Wendung. Die französische Armee startete die Opération Serval und marschierte an der Spitze einer panafrikanischen Allianz in die Sahara ein, die Dschihadisten wurden aus Timbuktu und von anderen Stützpunkten vertrieben. Aber nach den ersten Siegesfeiern verhedderten sich die französischen Streitkräfte in den Niederungen des Langzeitkonflikts – ein bekanntes Phänomen. Mali blieb eine höchst bedrohliche Region, doch erstmals seit meinem letzten Aufenthalt schien eine Rückkehr denkbar.
Zwar zogen nun keine Salzkarawanen mehr durch die Wüste, doch es gab andere Gründe zurückzureisen. Ich wollte noch einmal zu jenen Nomaden, die ich in Nordafrika bereits kennengelernt hatte, und Bekanntschaft mit neuen schließen, um die Puzzleteile zu einem Bild des Nomadenlebens im 21. Jahrhundert zusammenzusetzen. Außerdem wollte ich meine Kenntnisse von der ersten Reise erweitern und von den Nomaden lernen, wie man Wasser holt, ein Kamel reitet und ein Lager aufschlägt.
Es war Zeit, bei ihnen in die Schule zu gehen.
Man stelle sich vor, man könnte heute noch zwischen Rhein und Donau reitenden Hunnen begegnen, in den Filzjurten der Skythen am Schwarzen Meer übernachten oder an der Ostseeküste in Schaffelle gekleidete Goten sehen. In Nordafrika leben die Berber, die Fulbe und die Tuareg (und andere, ähnlich alte Stämme) noch heute wie vor tausend Jahren. Ich möchte sie nicht idealisieren, aber bestimmt kann uns jede Lebensweise, die so lange überdauert hat, etwas lehren.
Je mehr ich über Nordafrika lernte, desto mehr fühlte ich mich den Nomaden verbunden, die dort mit größeren Herden in vielfältigeren Landschaften leben, als ich es sonst irgendwo erlebt habe. Auch unsere moderne, sesshafte Zivilisation wurzelt im Nomadenleben unserer Vorfahren und weist noch Spuren davon auf, obwohl das Umherziehen in Europa in den letzten Jahrhunderten fast völlig zum Erliegen gekommen ist. Seine größten Widersacher waren Einhegungen, Industrialisierung und Privatisierung.
Das Wort »Nomade« entstammt dem Altgriechischen: Nomeus ist der »Hirt«, nomé bedeutet »das Treiben von Vieh auf die Weide«, und so ist nomás »jemand, der mit einer Herde umherzieht«. Das arabische Wort badawi, bei uns zu »Beduine« mutiert, ist hingegen von bad’ abgeleitet, das »Anfang« heißt. Für die in der Wüste lebenden Araber war eine Existenz als Jäger und Sammler nicht möglich, die ursprüngliche Lebensweise, das Umherziehen als Hirte, war hier die einzige, die das Überleben sicherte. Genau deshalb wird das Nomadentum von den städtischen Arabern verachtet – warum so altmodisch leben, wenn man sein...