Kapitel I
Trommeln:
Cartagena
»Denk an deine Zukunft!«
Tun-tiki-tak-tun. Das ist ein ganz einfacher Rhythmus. Fácil. Simple. Was für Babys. Aber ich krieg ihn nicht hin. David schaut mich zweifelnd an, dann schlägt er noch einmal auf die Tischkante: Tun-tiki-tak-tun. Mal mit flacher, mal mit gekrümmter Hand; mal fest, mal sanft; mal nah an der Kante, mal voll auf die Tischplatte. Jeder Schlag klingt anders, klar, das kann ich hören. Aber es nachspielen? Als rhythmisch im Vergleich zu dem siebenjährigen Jungen, der inmitten von Trommeln, Tänzen und Gesängen aufgewachsen ist, anders begabte Mitteleuropäerin?
Hoffnungslos. Ich setze trotzdem an. Tak-taka-tak-tak. David schaut ungläubig, so als wollte er mich fragen, was bloß mit mir schiefgelaufen sei. Die andern am Tisch amüsieren sich sehr.
Ich bin in der Trommelschule der Tambores de Cabildo in La Boquilla, einem Stadtteil von Cartagena de Indias, an der kolumbianischen Karibikküste. Nur ein paar hundert Meter entfernt glitzert ein Sandstrand in der Sonne, türkisfarbene Wellen lecken träge daran – noch träger sind nur die paar Badegäste, die unter Sonnensegeln dösen.
Der Strand ist verführerisch. Aber ich bin nicht zum Baden hier. Vor drei Tagen bin ich in Cartagena angekommen, um zu erleben, wie sie hier an der Küste Musik machen. Eine Freundin hat mir den Kontakt zu Rafa vermittelt, dem Gründer der Trommelschule, und Rafa hat mich eingeladen, den Samstag in der Schule zu verbringen. Der Samstag ist ein guter Tag dafür, denn an Samstagen unterrichten sie hier den ganzen Tag.
Vormittags üben die Kinder direkt am Strand, unter einem Sonnenschutz aus Holz, Palmblättern und Plastik. Sie spielen den Llamador, die rufende Trommel, die der ganzen Truppe sagt, wo es langgeht. Sie schlagen den Tambor Alegre, die fröhliche Trommel, die dem Llamador folgt, und die große Basstrommel Tambora, die auf einem Gestell liegt und mit Stöcken gespielt wird. Später, am Nachmittag, werden die älteren Jugendlichen auf Fässern trommeln. Sie sind besonders laut. Ein Mädchen, vielleicht dreizehn, vierzehn Jahre alt, kann kaum über das Fass schauen, aus dem ihre Trommel gemacht ist. Aber das macht gar nichts. Sie steigt auf eine kleine Holzkiste und spielt mit so viel Power, Konzentration und Präzision drauflos wie alle anderen.
Wenn keine Instrumente in der Nähe sind, nehmen sie hier alte Farbeimer, Tüten, Flaschen, Plastikbecher, ihre Knie, ihre Wangen, ganz egal. In La Boquilla verpassen sie jedem noch so leblosen Ding den Groove. Thiago ist der Jüngste. Vielleicht zwei Jahre alt ist er und spielt, als hätte er nie etwas anderes in der Hand gehalten als Trommelstöcke. Mit dem Sprechen klappt es noch nicht so flüssig.
Unter dem Palmdach am Strand wärmen sie sich jetzt auf für den Unterricht, denn ein lockerer Körper macht bessere Musik. Die ersten Rhythmen klatschen sie mit den Händen; dann setzen sich die Kinder gruppenweise an die Instrumente und spielen nach, was die Großen ihnen vortrommeln: laute und leise Rhythmen; schnelle und langsame; zurückhaltende und fordernde. Die Gruppen wechseln sich oft ab, so kommt jeder dran. Zwischen ihnen ist Rafas schmale Gestalt ständig in Bewegung. Er läuft die Reihe der trommelnden Kinder auf und ab, feuert sie an, spielt vor, horcht konzentriert zu, korrigiert – er strahlt die ganze Zeit.
Die Lehrer erklären nicht viel, denn die Schüler lernen nach Gehör und indem sie versuchen, alles nachzuspielen. Eine Methode, die bei mir erwiesenermaßen nicht funktioniert. Aber die Kultur der Afrokolumbianer basiert auf mündlicher Übermittlung. Erinnerungen geben sie hier durch Gesänge weiter, Wissen durch Erzählungen, Können durch gemeinsames Tun. So ist es auch mit der Musik. Eine schriftliche Geschichtsschreibung gibt es hier kaum. Theorie ist was für Anfänger – oder für minderbemittelte Weiße.
Es gibt nur einen Merksatz, den einer der Lehrer immer wieder ansagt: »Wir, die Trommler von La Boquilla, modulieren die Klänge!« Soll heißen: Kinder, variiert euer Spiel und bearbeitet euer Instrument nicht immer stumpf auf die gleiche Art!
»Wir modulieren die Klänge!« – An den Satz erinnere ich mich noch, als wir später ein paar Sträßchen weiter im Hof der Trommelschule beim Mittagessen sitzen. Es gibt Fleisch mit Soße, Kokosreis und Zuckerwasser, alles selbst zubereitet. Mit am Tisch sitzen Rafa und die anderen Trommler, Cecilia, eine Sängerin, und Wilfran, ein strenger Tänzer, der heute gemeinsam mit zwei Kolleginnen und den Kindern eine kleine Choreografie erarbeitet hat. Wilfran fordert von seinen Schülern Disziplin.
Und am Tisch sitzt auch David, der Siebenjährige, Wilfrans Sohn, der keinen Moment vom Trommeln lassen kann und meinem Unvermögen völlig verständnislos begegnet. »Wir modulieren die Klänge!«, sagt sein Blick. Also noch mal: Tun-tiki-ta-tun? Diesmal scheint es ein wenig besser zu klappen, jedenfalls ernte ich Lachen und Nicken von den Erwachsenen am Tisch: »Sííí!« David scheint zufrieden. Vielleicht gibt er auch nur auf, ich kann es nicht recht erkennen. Wilfran grinst. Er kennt seinen Sohn. David ist ehrgeizig, »und er ist streng mit anderen«, sagt Rafa. Das hat der Kleine wohl von seinem Vater geerbt.
Rafa – vollständiger Name: Rafael Ramos Caraballo – stammt aus Cartagena und ist mit den Trommeln aufgewachsen. Klar, dass auch er als Junge trommeln lernte, vom Vater und vom Großvater. Rafa wurde Profi und ging mit Totó la Momposina auf Tour, einer der bekanntesten Sängerinnen Kolumbiens; heute produziert er Musik und organisiert Kulturevents. Der Entschluss, die Trommelschule zu gründen, sei in einer privaten Krise gefallen, sagt er. »Es gibt hier in der Karibik so viel Talent.« Talent, das sonst oft unbeachtet bleibt. Jugendliche, die nichts mit sich anzufangen wissen und auf die schiefe Bahn geraten.
Wer in Cartagena den richtigen Nachnamen hat, der die Herkunft aus der richtigen, einer etablierten Familie signalisiert, dem steht die Welt offen. Alle anderen müssen nehmen, was übrig bleibt. In der Trommelschule wollen sie etwas dagegen unternehmen, und sie opfern ihre Freizeit dafür. Alle, die heute hier unterrichten, tun das ehrenamtlich.
Im historischen Stadtkern Cartagenas: Passanten suchen Schutz vor der Mittagssonne, ein Limonadeverkäufer wartet auf Kunden.
Je mehr ich von La Boquilla sehe, desto besser verstehe ich, warum sie das tun. Der Ort steht in starkem Kontrast zu dem Cartagena, das Touristen kennen. Links und rechts von ihm erheben sich die schneeweißen Türme der Strandhotels. Es sind moderne Häuser mit allem Komfort, gebaut von internationalen Ketten, die in den vergangenen Jahren in Cartagena investiert haben.
Kolumbien wird friedlicher. Die Touristen kommen, und die Stadt hat, was viele suchen: kilometerlange weiße Strände, Sonne, Meer, eine malerische Altstadt mit dicken Schutzmauern; eine wechselhafte Geschichte, in der Piraten und Freiheitskämpfer, der Sklavenhandel und die Inquisition eine Rolle spielen. Einen Literaturnobelpreisträger, Gabriel García Márquez, der diese Geschichte in seinen Romanen einfing. Abends fahren Pferdekutschen die Besucher durch die historischen Straßen der Altstadt. Es gibt schicke Restaurants. Noble Hotels. Ein prächtiges Theater. Gerade kommt viel frisches Geld nach Cartagena.
Den Leuten von La Boquilla wäre es lieber, die Investoren blieben weg. »La Boquilla wird gentrifiziert«, sagt Rafa. Für die Einheimischen bleibt im wortwörtlichen Sinn kein Platz mehr. Denn die Hoteltürme rücken immer näher.
Früher war La Boquilla ein einfaches Fischerdorf. Doch seit so viel gebaut wird, gibt es keine Fische mehr. Für die Hotels hat man den Zufluss gekappt, der die Lagune an der Küste mit dem offenen Meer verband. Das Gewässer veränderte sich, die Fische starben. Vom Fischfang kann hier deshalb keiner mehr leben. Jeder nimmt, was sonst zu kriegen ist. Während in Cartagenas Altstadt die Wohlhabenden vor dem Problem stehen, sich zwischen vielen schicken Restaurants entscheiden zu müssen, geht es hier schlicht darum, die Familie satt zu kriegen.
Auf der Stadtmauer des alten Cartagena. Im Hintergrund erheben sich die neuen Hotel- und Apartmentkomplexe.
Wenn sie Glück haben, bekommen sie einen Job als Zimmermädchen, als Kellner oder auf dem Bau. Wenn sie Pech haben, bleiben sie daheim und leben von dem, was Angehörige und Freunde nach Hause bringen. Wer Pech hat und nicht daheim bleibt, wer die falsche Wahl trifft, der wird zum Drogenhändler – oder Konsumenten. Für Jugendliche bietet La Boquilla keine tollen Perspektiven. Dass Mädchen aus Sehnsucht nach Zärtlichkeit und einer intakten Familie früh schwanger werden, ist hier – und anderswo in den Armenvierteln Cartagenas – ganz normal. Normal ist auch, dass die Elite aus Politik und Wirtschaft sich um solche Verhältnisse nicht schert, solange sie ihre eigenen Schäfchen ins Trockene bringen kann.
Die schneeweißen Hoteltürme sind den kleinen bunten Häusern des Ortes schon bedrohlich nah gekommen. Manche Fischer haben ihre Grundstücke verkauft; doch weggezogen sind sie nicht. Wohin sollten sie auch gehen? Die Nachbarn haben einfach zusätzliche Trennwände in ihre Häuschen eingezogen, damit jeder wenigstens ein bisschen Privatsphäre hat, und die Obdachlosen aufgenommen. Jetzt leben alle so beengt, wie man sich das nur vorstellen kann. In manchen Betten schlafen drei Personen, sagt Rafa, mit allen Konflikten, die eine solche Enge verursacht. Das Geld aber, das die Verkäufer für ihre Grundstücke bekommen haben, ist längst verfrühstückt.
Was so ein Leben bedeutet, darüber haben die Kinder der Trommelschule...