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E-Book

Die Ameise als Tramp

Von biologischen Invasionen

AutorBernhard Kegel
VerlagDuMont Buchverlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl512 Seiten
ISBN9783832187217
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Kaninchenplage in Australien, Ameisen in Großcomputern und Krankenhäusern, Piranhas in französischen Flüssen - mit solchen Ereignissen beschäftigt sich die Invasionsbiologie. Seit jeher ist die Besiedlung neuer Lebensräume für Tiere und Pflanzen eine Überlebensfrage. Früher gab es Hindernisse, die sich der Reiselust widersetzten. Gebirge, Ozeane, Kontinente, Wüsten bildeten unüberwindbare Barrieren. Mit dem Erscheinen des modernen Menschen hat sich die Situation verändert. Ein Netz von Verkehrswegen verbindet, was über Jahrmillionen getrennt war. Bei Warentransporten von einem Kontinent zum anderen reist die Natur mit. Bernhard Kegels faszinierendes Buch erzählt, welche erstaunlichen Folgen das für uns und unsere Umwelt hat.

Bernhard Kegel, geboren 1953 in Berlin, studierte Chemie und Biologie an der Freien Universität Berlin, danach Forschungstätigkeit, Arbeit als ökologischer Gutachter und Lehrbeauftragter. Seit 1993 veröffentlichte er zahlreiche Romane und Sachbücher. Bernhard Kegels Bücher wurden mit mehreren Publizistikpreisen ausgezeichnet. Zuletzt erschienen bei DuMont >Ausgestorben, um zu bleiben< (2018) und >Die Natur der Zukunft< (2021). Der Autor lebt in Berlin.

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Leseprobe

Einleitung

»Damit uns kein Fehler unterläuft:

Wir erleben eine der großen historischen Umwälzungen

von Fauna und Flora dieser Welt.«

Charles Elton1

Frankreich, August 1993

Der Angler im südfranzösischen Département Lot-et-Garonne staunte nicht schlecht. Im Laufe der Zeit hatte er, abgesehen von ein paar Winzlingen, so ziemlich jede hier vorkommende Fischart zu Gesicht bekommen, aber was jetzt an seinem Haken zappelte, hatte er noch nie zuvor gesehen: 30 Zentimeter lang, ein flacher, scheibenförmiger Körper, silber-metallisch glänzend, an Bauch und Kiemen blutrot. Am auffälligsten waren die Zähne, unglaubliche Zähne, Zähne, die dem erfahrenen Angler sofort signalisierten, dass ein solches Tier normalerweise nicht hier lebte und hoffentlich auch nie hier leben würde. Als der zuständige Fischwart von dem Fang hörte, glaubte er zunächst an einen Scherz. Einige Tage später wurde ein zweites Tier gefangen. Es gab tatsächlich Piranhas in der Garonne! Die Behörden vermuten, dass sich ein Aquariumbesitzer im Fluss seiner heiklen Zöglinge entledigte.

Expansion ist ein Merkmal des Lebens. Überall und zu jeder Zeit versuchen sich Pflanzen und Tiere in neuen Lebensumständen. Sie tasten sich über die Grenzen ihrer bisherigen Existenz hinaus, scheitern und beginnen wieder von Neuem. Die Vielfalt der Anpassungen, die sich die Lebewesen zu diesem Zweck haben einfallen lassen, ist unüberschaubar. Sie laufen, schwimmen, fliegen, segeln, lassen sich treiben oder nutzen die Körper anderer Lebewesen als Taxiservice. Viele haben in ihrem Lebenszyklus spezielle Verbreitungsmechanismen entwickelt, Samen mit Fallschirmen oder Hafteinrichtungen, federleichte Sporen, mobile Larven. Sie gewährleisten, dass die zahlreichen Nachkommen über ein möglichst großes Gebiet verteilt werden. Verluste sind einkalkuliert. Die Entdeckung und Besiedlung neuer Lebensräume war und ist für Tiere und Pflanzen eine Überlebensfrage. Stillstand kann den Tod bedeuten. Tümpel trocknen aus, Seen verlanden, Wälder brennen ab, ganze Kontinente vereisen.

Lange Zeit gab es Hindernisse, die sich auch der ausgeprägtesten Reiselust widersetzten. Für einen Planktonkrebs der Karibik war es unmöglich, aus eigener Kraft in den tropischen Pazifik zu gelangen, genau so aussichtslos war der Versuch einer europäischen Maus, sich ins entlegene Tasmanien abzusetzen. Gebirge, Ozeane, Kontinente, Wüsten bildeten ein unüberwindbares Bis-hierher-und-nicht-weiter. Hätte es diese natürlichen Barrieren nicht gegeben, eine Fauna wie die Madagaskars, Australiens, Neuseelands, Hawaiis oder der Galapagos-Inseln mit ihren vielen Absonderlichkeiten hätte sich niemals entwickeln und erhalten können. Gerade ozeanische Inseln, von vielen Tausend Kilometern Wasser abgeschirmt, waren der ideale Nährboden für spektakuläre biologische Sonderwege, seien es die Beuteltiere in Australien oder die Riesenschildkröten auf Galapagos.

Mit dem Erscheinen des modernen Menschen hat sich die Situation grundlegend verändert. Vor dem Hintergrund einer Tier- und Pflanzenwelt, die darauf programmiert ist, sich zu vermehren und nach neuen Chancen und Lebensräumen zu suchen, beginnen wir die bestehenden Barrieren abzubauen, Kontinente zu durchstoßen und Ozeane zu verbinden. Ein immer dichter werdendes Netz von Verkehrswegen, von Kanälen, Straßen und Brücken, verknüpft, was über Jahrtausende und Jahrmillionen getrennt war. Schiffe und Flugzeuge transportieren unermessliche Warenmengen von einem Kontinent zum anderen.

Und die Natur reist mit, in Säcken, Ritzen und Kisten, verborgen im tonnenschweren Ballast aus Steinen, Erde und Wasser, versteckt hinter Rohren, Verkleidungen und Verstrebungen. Eine ganze Armada von Organismen lässt sich als blinde Passagiere mit verschiffen und landet so irgendwann an neuen Ufern. Andere reisen ganz offiziell, in Aktenkoffern, Spezialbehältern und Sammlungen, in Käfigen und schwimmenden Stallungen, sind Teil des explodierenden globalen Warenverkehrs. Manche werden in fernen Parks und Gärten gepflegt, brechen dann aus in die Freiheit, entkommen aus Umzäunungen, Gehegen und Zuchtfarmen oder werden ganz einfach in die Landschaft gekippt. Im Schlepptau der Menschen ergießt sich eine Welle von ökologischen Siegertypen selbst über die abgelegensten Gegenden der Erde. Eine Welt der unterscheidbaren Floren und Faunen wird so über kurz oder lang zum großen ›Durcheinander‹.

Die Biogeografie, die sich mit der Verbreitung von Tier- und Pflanzenarten beschäftigt, droht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Ihr geht es wie einem Kommissar, der am Tatort eines Verbrechens entscheidende Beweismittel verschoben, vertauscht und verändert vorfindet und daraus noch den Hergang der Tat rekonstruieren soll. In einem Fachbuch beklagte jüngst ein Tiergeograf, »dass es unmöglich geworden ist, sich einen befriedigenden Überblick über Ablauf und Ergebnis der durch Einschleppung oder absichtliche Einbürgerung bewirkten Faunenveränderungen zu verschaffen«. Überall auf der Erde werden der tiergeografischen Forschung und verwandten Disziplinen »Grundlagen entzogen und Quellen verschüttet«.2 Eine neue Wissenschaft erhält Aufwind, die Invasionsbiologie.

Da die Welt immer enger zusammenrückt und die viel gerühmte menschliche Lernfähigkeit in diesem Fall offenbar blockiert ist, wächst sich die organismische Reisefreudigkeit – ob als blinder Passagier oder als gehätschelter Pflegling – zu einem riesengroßen Problem aus. Prominente Wissenschaftler halten es neben der immer weiter fortschreitenden Biotopzerstörung für die größte Gefahr, die den verbliebenen Naturräumen dieser Erde heute droht. Für einige ist es schlicht das Umweltproblem der zweiten Hälfte dieses Jahrtausends.3 Die öffentliche Aufmerksamkeit ist gering, zumindest bei uns in Europa. Die globalen wirtschaftlichen und ökologischen Schäden sind dafür umso größer.

Eine vom amerikanischen Kongress in Auftrag gegebene Studie4 (des Office of Technology Assessment) kalkulierte den bis 1991 in den USA durch nicht-einheimische Arten verursachten volkswirtschaftlichen Schaden auf fast 100 Milliarden Dollar. Aus Mangel an Informationen wurde dabei nur ein Bruchteil der etwa 30.000 eingeschleppten Tier- und Pflanzenarten berücksichtigt. Auch die durch fremde Unkrautarten in der Landwirtschaft verursachten Verluste sowie Umweltschäden, etwa der Verlust einheimischer Pflanzen- und Tierarten, sind in dieser Summe nicht enthalten.

Neuere Untersuchungen gehen von weit höheren Zahlen aus. In den sechs Ländern USA, Großbritannien, Südafrika, Australien, Indien und Brasilien sollen über 120.000 eingeschleppte Pflanzen-, Tier- und Mikrobenarten für Schäden von mindestens 314 Milliarden Dollar verantwortlich sein – pro Jahr.5 David Pimentel von der Cornell University schätzt die jährlich allein in den USA entstehenden Schäden auf 120 Milliarden Dollar. In Deutschland summieren sich die von nur 20 ausgewählten fremden Pflanzen- und Tierarten verursachten Kosten laut Bundesumweltamt Jahr für Jahr auf maximal 263 Millionen Euro.6 Da die Zahl in der Natur etablierter Eindringlinge überall auf der Welt wächst und sie nur in Ausnahmefällen wieder zu beseitigen sind, werden die von ihnen verursachten Schäden weiter zunehmen.

Der Historiker Edward Tenner sieht darin einen typischen Racheeffekt, die offenbar unvermeidliche Konsequenz technologischer Innovation und allzu optimistischen Fortschrittsglaubens.7 Immer wieder und trotz aller einschlägigen Erfahrungen setzen die Menschen fatale Ereignisketten in Gang, die unumkehrbar sind. Oft sind handfeste ökonomische Interessen im Spiel, vielfach nur Ignoranz, Nostalgie oder romantisches Fernweh.

Freisetzungen fremder Pflanzen- und Tierarten geschahen in bester Absicht. Als Jagdwild, Pelzlieferanten, Schädlingsvertilger oder Erosionsschutz wurden sie geholt, als Waldzerstörer, Killer oder Verdränger einheimischen Lebens blieben sie. Die Namen, die man ihnen in ihren neuen Heimatländern gegeben hat, lassen erahnen, dass sie den Gastgebern nicht nur Freude bereiten: Von grünem Krebs ist die Rede, von Monstern, Killeralgen, apokalyptischen Pflanzen und ökologischen Bomben, vom Alptraum, geboren im Wasser, von Killerbienen, Mörder- und Unkrautbäumen, von schöner oder blühender Pest, von grüner Hölle und roter Flut … oder einfach von Mistzeug.

Die Wellen schlagen hoch. Die einen sprechen von ökologischer Minderwertigkeit, Überfremdung, Unterwanderung und Verfälschung, die anderen warnen vor »Gehölzrassismus« und einer »Hexenjagd auf Neophyten«.

Ausgerüstet mit Fallen, Gewehren und Giften, mit Spaten, Bulldozern und Kettensägen rücken überall in der Welt Arbeitskommandos aus, um unerwünschte Eindringlinge mit Stumpf und Stiel auszurotten. Ein meist vergebliches Unterfangen. Ob Wasserhyazinthen in Florida oder im Viktoriasee, Staudenknöterich und Spätblühende Traubenkirsche in Europa, Ginster in Kalifornien oder Kaninchen in Australien und Neuseeland, eine Rückkehr zum Status ante ist ausgeschlossen.

Nur wenige der Eindringlinge können sich in ihrer neuen Heimat auf Dauer halten. Andere überleben nur deshalb, weil die Menschen sie hegen und pflegen und immer wieder für Nachschub sorgen. Manche Invasoren überrollen das neue Territorium mit explosionsartiger Vermehrung und versinken anschließend in der Bedeutungslosigkeit. Andere führen über Jahrzehnte ein kümmerliches Schattendasein und setzen dann plötzlich zum unaufhaltsamen Siegeszug an. Das Ganze mutet an wie ein...

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