KAPITEL 2
Aus dem Leben oder aus der Luft?
Lebenserfahrung und Schreibkompetenz
Wie kommt der Autor nun zu seinen Figuren, Stoffen und Geschichten?
? Er verwendet sein eigenes Leben, seine Erlebnisse und Erfahrungen.
? Er verarbeitet zusätzlich fremdes Leben, zum Beispiel Geschichten von Freunden, und lässt bekannte Personen zum Vorbild und Phantasieanstoß werden.
? Er ergänzt seine Erfahrungen durch die fiktive Welt des geschriebenen Wortes. Biographien, journalistische Berichte und Werke der Weltliteratur liefern ihm Stoffe und Anregungen für eigene Figuren.
Beginnen wir mit Punkt 1, der eigenen Lebenserfahrung, die immer noch für zahlreiche (angehende) Schriftsteller Hauptquelle ihrer Inspirationen und Erzählungen ist, und räumen wir gleich ein mögliches Missverständnis aus: Nicht alles, worüber man schreibt, muss man erlebt haben.
Das ist eigentlich eine ziemliche Binse, die tausendmal beantwortet wurde, und doch fragen Zuhörer auf Lesungen gerne danach. Man erinnert dann an die vielen Morde in der Literatur, an historische und biographische Romane, Science-Fiction oder auch daran, dass berühmte Frauenromane von Männern geschrieben wurden. Man nennt Gustave Flaubert, den Verfasser der Madame Bovary, der den größten Teil seines Lebens einsiedlerhaft in der normannischen Provinz lebte, sich Tag für Tag verbissen mit konkreten Problemen des Stils plagte und trotzdem ein unvergessliches Frauenschicksal und einen der berühmtesten Romane der Weltliteratur schuf. Man kann darauf hinweisen, dass Leo Tolstoi das Schicksal Anna Kareninas darstellen und der über siebzigjährige Theodor Fontane uns mit Effi Briest die Irrungen und Wirrungen einer sehr jungen Frau nahebringen konnte. William Shakespeare stellte Mörder und Wahnsinnige auf die Bühne, die bis heute faszinieren. Oder naheliegendere Beispiele: Noah Gordon lebte niemals als Medicus im Mittelalter, er ist nicht einmal Arzt, sondern ›nur‹ Medizinjournalist. Umberto Eco ist kein Mönch, und was hat schon Patrick Süskind (geboren 1949 am Starnberger See) mit seinem genialen Parfum-Erfinder und Serienmörder Jean-Baptiste Grenouille (geboren 1738 in Paris) gemein? Donna W. Cross (Die Päpstin) war weder verkleideter Priester noch lebte sie im mittelalterlichen Europa, und das Ehepaar, das unter dem Pseudonym Iny Lorentz schreibt, zog nie als spätmittelalterliche Wanderhure durch Süddeutschland.
Entscheidend sind nicht abenteuerliche Erlebnisse und leidenschaftliche Gefühle, sondern die Fähigkeit, solche Erlebnisse und Gefühle nachzuempfinden und sie so in Figuren, deren Geschichte und nicht zuletzt in Sprache umzusetzen, dass auch ein Leser sie nachempfinden und nacherleben kann.
Dies bedeutet natürlich nicht, dass ein Schriftsteller nicht leidenschaftliche Gefühlsabenteuer erleben darf und unbedingt ein zurückgezogenes und distanziertes Leben führen sollte. Dem Romanschreiber kann Lebenserfahrung in mannigfachen Bereichen, Sozialmilieus und Landschaften mit einer Menge seelischer Turbulenzen nur nützen. Je mehr und je intensiver er etwas erlebt hat, desto besser.
Dennoch: Man braucht keinen Mord zu begehen, um ihn darzustellen, aber brannte einem jemals eine mörderische Wut im Bauch, weiß man vielleicht, wie es sich anfühlt, wenn einer zum Messer greift. Wer schon einmal eine heftige Ehekrise mit Trennung und nachfolgender Schlammschlacht durchgestanden hat, kann leichter und treffender über »Rosenkriege« schreiben als ein Zölibatär. Und wer zehn (oder mehr) Jahre Berufsleben hinter sich hat, kennt die Realität unserer Gesellschaft besser als derjenige, der nach Schule und Hochschule gleich als freier Schriftsteller reüssiert.
Wichtig ist allerdings, dass man seine seelischen Verwundungen verarbeitet hat, dass man eine innere Distanz zu den eigenen Krisen und Konflikten gewinnt. Wichtig ist auch die Gabe der Empathie und der genauen, vorurteilslosen Betrachtung der Welt.
Wie schon einmal betont: Wer schreibt, sollte neugierig sein, an allem interessiert, und möglichst nichts moralisierend abwehren: »Denn Kunst an sich hat ja nichts mit Moral, Konvention oder Moralpredigen zu tun.« (Patricia Highsmith)
»An der Kette seines Lebens«
Zum autobiographischen Schreiben
Nicht nur erste Romane sind insbesondere in der Mainstream-Literatur häufig autobiographisch. »Der Schriftsteller liegt […] immer an der Kette seines Lebens«, hat Wolfgang Koeppen einmal überspitzt formuliert und wollte damit ausdrücken, dass der Schriftsteller
? sich in und durch sein Schreiben mit seinem eigenen Schicksal auseinandersetzt,
? sein Leben zu bearbeiten versucht,
? in sich selbst nach dem verborgenen tieferen Sinn fahndet
? und durch die Figuren und Geschichten, die er erfindet, den Mangel ausgleicht, den er in der Alltagsrealität spürt.
Gerade der letzte Aspekt gilt auch für die Autoren, denen es weniger um das eigene Leben geht, sondern um das Eintauchen in fremde Welten, um das (Er-)Finden von Geschichten und Figuren, die auf den ersten Blick gar nichts mit ihnen zu tun haben. Um es vereinfacht auszudrücken: Wer sein Leben unbedeutend findet, wenig aufregend, glatt und ohne tiefgreifende Krisen, könnte sich nach dem Gegenteil sehnen – nach abenteuerlichen Heldengeschichten, spannenden Zeitreisen, nach großen Liebesdramen, nach versunkenen oder zukünftigen Welten. Die historische Figur, deren Geschichte ein Autor dramatisieren will, der mythische Held, der alleine Feinde überwindet und in allen Gefahren besteht, die große Liebende, die nach Irrungen und Wirrungen ihren Prinzen findet – sie alle haben mehr mit uns selbst, also mit ihren Schöpfern, zu tun, als man auf den ersten Blick sieht. Wer sich nicht auf billige Klischee-Attrappen zurückzieht, sondern lebendige Charaktere schaffen will, erzählt, wie verborgen auch immer, stets etwas über sich. Er erfährt auch etwas über sich – und dies ist ein faszinierender und bereichernder Aspekt des Schreibens, ganz unabhängig davon, ob man nun sein Werk veröffentlicht oder nicht.
Max Frisch erläutert das Verhältnis von Leben und Schreiben in seinem Tagebuch 1946 – 1949 so: »Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen.«
Bleiben wir vorerst beim autobiographisch ausgerichteten Schreiben. Dabei lautet die Frage: Wie lesen wir uns am besten, damit auch andere uns gerne lesen?
Dazu gibt es ein allgemeines Prinzip, in dem das A und O allen autobiographischen Schreibens steckt: Es zählt nicht, was tatsächlich geschehen ist, sondern was den Lesern plausibel gemacht werden kann. Es gilt nicht das, was im Kopf des Autors lebendig ist, sondern was durch die schwarzen Lettern im Kopf des Lesers lebendig wird. Man kann auch sagen: Die Intention ist unwichtig, wichtig ist die Wirkung.
Ich betone diese Aussage deswegen so, weil ich glaube, dass gerade von Anfängern häufig gegen sie verstoßen wird. Argumente wie »Das habe ich genau so erlebt« oder »Das ist wirklich passiert« hört man oft; aber sie beweisen nichts. Das »wirklich Passierte« muss so erzählt werden, dass es glaubwürdig, motiviert erscheint. In der Literatur ist das Wahrscheinliche das Wahre.
Nehmen wir ein einfaches Beispiel: Sie müssen erleben, dass Ihr Partner Sie plötzlich verlässt, und können sich keinen Reim darauf machen. Sie verstehen sein Verhalten einfach nicht. Wenn Sie nun eine Erzählung schreiben, in der Sie darstellen, dass ein Mann eine Frau grundlos verlässt, dann wird Ihnen der Leser dieses Faktum so einfach nicht abnehmen. Er wird sich sagen: »Kein Mann verlässt grundlos eine (geliebte) Frau. Es gibt immer Gründe, selbst wenn keiner von beiden sie kennt. Und ich möchte sie wenigstens erahnen können.« Er wird die Geschichte vielleicht hinnehmen, wenn Sie sie aus der subjektiven Sicht der Verlassenen schildern und gerade ihre Ahnungslosigkeit und hilflose Überraschung zeigen wollen. Aber selbst dann erwartet er den einen oder anderen Hinweis, der ihn erahnen lässt, weshalb der Mann die Frau so scheinbar grundlos verlassen hat. Man sollte nie vergessen, dass die Leser psychologische Verständlichkeit, Glaubwürdigkeit und Nachvollziehbarkeit erwarten.
Um typische Irrwege autobiographischen Schreibens zu vermeiden, sind folgende Grundsätze hilfreich:
? Jeder von uns spielt in seinem sozialen Umfeld eine Rolle, hat ein spezifisches Selbstbild und neigt zur Nachsicht den eigenen Fehlern und Schwächen gegenüber. Eine solche Haltung sollte nicht in den zu schreibenden Roman einfließen.
? In den Krisensituationen des eigenen Lebens zeigt sich, wer man ist. Dieser Satz gilt für uns wie für unsere literarischen Stellvertreter – für sie ganz besonders. Daraus leitet sich ab, dass man besonderes Augenmerk auf solche Krisensituationen, diese Dreh-, Angel- und häufig schmerzhaften Wendepunkte des eigenen Lebens, richten sollte. In ihnen entfaltet sich eine Menge interessanten Materials. Es ist sinnvoll, sich selbst wie einen Fremden zu betrachten und die Krise von allen möglichen Seiten zu beleuchten: genau, ehrlich und möglichst unvoreingenommen!
? Die kritische Distanz zu sich selbst ist ein psychologisches...