PRÄLUDIUM
Wachablösung
Vor seinem Besuch im Konzentrationslager Buchenwald am 5. Juni 2009, so wird berichtet, hat Barack Obama einen politischen Dialog mit Angela Merkel geführt. Eine herzliche Atmosphäre sei dabei nicht aufgekommen. Es heißt, der amerikanische Präsident habe die Kanzlerin am Ende mit einem Thema überrascht, das im vereinbarten Austausch nicht vorgesehen war. »Warum sind Sie gegen einen Beitritt der Türkei zur Europäischen Union?« soll Obama abrupt gefragt haben. Relata refero. Es fällt nicht schwer, sich die Argumente der deutschen Kanzlerin vorzustellen, mit der sie ihre Ablehnung und die der meisten Europäer begründete. Die Türkei, so mag sie entgegengehalten haben, weise noch erhebliche Defizite in Sachen Demokratie und Menschenrechte auf. Der Zypern-Disput sei nicht bereinigt. Die Türkei verhalte sich repressiv gegenüber ihren ethnischen und konfessionellen Minderheiten. Für das Kurdenproblem sei trotz einiger dürftiger Zugeständnisse keine wirkliche Regelung in Sicht. Die Europäische Union sei zudem keineswegs begeistert von der Perspektive, im Fall eines türkischen Beitritts unmittelbarer Nachbar des Kaukasus, Irans sowie Mesopotamiens zu werden und unweigerlich in deren Querelen verwickelt zu sein.
Es wäre taktlos gewesen, einem amerikanischen Partner gegenüber, dessen Vater unter dem britischen Kolonialismus gelitten hatte und dessen Frau die Nachfahrin westafrikanischer Sklaven ist, die kulturelle oder gar ethnische Einzigartigkeit des Abendlandes zu betonen, die es gegenüber einer massiven turanischen Zuwanderung aus Anatolien zu bewahren gelte. Selbst ein Verweis auf die Unvereinbarkeit zwischen der christlichen Ursubstanz Europas – die die Kanzlerin, obwohl sie Vorsitzende einer christlichen Partei ist, ohnehin kaum erwähnt – und der spektakulären Rückwendung der post-kemalistischen Türkei zur Lehre des Propheten Mohammed wäre unangebracht gewesen. Barack Obama bekennt sich zwar in aller Form zum christlichen Glauben, doch die muslimische Religionszugehörigkeit seines Vaters reiht ihn laut koranischem Gesetz unwiderruflich in die Reihen der islamischen Umma ein.
Nach dem Sturm der Begeisterung, den die Wahl Barack Hussein Obamas zum mächtigsten Mann der Welt in Europa, mehr noch als in Amerika, ausgelöst hat, kommen wir nicht umhin festzustellen, daß die Beziehungen zwischen der Alten und der Neuen Welt nicht mehr die gleichen sein werden. An infamen Angriffen, an tückischen Verleumdungen wird es in Zukunft nicht fehlen. Es gibt zu viele reaktionäre US Citizens, die sich mit der Präsenz eines schwarzen Mannes im Weißen Haus nicht abfinden. Die rassistischen Vorurteile, die William Faulkner vor gar nicht so langer Zeit in der abgrundtiefen Düsternis seiner Romane aus dem »tiefen Süden« schilderte, sind vielerorts noch präsent. Die Dämonen warten auf ihre Entfesselung. Schon melden sich Stimmen zu Wort, die die amerikanische Staatsangehörigkeit Obamas in Frage stellen und mit der Behauptung auftreten, er sei in Indonesien als Muslim aufgewachsen.
Selbst in europäischen Gazetten kommt plötzlich – vermutlich als Reaktion auf die grandiose Rede, die er in Kairo hielt – der Vorwurf auf, dieser »Commander-in-Chief« gehe nicht mit der gebotenen militärischen Gewalt gegen die Islamische Republik Iran vor, er habe durch seinen Verzicht auf den Ausbau eines Raketenschirms in Polen den Westen der nuklearen Bedrohung durch Schurkenstaaten des Orients ausgeliefert, und gegenüber Israel neige er einer propalästinensischen Haltung zu.
Das Schicksal Martin Luther Kings hängt als düstere Mahnung über diesem Mann, der endgültig der Erkenntnis zum Durchbruch verhalf, daß die politische Ausrichtung der USA nicht mehr durch eine Bevölkerungsminderheit definiert wird, die sich rühmte, »White, Anglo-Saxon and Protestant« zu sein. Welches auch immer das Schicksal des jetzigen Präsidenten sein mag, hier ist ein Deich gebrochen. Das Antlitz der Vereinigten Staaten wird zunehmend von der Masse der Latinos – in der Mehrheit spanisch-indianische Mestizen –, der Afro-Americans und einer wachsenden Zahl von Asiaten gestaltet werden. Die einst mißachteten Katholiken bilden bereits die bei weitem stärkste christliche Konfession.
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Es soll nicht der Irrtum aufkommen, das vorliegende Buch beschäftige sich vorrangig mit Amerika. Auch die Probleme der Europäischen Union sind nicht das Thema. Dieser Reisebericht ist der intensiven persönlichen Erfahrung des Autors gewidmet, dass die dominante Ära des »weißen Mannes«, der sich um 1900 die ganze Welt untertan gemacht hatte, ihren Endpunkt erreicht hat. Genau ein halbes Jahrtausend hat diese phänomenale Expansion und ihre zähe Beharrung gedauert. Die einseitige Vorrangstellung Europas wurde im zwanzigsten Jahrhundert durch die Vereinigten Staaten von Amerika – von de Gaulle als »Tochter Europas – fille de l’Europe« bezeichnet – abgelöst und amplifiziert. Seit Ende des Zweiten Weltkrieges sieht sich diese transatlantische Allianz globalen Machtverschiebungen ausgesetzt, denen sie schon aus demographischen Gründen nicht gewachsen ist. Dem »weißen Mann« ist ja nicht nur das Monopol industrieller und militärischer Überlegenheit abhanden gekommen. Ihm fehlen heute vor allem das Sendungsbewußtsein, die Lust am Abenteuer sowie die Bereitschaft zur Selbstaufopferung, auf die sich sein imperialer Anspruch gründete. Literarisch eingeleitet wurde die Epoche des europäischen Im perialismus durch die mythischen Navigatoren-Gesänge des Portugiesen Luís Vaz de Camões. Ihr Ende wurde symbolisch angedeutet in Rudyard Kiplings Legende von dem »Mann, der König sein wollte« und der in den Schluchten von Kafiristan – so nannte man damals die afghanische Provinz Nuristan – in einen bodenlosen Abgrund stürzte. Dieser »Abgesang« ist weder eine pathetische Prophezeiung noch eine nostalgische Klage. Die Zusammenstellung der sehr unterschiedlichen Kapitel habe ich dem Zufall meiner Reiseroute überlassen. In diesem Punkt fühlte ich mich den Weltumseglern der Entdeckerzeit verbunden, die in ozeanische und terrestrische Weiten vorstießen, ohne sich ihrer präzisen Zielsetzung bewußt zu sein. Die geographische Dimension dieser Saga des Niedergangs ist zwangsläufig unvollständig und müßte durch weitere Regionen ergänzt und bestätigt werden. Das Projekt steht uns ja noch bevor.
Man mag mir entgegenhalten, die »Angst des weißen Mannes« sei ein Produkt meiner Phantasie, und es lebe sich doch weiterhin recht bequem in dieser »Brave New World«, die sich dem Multikulturalismus und der Multiethnizität ergeben hat. Ich bin so alt, daß ich die Stunde einer akuten Bedrohung wohl nicht mehr er leben werde. Doch schon die kommende Generation wird sich mit der schmerzlichen Anpassung an eine inferiore Rolle im globalen Kräftespiel, an geschwundenes Prestige abfinden müssen und mit dem tragischen Fatum leben, daß den weißen Herren von gestern das sachte Abgleiten in Resignation und Bedeutungslosigkeit bevorsteht. Der Ausdruck »White Man« ist heute ja schon verpönt und mit dem Odium des Rassendünkels behaftet.
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Zunächst stellt sich die Frage: Wer ist überhaupt ein Weißer? So weit liegt der kollektive Wahnwitz ja nicht zurück, der sich in Alfred Rosenbergs Mythos des 20. Jahrhunderts offenbarte und zum Religionsersatz des Dritten Reiches wurde. Die Einwanderungsbehörden der USA, die über strenge ethnische Quoten wachten, hatten für die weißen Europäer den Ausdruck »Caucasian« gefunden. Ich will mich hier nicht in die verschiedenen Rassentheorien verirren, die von Gobineau, Houston Stewart Chamberlain und manch anderen in die Welt gesetzt wurden, um schließlich mit dem Arier-Begriff der Nationalsozialisten in grauenhafter Menschenverachtung, in mörderischer Selektion zu gipfeln. Schon sehr früh gab es den Begriff »Indoeuropäer«, der in Deutschland zur Wortbildung »Indogermanen« führte. Eine deutlich erkennbare lingui stische Verwandtschaft spannte ja tatsächlich einen Riesenbogen verwandter Idiome vom Atlantik bis zum Ganges in den Ebenen Indiens. Sogar die Völker Afghanistans – Paschtunen und Tadschiken – reihten sich in diese Kategorie ein. Bei keinem Begrüßungsgespräch, das ich in den entlegensten Ortschaften am Hindukusch führte, hatte der Dorfälteste es versäumt, auf die enge Verbundenheit zwischen Afghanen und Deutschen zu verweisen, weil sie ja beide Arier seien. Das Wort selbst stammt wohl ursprünglich aus Persien, wo der Kulturkreis »Iran« sich in beinahe manichäischer Strenge von den Nomadenstämmen »Turans« absonderte. Der Schah-in-Schah Persiens trug bis zuletzt den Titel »Aria Mehr« – Leuchte der Arier.
In Teheran bin ich...