Sechs Generationen
Die nasse Kälte drang durch alle Ritzen. Vom Klassenzimmer aus, in dem Johann Sebastian Bach gerade den Unterricht in der Sekunda beendet hatte, betrat er die Musikbibliothek, in der zwei Kopisten für ihn arbeiteten. In den Regalen lagerten Schätze, über 4500 Stimmbücher, 500 Bände vor allem theologischer, musikalischer und philosophischer Literatur und Noten unbestimmter Zahl. Der Anblick, der ihn sonst mit Stolz und Freude erfüllte, konnte ihn an diesem grauen Februartag nicht aus seinen düsteren Gedanken reißen. Das Jahr 1735 hatte ihn ganz und gar unerwartet in eine Krise gestürzt. Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er das Gefühl einer Unsicherheit, einer Ahnung, kommenden Ereignissen wehrlos ausgeliefert zu sein. Besonders beunruhigte ihn, dass er sich, obwohl nicht zur Melancholie neigend, aus dieser Stimmung nicht befreien konnte.
Vorbei an einem viertürigen Bücherschrank führte der Weg in seine Komponierstube. Sein Blick fiel auf den Schreibtisch, dann durch das Fenster auf das schneebedeckte Dach der Thomasmühle. Der kleine Seitenarm der Pleiße trug eine dünne Eisdecke, aber die sah er nur, wenn er die Augen ein wenig zukniff. Ein leichter Wind hatte Schnee wie Spinnweb über den Weg geweht, der an der Mühle vorbei ans andere Ufer des Flüsschens führte. Vor vierzig Jahren, auch an einem kalten Februartag, war sein Vater gestorben und hatte ihn noch nicht zehnjährig als Waise zurückgelassen. In nicht ganz einem Monat würde er fünfzig Jahre alt sein, so alt wie sein Vater bei seinem Tod.
In seinem Leben hatte es immer wieder schwierige Situationen und heftige Auseinandersetzungen gegeben, eine hatte sogar im Kerker des Herzogs von Sachsen-Weimar geendet. Nur zu gut wusste er, dass man die Bachs achtete, aber ihren Eigensinn nicht schätzte. Schon zwei Generationen zuvor hatte der damalige Direktor der Arnstädter Ratsmusik, Heinrich Gräser, geklagt, dass die Bachs »stolz« seien und obendrein »untüchtige Gauner«. Vor allem hatte ihn ihr Trotz erzürnt, der berühmte bachsche Eigensinn. Mit dieser Einschätzung stand Gräser nicht allein. Johann Sebastian musste sich eingestehen, dass sich nichts geändert hatte. Aus Arnstadt war auch er im Streit gegangen. Und in Leipzig zogen sich gerade die Gewitterwolken über ihm zusammen.
Nicht nur eskalierte die Auseinandersetzung mit dem bornierten Rektor der Thomasschule Johann August Ernesti (1707 –1781), der Leipzigs Stadtpolitiker gegen ihn aufwiegelte, auch stellte sich immer drängender die Frage, wie der Gefahr zu begegnen sei, immer nur Altes zu wiederholen, ohne Neues zu schaffen. Er war noch nicht einmal fünfzig Jahre alt, und trotzdem sprach man von ihm schon als dem alten Bach. Eine junge Generation Musiker, zu der seine beiden älteren Söhne gehörten, schickte sich an, mit ihren Kompositionen Kirchen, Konzertsäle und den Musikmarkt zu erobern. Johann Sebastian entging nicht, dass ihm drohte, zu Lebzeiten vergessen zu werden. Seine Erfahrung sagte ihm, dass nur der in der Musikwelt bestand, der sich nicht auf seinen Lorbeeren ausruhte, sondern ihr beständig neue Impulse verlieh. Das Publikum war nicht nur unersättlich, sondern auch wählerisch, und vor allem besaß es einen Heißhunger auf Neues. Doch das Neue durfte, auch das wusste er, allzu neu nicht sein, sondern sollte lieber nur den Anschein erwecken. Die Bachs hatten immer ein Gespür für das Mögliche besessen. Das Alte zu bewahren und das Neue zu tun genügte nicht. Altes und Neues, Vertrautes und Überraschendes mussten eins sein, nahtlos ineinandergewoben. Dabei durfte man sich selbst nicht untreu werden, denn dann verlor man sein Publikum, ohne ein anderes zu gewinnen. Mit einem Wort: seine aktuelle Lage erwies sich künstlerisch wie beruflich als ausgesprochen heikel. Johann Sebastian machte sich keine Illusionen darüber, wie schnell Sicherheiten schwinden und er und seine Familie im Elend enden konnten. Seine Existenz hing einzig und allein an der Achtung, die er in der Musikwelt genoss.
Er ging zu seinem Schreibtisch und schaute auf die darauf ausgebreiteten Noten Johann Christoph Bachs, der ein Cousin seines Vaters und ein tüchtiger Komponist gewesen war. Die Hochzeitskantate, die Johann Sebastian einst abgeschrieben hatte, erinnerte ihn an seinen Bruder, der auch Johann Christoph hieß, und an dessen Hochzeit, auf der sie das Werk aufgeführt hatten – sein Vater, der berühmte Johann Pachelbel, sein Bruder Johann Jacob und er. Ein Lächeln umspielte seine Lippen und ließ seine Augen leuchten. Dann stand sein Entschluss fest. Er nahm ein Blatt vom Stapel, tauchte die Feder ins Tintenfass und begann zu schreiben: »Ursprung der musicalisch-Bachischen Familie«.
So widerstand er der Versuchung, die Flucht nach vorn anzutreten und mit gefälligen Kompositionen dem Zeitgeist hinterherzulaufen. Stattdessen tat er etwas, das, ungewöhnlich genug, weder für das Publikum noch für Verleger, Musiker und Sänger, sondern nur für ihn selbst bestimmt war. War es nicht Zeit für eine Positionsbestimmung, wo sich doch gerade die Stellung des Musikers grundlegend änderte? War ihm nicht manchmal so, als stünde er auf auseinandertreibenden Eisschollen? Etwas war in Bewegung geraten. Hatte sich der Musiker bisher vor allem als Handwerker und Dienstleister verstanden, so empfand er sich zunehmend als autonomer Künstler. Er selbst hatte diese Entwicklung maßgeblich vorangetrieben – mit der vielgescholtenen bachschen Unbotmäßigkeit. Aber war diese nicht viel eher Eigensinn und Selbstvertrauen? Vertrauen in das eigene Können und ein ausgeprägter Sinn für das Eigene? Jetzt kam es darauf an, nicht zum Opfer dieser Entwicklung zu werden.
Wer also war er? Was war er? Was durfte er fordern, er, der berühmte Thomaskantor, der doch nicht einmal ein theoretisierender, sondern nur ein praktischer, also ausübender Musiker war? Kein Gelehrter, kein Philosoph, kein Dichter und schon gar kein Aristokrat, stand er in der gesellschaftlichen Achtung unter dem Musiktheoretiker und dem Musikschriftsteller. Johann Mattheson, der soeben den Beruf des Musikkritikers erfunden hatte, gab die Schuld an der beklagenswerten Musikpraxis seiner Zeit der mangelnden Bildung der Musiker und dem alles erdrückenden Gewicht der Kirchenmusik – dabei solle Musik nicht Gott, sondern die Menschen erfreuen. Matthesons Feldzug gegen die Kirchenmusik war ein Angriff auf ihn, denn die Kirchenmusik war seine Domäne, seine musikalische Heimat. Der Publizist, der auch Komponist, Opernsänger und höfischer Beamter war, wollte unter allen Umständen galant sein, der Thomaskantor nicht. Der Vorwurf der Unbildung traf ihn nicht, aber die modische Wendung gegen die Kirchenmusik rief seinen Widerspruch auf den Plan.
In der Auseinandersetzung mit derlei drängenden Fragen formte sich aus dem, was sich im Familiengedächtnis an Anekdoten und Erinnerungen erhalten hatte, die Chronik einer Musikerdynastie, die seit sechs Generationen Musikgeschichte schrieb. Fünf Bach-Generationen waren ihm im Musizieren vorausgegangen.
Die Bachs standen auch dank Johann Sebastians Schaffen auf dem Höhepunkt der Anerkennung und des Ruhms; gleichwohl ahnte er als Vater begabter Söhne, dass sich die aufwärtsstrebende Linie noch fortsetzen ließ. Beim Abfassen der Familienchronik wurde ihm bewusst, dass es nicht nur um seine, sondern auch um die Stellung seiner Söhne in der Musikwelt ging. Mit Akribie legte er ein Archiv1 an, das alle Kompositionen und biographischen Informationen seiner Vorfahren enthielt, derer er habhaft werden konnte. Dieses Werk ist umso bemerkenswerter, als zu jener Zeit noch viele Kompositionen als Original oder höchstens als Abschrift kursierten, für den einmaligen Gebrauch geschrieben und nie gedruckt. Alle Mitglieder der Familie, die halbwegs eine Note schreiben konnten, waren ebenso wie die Lehrburschen fortwährend damit beschäftigt, seine Kompositionen für die Aufführungen zu kopieren, denn das gehörte zu den Dienstpflichten eines Kantors. Gelegentlich stellte man auch Kopisten an.
Bei der Zusammenstellung der Familienchronik und der Sammlung der bachschen Musikwerke ging es Johann Sebastian nicht um die Veröffentlichung, sondern um die Begründung eines Archivs, das nur für die Familie, vor allem für ihn selbst bestimmt war. Dennoch war sein privatestes Werk am allerwenigsten privat. Es wurde zum Instrument der Selbstvergewisserung und zur zukunftsweisenden Urkunde des Ruhmes dieser Dynastie. Von hier aus konnte es nur aufwärts oder abwärts gehen – ein Verharren kam nicht in Frage. Mit der Genealogie stellte sich Johann Sebastian in die Tradition seiner Familie, die so viele Musiker hervorgebracht hatte. Jeder Vorfahr bekräftigte seinen eigenen Anspruch, im Dienste der Musik zu stehen, wie sie alle seit fast zweihundert Jahren, in Thüringen, in Stockholm, in London, Rotterdam, Amsterdam, Hamburg oder Braunschweig, in Franken, Sachsen und Anhalt, in Polen, ja selbst im Osmanischen Reich. In der Tradition, die er bewusst aufleben ließ, fand er die Verpflichtung, der Lebenskrise zu wehren, Neuland zu betreten und dennoch musikalischen Moden nicht hinterherzulaufen, weiter an seiner regulierten Kirchenmusik zu arbeiten, der für die wechselnden Anlässe im Kirchenjahr komponierten Werke, und das Verstehen der Welt durch die Musik zu befördern.
Auf den ersten Blick verwundert es, dass der vielbeschäftigte und stets unter Zeitdruck stehende Komponist sich dieser Mühe unterzog, die, sosehr sie ein Segen für die Bach-Forschung ist, für ihn vor allem Kraft- und Zeitverschwendung bedeuten musste, da sie ihm keinen offenkundigen Nutzen erbrachte. Etwas muss ihn angetrieben haben, etwas, das mehr war als...