3. Wichtige Grundlagen innerhalb der Diagnostik (Feststellung) einer Legasthenie
3.1. Erkennen einer Lese- und Rechtschreibproblematik
Um eine Lese- und Rechtschreibproblematik erkennen zu können, ist erst einmal ein Verständnis dafür notwendig, was überhaupt diese Problematik bedeutet respektive welchen Ursprung bzw. Ursache sie haben kann.
Hierzu gibt es verschiedene Ansätze, die immer wieder langläufig diskutiert werden:
3.2. Biogenetische Ursachen
Legasthenie und Dyskalkulie sind im Menschen vorhandene genbedingte, durch Vererbung weitergegebene Veranlagungen. Durch gengesteuerte Entwicklungsprozesse im Gehirn werden die Sinneswahrnehmungen beeinflusst. Dies haben wissenschaftliche Forschungen bewiesen.
Zunächst sind es Familienstudien, die eine familiäre Häufung der Lese- und Rechtschreibstörung erkennen lassen. Diese Beobachtungen der frühesten Forschergeneration zur LRS wurden durch größere Stammbaumanalysen bestätigt. (Vergleiche Fischer 1905, Grimm und Warnke, 2002)
Zwillingsstudien bestätigen den genetischen Einfluss. Bei eineiigen Zwillingen fanden sich Konkordanzraten von bis zu 100 %, während die Raten bei zweieiigen Zwillingen 30 % nicht überstiegen. (Vergleiche Warnke, Henninger, Plume).
Die bisherigen Befunde zur Genetik der Lese- und Rechtschreibstörung lassen folgende Schlüsse zu:
- Es ist nicht davon auszugehen, dass es ein Legasthenie-Gen gibt, eher ist wahrscheinlich, dass Lese– und Rechtschreibstörungen durch verschiedene Gen-Orte mitbestimmt werden (vergleiche Körner 2002, Grimm und Warncke, 2002)
- Lese- und Rechtschreibstörungen sind heterogen; dominante Erbgänge sind häufig.
- Die Ergebnisse der genetischen Forschung stützen die Annahme, dass für die Lese- und Rechtschreibstörung auch nicht genetische Faktoren eine kausale Rolle spielen.
Gerade diese letzte Annahme führt dazu, dass beispielsweise Frau Dr. Kopp-Duller eine Differenzierung der Legasthenie in eine primäre und sekundäre Form vornimmt.
Von einer Primärlegasthenie wird gesprochen, wenn man Folgendes beobachten kann:
Eine zeitweise Unaufmerksamkeit des Kindes beim Schreiben, Lesen oder Rechnen, d.h. wenn es unmittelbar mit Buchstaben- und/oder Zahlensymbolen zusammentrifft. Differente Sinneswahrnehmungen, die nicht ausreichend für das Erlernen des Schreibens, Lesens und Rechnens geschärft sind. Durch unscharfe Sinneswahrnehmungen und der daraus folgenden Unaufmerksamkeit entstehen Wahrnehmungsfehler. Grundsätzlich spricht man von einer Lese– und Rechtschreibschwäche und/oder Rechenschwäche, wenn man Folgendes beobachten kann:
Fehlerhäufungen beim Schreiben, Lesen oder Rechnen.
Eine sekundäre Legasthenie indes wäre eine Lese- und Rechtschreibschwäche, die durch besondere Umstände im Leben des Kindes, die multikausal sein können, entsteht.
3.3. Diagnostik / Feststellung
Die Diagnostik der LRS wird entweder durch die Kinder- und Jugendpsychiatrie, (hierbei von den niedergelassenen Fachärzten/Psychiater) oder der Schule selbst durchgeführt. Im Rahmen der Schule wären es die Schulpsychologen oder eigens dafür vorgesehenen Beratungslehrer. Diese Regelungen können jedoch von Bundesland zu Bundesland variieren. Interessanter dabei ist weniger die Frage des „Wer“ denn die Frage des „Wie“ und „Was“.
Die diagnostische Besonderheit liegt in dem doppelten Diskrepanzkriterium:
- Diskrepanz: das Niveau im Vergleich altersgleicher Schulpopulation;
- Diskrepanz: das Niveau im Lesen und in der Rechtschreibung ist wesentlich niedriger als das gemessene Intelligenzniveau.
Für die Diagnose ist schließlich ausschlaggebend, dass die Lese- und Rechtschreibstörung die Bewältigung von schriftsprachlichen Anforderungen, wie etwa in Schule und Beruf, deutlich behindert. (Vgl. Leitfaden Kinder- und Jugendpsychotherapie, Band 6, Warnke, Hemminger und Plume)
Was genau bedeutet dies nun in der Praxis und im Verständnis? Mit dem Kind wird ein sog. Lese- und Rechtschreibtest durchgeführt, ebenfalls muss eine IQ-Testung vorgenommen werden. Beide Testungen finden mittels standardisierter Verfahren statt. Die Auswertung erfolgt – wie bereits oben beschrieben – nach den beiden Diskrepanzkriterien.
Inwieweit eine erweiterte Diagnostik beim Facharzt stattfinden muss, um eine sekundäre Problematik festzustellen, kann aufgrund der Vielfältigkeit und Intensivität hier nicht erläutert werden. Sofern das Kind nur eine Primärproblematik zeigt, werden i. d. R. auch keine weiteren Diagnosen erforderlich sein – abhängig jedoch vom jeweiligen Fall.
3.4. Differenzierte Störbilder und Problemstellungen
Ein Entscheidungsschema zur Diagnostik und Therapie der Lese- und Rechtschreibstörung (nach: Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al., 2003) zeigt die verschiedenen Diagnosen auf. Zur Vereinfachung wurde das Modell geringfügig verändert und die Störungen, die im Zusammenhang mit zerebraler Schädigung, organischer Erkrankungen oder Behinderungen stehen, entfernt.
3.4.1. Analphabetismus
Eine Lese- und Rechtschreibstörung infolge von Deprivation bzw. mangelhafter Gelegenheit zum Erlernen schulischer Fertigkeiten, so die Definition, jedoch ist der Analphabetismus weniger ein individuelles, denn ein gesellschaftliches Problem. In vielen Erwachsenenkursen zeigt sich, dass Teilnehmer bereits als Schüler das Lesen und Schreiben nie richtig erlernt haben, jedoch sich auch selten jemand um sie gekümmert hat.
Genuneit (1996) definiert den Analphabetismus als Folge der Verarmung in fünf Formen, die er mit ökonomischer, sozialer, kommunikativer, pädagogischer und politischer Armut bezeichnet.
3.4.1.1. Soziale Armut
Richtig schreiben können gilt in der Gesellschaft als hoch besetzte Fähigkeit. Kann man diese Fähigkeit nicht nachweisen, so beginnt häufig eine Ausgrenzung, Angst und Stigmatisierung in der Gesellschaft.
3.4.1.2. Kommunikative Armut
Häufig kommen Analphabeten aus Familien in denen nahezu nichts gelesen, vorgelesen oder geschrieben wird. Diese Menschen kommen dann in die Schule, ohne einen Bezug zum Lesen und Schreiben zu haben und häufig fehlt dann auch die Motivation dazu dieses zu erlernen. Auffällig ist desweiteren, dass in diesen Familien wenig bzw. nicht ausreichend mit den Kindern gesprochen wurde. Fehlende sprachliche Zuwendung führt zu Entwicklungs- und Sprachentwicklungsverzögerungen, die jedoch zum Erlernen des Lesens und Schreibens notwendig sind.
3.4.1.3. Pädagogische Armut
Die Schule hat häufig keine Möglichkeiten auf gesellschaftliche Veränderungen angemessen und mit pädagogischen Konzepten zu reagieren. Sofern Lesen und Schreiben während der Schulzeit nicht als sinnvoll angesehen wird, wird es auch nach der Schulzeit nicht angewandt werden, aus Angst und Scham sich zu blamieren. Es kommt zu Vermeidungsstrategien und diese führen eher zum Verlernen als zum Lernen.
3.4.1.4. Politische Armut
Obwohl es weitreichende Initiativen gibt, ist es bislang der Politik wenig gelungen, Strukturen zu schaffen oder zu verändern, die es ermöglichen würden, die Probleme zu bewältigen.
3.4.2. Lese- und Rechtschreibstörung im Rahmen von Intelligenzminderung
Kinder, deren Intelligenz, gemessen durch einen IQ Test im Bereich einer Intelligenzminderung liegt, können häufig ebenfalls Lese- und Rechtschreibstörungen aufweisen, wobei diese Probleme eher auf die Intelligenzminderung zurückzuführen ist. Dies hängt u.a. auch damit zusammen, dass es ein enges Verhältnis zwischen Intelligenz und Motivation gibt. Gerade die Motivation wird für den Prozess das Lesen und Schreiben Wollens dringend benötigt, damit es zu Lernerfolgen kommt. Eine Bewertung der Lese- und Rechtschreib-Testleistung liegt bei ca. <= 10 Prozentrang des verwendeten Testverfahrens und das Ergebnis aus einem Intelligenztest liegt bei IQ < 70, gemäß der ICD-10 wird ein IQ unter 69 als pathologisch angesehen.
3.4.3. Lese- und Rechtschreibleistung im Rahmen der allgemeinen Intelligenzentwicklung
Die wohl üblichste Feststellung betrifft, die einer Lese- und Rechtschreibleistung mit einer mindestens durchschnittlichen Intelligenzleistung, gemessen mit einem standardisierten Verfahren. Im Rahmen der doppelten Diskrepanzbewertung wird die Abweichung zum Adäquat bei einem Lese- und Rechtschreibtest ermittelt, hierbei gelten Werte <=10 Prozentrang als Kriterium um die ersten Diskrepanz zur Vergleichsgruppe herstellen zu können. Im Rahmen des Intelligenztestverfahrens soll der gemessene Wert einen IQ > 70 ausweisen. Liegt die Standardabweichungen des Lese-Rechtschreib-Testwertes im Verhältnis zum Intelligenztest bei IQ < 1,5 zum oberen Testwert so wird von einer Lese- und Rechtschreibschwäche ausgegangen.
3.4.4. Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie)
Nahezu identisch verläuft das Verfahren...