Das Schreiben- und Lesenlernen als komplexe konstruktive Leistung hat an Mechanismen teil, „die der Entwicklung des Sprechen und Sprachverstehens in der Sphäre der Mündlichkeit zugrunde liegen“ (Hurrelmann 2004, S. 173). Der „Aufbau schriftsprachlicher Kommunikationsfähigkeiten [beruht] zu einem guten Teil [..] auf kulturell fundierten Interaktionsroutinen zwischen Erwachsenen und Kindern“, (ebd., S. 174; Zus. v. C.K.). Solche kulturell geprägten Interaktionsroutinen, also z.B. Bilderbuchbetrachtungen und Vorlesen, Reime, Lieder und Fingerspiele, sind Formen prä- und paraliterarischer mündlicher Kommunikation (vgl. Hurrelmann et al. 1993 in Hurrelmann 2004, S. 175). Obwohl alle prä- und paraliterarische Kommunikationsformen den Erwerb von Sprache und Literacy vorantreiben, weisen verschiedene Untersuchungen auf die herausragende Rolle der Vorlesesituation hin (vgl. Hurrelmann 1998; Wieler 1997; Hurrelmann et al. 1995 in Ellinger/Koch 2006, S. 127).
Die Bilderbuchbetrachtung bildet eine Brücke zum Verstehen schriftlicher Texte, indem sie ein Charakteristikum mit der schriftlichen Kommunikation gemeinsam hat: „die Distanz zum alltäglich-praktischen Sprachgebrauch“ (Hurrelmann 2004, S. 175). Unter sprachwissenschaftlicher Sicht macht jenseits der Decodierung von Schrift nämlich die „Loslösung aus der Sprechsituation und Vergegenständlichung des Sprachproduktes“ (ebd., S. 171) „die zentralen gegenstandsspezifischen Anforderungen und Schwierigkeiten aus, die das Lesen vom mündlichen Sprachverstehen“ (ebd., S. 175) in folgenden Strukturen von Schriftlichkeit unterscheiden: „größere Elaboriertheit, höhere textuelle Kohäsion, Kompaktheit und Abstraktheit der semantischen Information, mehr stilistisch-ästhetische Durchformung und Orientierung an den Normen von Textsorten“ (ebd.). Die Vorlesesituation vollzieht sich nun in medialer Mündlichkeit, in welcher das Kind „Begegnungen mit einer ‘anderen’ Sprache“ (Ulich 2003, S. 11) macht. Das Kind taucht in die Welt der Schriftlichkeit ein und lernt die ihm bisher unbekannten Formen, Nuancen und Strukturen der schriftlichen Sprache kennen. In phonischer Kodierung macht es Begegnungen mit der der konzeptionellen Schriftlichkeit (vgl. Dürscheid 2002, S. 48), lernt neue Worte, Satzstrukturen Sprachstile, narrative Elemente und Ausdrucksformen kennen, die für konzeptionelle Schriftlichkeit allgemein sowie für bestimmte Gattungen charakteristisch sind und von dem alltäglichen, situationsorientierten Gebrauch der konzeptionell mündlichen Sprache abweichen. Die vorlesebegleitenden Gespräche über die Geschichte, einzelne Illustrationen oder Erfahrungen aus dem Alltag, die mit dem Bilderbuchinhalt oder den Illustrationen assoziiert werden, sind wiederum konzeptionell mündlicher Art (vgl. Dürscheid 2002, S. 48). Die ‘face-to-face’ Kommunikation ist allgemein weniger komplex an sprachlichen Mitteln als die konzeptionell schriftliche Sprache, häufig ist sie auch elliptisch. Ninio und Bruner stellten jedoch heraus, dass die Sprache der Erwachsenen in den Dialogen während der Bilderbuchbetrachtung weit aus elaborierter als in sonstigen Spiel- und Gesprächssituationen ist (vgl. Ninio/Bruner 1987 in Ellinger/Koch 2006, S. 126). Wohl auch deshalb erweist sich die Bilderbuchbetrachtung als besonders förderlich für den Sprach- und Literacy-Erwerb.
Alle Kernelemente der Literacy-Erziehung kommen bei der Bilderbuchbetrachtung zum Tragen (vgl. Bayrischer Bildungs- und Erziehungsplan 2006, S. 216), denn während dieser entstehen Phasen des Vorlesens und Zuhörens von konzeptionell und medial Schriftlichem und Phasen des Erzählens in der konzeptionellen Mündlichkeit. Hurrelmann bezeichnet Bilderbuchbetrachtungen wohl auch deshalb als „Schaukelstuhl zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit“ (Hurrelmann 1994; zit. n. Nickel 2007, S. 88). Wenn es kompetenten Erwachsenen zudem gelingt zwischen den Anforderungen des Textes und den Fähigkeiten und Erfahrungen des Kindes zu vermitteln, kann davon gesprochen werden, dass sie eine Brücke zwischen der situationsabstrakten schriftlichen und situationsgebundenen mündlichen Kommunikation bauen (vgl. Ellinger/Koch 2006, S. 127).
In Anbetracht der Tatsache, dass sich das Literacy-Konzept bekannterweise auf die Annahme stützt, dass sich die Entwicklung der Prozesse des Hörens, Lesen und Schreibens sowie der Spracherwerbs nicht zeitlich aufeinander aufbauend, sondern in ständiger Wechselseitigkeit vollzieht (vgl. Teale & Sulzby, 1989 in Kammermeyer/Molitor 2005, S. 130), ist der Einsatz von Bilderbüchern prädestiniert für eine adäquate und erfolgreiche Literacy-Erziehung. Denn durch den Einsatz von gesprächsintensiven Bilderbuchbetrachtungen können Prozesse des Hörens, des Sprechens sowie des Lesens und Schreibens (vgl. S. 24 in dieser Ausarbeitung) vorangetrieben werden. Während der Aktivität beim Bilderbuchbetrachten liegt der Fokus insbesondere auf der Sprache und Kommunikation, dem Sprechen und Zuhören (vgl. Ulich 2003, S. 10). Das Medium Bilderbuch an sich ist selbst als ein „interaktives Medium“ (Ellinger/Koch 2006, S. 127f.) zu verstehen, denn ebenso wie Erwachsener und Kind mit ihrem Gesprächspartner eine Beziehung eingehen, gehen sie auch mit dem Bilderbuch und seinem Text in graphischer bzw. akustischer Form sowie den Bildern eine Beziehung ein. Erwachsener und Kind interagieren miteinander und tauschen sich in der konzeptionellen Mündlichkeit über das konzeptionell Schriftliche und die Bilder im Bilderbuch sowie manchmal auch über das medial Schriftliche aus. Die Bedeutungen, die sich aus den vielschichtigen Bild-Text-Korrelationen ergeben, werden zwischen Erwachsenem und Kind im Rahmen eines Dialogs ausgehandelt. Wieler bezeichnet Dialoge (gemeint sind hier alltägliche Dialoge) als „Fundament literarischer Sozialisation“ (Wieler 1997, S. 23). Sie „nicht nur für die Entwicklung der mündlichen Sprache, sondern auch für den Eintritt in die Schriftlichkeit von essentieller Bedeutung“ (Hurrelmann 2004, S. 173). Durch die dialogische Bedeutungsaushandlung lernt das Kind, dass Sprache nicht nur als Medium zur Übermittlung von Fakten, Handlungsanweisungen und Informationen dient, sondern auch dazu, Gedanken auszudrücken (vgl. Atelt et al 2001, S. 74), Es lernt Sprache als Instrument des Denkens zu benutzen (vgl. Wygotski 1969 in ebd.).
Im vorangegangenen Kapitel wurde bereits auf viele der Kenntnisse, Fertigkeiten und Haltungen eingegangen, die im Kontext der Bilderbuchbetrachtung ausgebildet werden können und für den Prozess des Schreiben- und Lesenlernens relevant sind[26]. In der folgenden stichpunktartigen Gesamtübersicht werden diese erneut genannt. Weitere, noch nicht erwähnt sprach- und literacybezogenen Kenntnisse, Fertigkeiten und Einstellungen, die im Kontext von Bilderbuchbetrachtungen ausgebildet werden können, werden mit aufgeführt.
Literarisch-ästhetische Sozialisation
„Das Bilderbuch als ästhetischer Gegenstand kann das Bedürfnis des Kindes nach Information und Unterhaltung befriedigen, ebenso die Neugier an elementaren Erfahrungen im ästhetischen Bereich“ (Thiele 2000, S. 238) und kann Spiel- und Entfaltungsräume für die aktive Auseinandersetzung mit ästhetischen Phänomenen eröffnen (vgl. ebd.).
Einstellungen wie Interesse an Büchern, Schrift und Lesemotivation werden ausgebildet (vgl. Kap. 3.3.1)
Kinder erwerben Wissen über die Buchkultur. Sie erkennen, dass Bücher auf dem Buchumschlag medial schriftliche Informationen über einen Autor und den Buchinhalt (Rückseite des Buches) liefern und einen Buchtitel besitzen.
Kinder lernen verschiedene Buchgattungen (z.B. Vorlesebuch, Sachbuch), Sprachstile und Textsorten (z.B. Märchen, Sachtext) kennen (vgl. Ulich 2006, S. 259)
Ein Bewusstsein für Sprachrhythmus und die lautliche Varietät von (literarischer) Sprache wird ausgeprägt, insbesondere dann, wenn der Vorleser die Ausdrucksmittel seiner Sprechstimme (Stimmklang, Lautung Sprechausdruck) an den Bilderbuchtext anpasst (vgl. Geißner 1982 in Ockel 2000, S. 16).
Das Kind erfasst, „dass mit Sprache eine ‘andere’ Welt geschaffen werden kann“ (Ulich 2006, S. 259).
„Das Bilderbuch ist aufgrund seiner stehenden Bilder und der verweilenden Wahrnehmung, die es bietet, geeignet, das Kind in die symbolischen Formen fiktionaler Bild- und Textwelten einzuführen“ (Thiele 2000, S. 238). Kinder werden auf die Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Fiktionalität vorbereitet (vgl. Wieler 1994, S. 99).
Kinder werden zur Fantasie angeregt und erhalten gleichzeitig Wissen über die Welt. In der Vernetzung von beidem entsteht „eine Vorstellung von der kompakten Wirklichkeit“ (Graf 2007, S. 35).
Kinder lernen sich auf das Erzählte einzulassen und zu den sprachlich vorgestellten Figuren Beziehungen aufzunehmen. Unverzichtbar Mechanismen für die literarische Entwicklung, wie Identifikation und Distanzierung werden entwickelt (vgl. Graf 2007, S. 72).
Kinder lernen die vielfältigen Beziehungen von Bild und Text kennen (vgl. Ulich 2006, S. 259; vgl. Kapitel 5.3).
Die Kompetenz von „visual literacy“ (Kain 2006, S. 31) wird ausgeprägt, d.h. „die Fähigkeit [..] visuelle Informationen bzw....