In diesem Kapitel soll der gesetzliche Auftrag der Hilfe zur Erziehung beleuchtet werden und die Struktur der Hilfen zur Erziehung in der Bundesrepublik Deutschland skizziert werden.
Des Weiteren soll ein Überblick gegeben werden, in welchen Lebenslagen sich die Kinder und Jugendlichen befinden, an die sich die Hilfe zur Erziehung richtet.
Zunächst wird aber darauf eingegangen, welche Altersphasen in dieser Arbeit in den Blick genommen werden. Die These dieser Arbeit ist, dass es Lebenserfahrungen sind, die zur Entwicklung einer Identität und damit zur Persönlichkeit führen. Das Bild von sich selbst, das Jugendliche entwickeln, würde somit von Bedingungen und Erfahrungen beeinflusst, die sie schon in der Kindheit gemacht haben. Eine Thematisierung der Identitätsentwicklung erfordert also die Betrachtung von Kindheit und Jugend.
Im Sinne des § 7 Abs. 1 Nr. 1 und 2 Sozialgesetzbuch VIII (SGB VIII) „ist Kind, wer noch nicht 14 […], Jugendlicher, wer 14, aber noch nicht 18 Jahre alt ist“ (Deutscher Bundestag 01.01.1991)[1]. Für eine sozialwissenschaftliche Betrachtung ist es jedoch hilfreich, den Wechsel von der Kindheit zur Lebensphase Jugend schon früher, mit Beginn der Pubertät anzusetzen. Die biologischen Veränderungen der Pubertät können sich bereits im Alter von 10 Jahren bemerkbar machen (Grob und Jaschinski 2006, S. 36). Außerdem markiert dieses Alter auch eine wichtige soziale Weichenstellung in unserer Gesellschaft, indem Kinder von der Grundschule in die weiterführende Schule überwechseln (vgl. Bundesministerium für Familien, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) 2013, S. 157). Diese Arbeit verbindet deshalb den Übergang von der Kindheit zur Jugendphase mit dem 10. Lebensjahr – übrigens im Gleichklang mit dem 14. Kinder- und Jugendbericht (ebd., S. 136) – und das Ende des Jugendalters mit dem 18. Lebensjahr, weil ab diesem Alter die Hilfen zur Erziehung nur noch in individuell besonderen Lebenssituationen (vgl. § 41 Abs. 1 SGB VIII) gewährt werden und die meisten Jugendlichen die allgemeinbildende Schule abschließen oder bereits verlassen haben. Dabei wird nicht außer Acht gelassen, dass aus soziologischer Perspektive argumentiert werden kann, dass sich die Lebensphase ,Jugend‘ bei manchen Menschen fast bis zum 30. Lebensjahr hinziehen kann (vgl. Hurrelmann 2007, S. 16 f.).
Die Erörterungen dieser Arbeit zum Aufwachsen und zur Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind oftmals für beide Altersphasen von Bedeutung. Daher wird in dieser Arbeit oftmals der Begriff ,junger Mensch‘ verwendet, wenn sowohl Kinder als auch Jugendliche gemeint sind.
Das SGB VIII formuliert mit seinem ersten Paragraphen eine „Generalklausel und Leitnorm […] für den Bereich der öffentlichen Jugendhilfe“ (Bundesregierung, S. 47).
In § 1 Abs. 1 SGB VIII heißt es:
„Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.“
In Abs. 3 wird formuliert:
„Jugendhilfe soll zur Verwirklichung des Rechts nach Absatz 1 insbesondere
[…] junge Menschen in ihrer individuellen und sozialen Entwicklung fördern […]“
Durch das Gesetz wird also ein „eigenständige[r] Handlungsauftrag der Jugendhilfe formuliert“ (Münder 2009, S. 64). Das sozialpädagogische Leitbild besteht darin, junge Menschen auf ihrem Weg zu einer „zugleich autonomen und sozial eingebundenen Persönlichkeit“ unterstützend zu begleiten (ebd., S. 65). In Kapitel 3 soll geklärt werden, welche Begriffe für die sozialwissenschaftliche Erörterung dieses gesetzlichen Auftrags eine Rolle spielen.
Der § 1 SGB VIII formuliert noch weitere Handlungsziele für die Jugendhilfe, wie zum Beispiel die Beratung und Unterstützung von Erziehungsberechtigten in ihrer Erziehungsverantwortung, Gewährleistung des Kindeswohls und zu positiven Lebensbedingungen für junge Menschen und Familien beizutragen.
Für die Entscheidung, ob Hilfen zur Erziehung als staatliche Leistung gewährt werden, ist der Aspekt der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung von zentraler Bedeutung, wie aus § 27 SGB VIII deutlich wird. Dieser Paragraph formuliert einleitend, dass Personensorgeberechtigte – also zumeist die Eltern – bei der Erziehung eines Kindes oder Jugendlichen Anspruch auf Hilfe zur Erziehung haben, „wenn eine dem Wohl des Kindes oder des Jugendlichen entsprechende Erziehung nicht gewährleistet ist und die Hilfe für seine Entwicklung [Hervorh. kursiv J.W.] geeignet und notwendig ist“ (§ 27 Abs. 1 SGB VIII). Diese Arbeit will sich daher mit dem konkret an die Erziehungshilfen formulierten Auftrag beschäftigen, junge Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen. Auch wenn dieses Ziel nicht abgekoppelt von den weiteren oben genannten Handlungszielen der Jugendhilfe (vgl. § 1 Abs. 3 SGB VIII) erreicht werden kann, sind die Erziehungshilfen mit ihrem breit gefächerten Leistungsangebot an diesem Punkt besonders in ihrer pädagogischen Fachlichkeit gefordert.
Die Erziehungshilfen sind ein zentraler Bestandteil der Kinder und Jugendhilfe. Die Hilfe wird vom örtlich zuständigen Jugendamt gewährt, wenn die oben genannten Anspruchsvoraussetzungen des § 27 Abs. 1 SBG VIII vorliegen (vgl. §§ 85 Abs. 1, 86 i.V.m. § 69 Abs. 1, 3 SGB VIII). Welche Hilfe im Einzelfall geeignet und notwendig ist, wird gemäß § 36 SGB VIII im sogenannten Hilfeplanverfahren zwischen den betroffenen Familien und jungen Menschen, den Fachkräften des Jugendamtes und den beteiligten Einrichtungen und Diensten vereinbart, wobei diejenigen, an die die Hilfe adressiert ist, hinsichtlich der leistungserbringenden Einrichtung und der Gestaltung der Hilfe ein Wunsch- und Wahlrecht gemäß § 5 SGB VIII haben (vgl. Trenczek 2009, S. 267).
Die einzelnen Handlungsfelder der Hilfen zur Erziehung lassen sich unterteilen in ambulante, teilstationäre und stationäre Hilfeformen, wobei einzelne Kommunen die Hilfe teilweise „flexibel“ konzipieren, so dass sie nicht allein einer der drei Säulen zugerechnet werden kann (vgl. Albus 2012, S. 478 f.). Alle Handlungsfelder sind in den Vorschriften definiert, die auf den – oben erwähnten – § 27 SGB VIII folgen. Indem diese Bestimmung allen Handlungsfeldern der Erziehungshilfen vorangestellt ist, wird deutlich, dass die Erziehungshilfen, unabhängig vom konzeptionellen und methodischen Vorgehen in den einzelnen Hilfeformen, in der Förderung der Persönlichkeitsentwicklung einen gemeinsamen Auftrag haben. Es ist also nicht Thema dieser Arbeit, zwischen den einzelnen Hilfeformen zu differenzieren. Gleichwohl werden nachfolgend überblicksartig die Teilbereiche der Erziehungshilfen anhand der gesetzlichen Bestimmungen vorgestellt, da die anschaulichen Formulierungen des Gesetzes einen guten Einblick in die Struktur und die verschiedenen Aufgabenstellungen der Hilfen zur Erziehung bieten. Dabei ist zu beachten, dass hier das Gesetz keine abschließende Auflistung möglicher Hilfen vornimmt, sondern dem Jugendamt als Hilfe gewährender Behörde den Freiraum lässt, einzelne Hilfen miteinander zu kombinieren, ineinander übergehen zu lassen aber auch individuelle Hilfen für den jeweiligen Einzelfall zu entwerfen (vgl. Trenczek 2009, S. 278), wodurch die oben genannte Flexibilisierung der Hilfe möglich wird.
Das Gesetz nennt folgende ambulante Hilfen: Erziehungsberatung, um „Kinder, Jugendliche, Eltern und andere Erziehungsberechtigte bei der Klärung und Bewältigung individueller und familienbezogener Probleme und der zu Grunde liegenden Faktoren, bei der Lösung von Erziehungsfragen sowie bei Trennung und Scheidung [zu] unterstützen“ (§ 28 SGB VIII);
Erziehungsbeistandschaft, um „das Kind oder den Jugendlichen bei der Bewältigung von Entwicklungsproblemen möglichst unter Einbeziehung des sozialen Umfelds [zu] unterstützen und unter Erhaltung des Lebensbezugs zur Familie seine Verselbstständigung [zu] fördern“ (§ 30 SGB VIII);
Sozialpädagogische Familienhilfe, um durch intensive Betreuung und Begleitung Familien in ihren Erziehungsaufgaben, bei der Bewältigung von Alltagsproblemen, der Lösung von Konflikten und Krisen sowie im Kontakt mit Ämtern und Institutionen [zu] unterstützen und Hilfe zur Selbsthilfe [zu] geben (§ 31 SGB VIII);
soziale Gruppenarbeit, um „Kindern und Jugendlichen bei der Überwindung von Entwicklungsschwierigkeiten und Verhaltensproblemen [zu] helfen“ und deren „Entwicklung […] durch soziales Lernen in der Gruppe [zu] fördern“ (§ 29 SGB VIII).
Als teilstationäre Hilfe zur Erziehung ist die Erziehung in einer Tagesgruppe konzipiert. Sie „soll die Entwicklung des Kindes oder des Jugendlichen durch soziales Lernen in der Gruppe, Begleitung der schulischen Förderung und Elternarbeit unterstützen und dadurch den Verbleib des Kindes oder des Jugendlichen in seiner Familie sichern“ (§ 32 SGB VIII).
Die stationären Hilfeformen werden unterschieden in die...