Droht dem deutschen „Jobwunder“ die baldige Insolvenz?[1] Muss die Zeitarbeitsbranche Milliarden nachzahlen?[2]
Dieses Thema beschäftigt spätestens seit dem 14. Dezember 2010 nicht nur eine ganze Branche, sondern auch die Rechtsprechung. Der 1. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hat in seiner Entscheidung[3] zur Tariffähigkeit der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit und Personal-Service-Agenturen (CGZP) einen unter Umständen richtungsweisenden Beschluss für die gesamte Zeitarbeitsbranche[4] gefällt. Die CGZP ist nicht tariffähig. Ihr fehlt somit die rechtliche Fähigkeit zum Abschluss wirksamer Tarifverträge, die normative Wirkung entfalten.
Um die wirtschaftliche und rechtliche Relevanz und Tragweite des Beschlusses einzuordnen, muss die Entwicklung der Zeitarbeit in Deutschland der letzten Jahrebetrachtet werden.Die Zahl der Leiharbeitnehmer[5] in Deutschland hat sich von rund 338.000 im Jahr 2000 auf rund 824.000 Ende 2010 mehr als verdoppelt.[6]Gemessen an der gesamtdeutschen Beschäftigtenzahl von rund 43,5 Mio.[7]beläuft sich der Anteil der Leiharbeitnehmer auf nur ca. zwei Prozent,allerdings ist Leiharbeit ein weitverbreitetes und gern genutztes Instrument zur Flexibilisierung in Unternehmen. Zeitgleich stieg die Zahl der Verleihbetriebe auf rund 16.600.[8]
Ein wesentlicher Grund für diese Entwicklung war, dass das Arbeitnehmerüberlassungsrecht in Deutschland Ende 2002 grundlegend liberalisiert wurde.[9]Seit 2003 können Leiharbeitnehmer zeitlich unbegrenzt überlassen werden.[10]
Neben der Streichung der Überlassungshöchstdauer fanden auch der„Equal treatment“- und„Equal pay“-Grundsatz, also die Gleichstellung von Leiharbeitnehmern und Stammarbeitnehmern, Einzug in das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG).
Die Leiharbeitnehmer haben einen gesetzlichen[11] Anspruch auf die geltenden wesentlichen Arbeitsbedingungen („Equal treatment“)einschließlich der Vergütung („Equal pay“),vergleichbarer Stammarbeitnehmer im Entleihbetrieb. Von diesem gesetzlichen Anspruch kann zu Lasten der Leiharbeitnehmer nurdurch einen entsprechendwirksamen Tarifvertrag abgewichen werden. Nicht tarifgebundene Verleiher und Leiharbeitnehmer können die entsprechende Anwendung von wirksamen tarifvertraglichen Regelungen individualvertraglich im Arbeitsvertrag vereinbaren, das heißt diese Abweichungsmöglichkeit auch ohne Tarifbindung nutzen.
EntsprechendeTarifverträge, die den gesetzlichen „Equal pay“-Anspruch abbedingen, wurden unabhängig voneinander durch den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) und die CGZP mit den unterschiedlichen Arbeitgeberverbänden der Zeitarbeitsbranche abgeschlossen.
Auch die Möglichkeit tarifdispositiv die Entgelte im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung abweichend vom „Equal pay“-Grundsatzzu Lasten der Leiharbeitnehmer anzupassen, hat einen wesentlichen Einfluss auf das Wachstum dieser Branche ausgeübt. Der Kostenvorteil von Leiharbeitnehmern im Vergleich zu den Stammarbeitnehmern ist nicht von der Hand zu weisen.[12] So entfallen die Kosten für Personalbeschaffung, es sind keine Kündigungsfristen einzuhalten oder Abfindungen zu zahlen, es gibt keine Arbeitsausfälle, da Leiharbeitnehmer kurzfristig ersetzt werden können und auch keine unüberschaubaren Personalnebenkosten.
Allerdings könnte sich dieser Kostenvorteil der Vergangenheit aufgrund der im Weiteren beschriebenen Entscheidungen nun als Bumerang für die Zeitarbeitsbranche erweisen.
Der 1. Senat des BAG hat in seiner Entscheidung vom 14.12.2010 die Tariffähigkeit der CGZP letztinstanzlich verneint.[13]Doch welche Konsequenzen hat diese Entscheidung für die Zeitarbeitsbranche? Geht es wirklichen um Milliarden Forderungen? Droht einer ganzen Branche womöglich die Insolvenz?
Die Entscheidung hat eine Reihe von noch vollkommen offenen und möglicherweise weitreichenden Fragen aufgeworfen, die dabei den „Equal pay“-Grundsatz in einen ganz neuen Fokus für die Zeitarbeitsbranche stellen.
Welche Folgen diese Entscheidung für die betroffenen Leiharbeitnehmer, ihre Verleiher und Entleiher sowie die Sozialversicherung mit sich bringt ist umstritten. Es könnte um Milliardenbeträge gehen, jedoch sind die Rechtsfragen hierzu immer noch ungeklärt:
1. Welche Reichweite hat die BAG-Entscheidung?
2. Gibt es Vertrauensschutz für die Verwender dieser Tarifverträge?
3. Wer kann welche Ansprüche und in welcher Höhe geltend gemacht?
4. Greifen Ausschlussfristen und wenn ja, wann?
5. Sind mögliche Ansprüche verjährt?
6. Wie weit geht die Haftung für die Sozialversicherungsbeiträge?[14]
Ziel der vorliegenden Master-Thesis ist es, diese Fragen (1 bis 5) im Hinblick auf die Bedeutung des „Equal-Pay“-Grundsatzes (im Speziellen das Arbeitsentgelt)für die Zeitarbeitsbranche zu bewerten und zu zeigen, welche möglichen Konsequenzen drohen bzw. wie mit diesen zu verfahren ist.
Ausgehend von der Frage, welche Auswirkungen die Tarifunfähigkeit der CGZP auf die von ihr geschlossenen Tarifverträge hat, könnten sich hieraus möglicherweise Ansprüche für die im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung beteiligten Parteien ergeben.
Sind dieTarifverträge rückwirkend (ex tunc), also von Anfang an, oder nur gegenwartsbezogen (ex nunc), also erst seit der BAG-Entscheidung, unwirksam?
Aus der Beantwortung dieser Fragestellungen heraus leiten sich mögliche Ansprüche der Leiharbeitnehmer ab. Haben diese einen Nachzahlungsanspruch auf einen möglichen Differenzlohn, also die Differenz zwischen dem tarifvertraglichen Arbeitsentgelt und dem im Entleihbetrieb gezahlten Vergleichsentgelt?
Falls dieses bejaht werden kann, stellt sich darüber hinaus die Frage,für welchen Zeitraum und in welcher Höhe dieser Anspruch bestehtund unter welchen Voraussetzungen dieser geltend gemacht werden kann.
Abschließend stellt sich die Frage,ob diese Ansprüche rechtlichdurchsetzbarsind.
Um die unter Kapitel 1.2 aufgegriffenen Fragen zu beantworten, werden im ersten Teil (Kapitel 2) eingehend die rechtlichen Rahmenbedingungen der Arbeitnehmerüberlassung aufgezeigt.Hierzu zählen die relevanten Aspekte des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes, im Speziellen der Gleichstellungsgrundsatz („Equal treatment“ und „Equal pay“) und die tarifrechtliche Öffnungsklausel. Weiter werden die Systematik der Arbeitnehmerüberlassung und die einzelnen Rechtsverhältnisse der im Rahmen der Arbeitnehmerüberlassung beteiligten Parteien sowie der tarifrechtliche Rahmen dargestellt.
Im zweiten Teil (Kapitel 3) werden die Historie und die Ausgangslage zur Problemstellungsowie der Beschluss des 1. Senats des BAG[15] mit den wesentlichen Entscheidungsgründen kurz zusammengefasst.
Ausgehend von der BAG-Entscheidung werden die möglichen Konsequenzen dieser Entscheidung abgeleitet.
Der dritte Teil (Kapitel 4) setzt sich mit dem Entstehen und dem Umfang möglicher Nachzahlungsansprüche auseinander undder Frage, unter welchen Voraussetzungen diese geltend gemacht werden können.
Im vierten Teil (Kapitel 5) werden die Grenzen für die Durchsetzung des „Equal pay“-Anspruches unter Berücksichtigung möglicher bestehender Ausschlussfristen, der möglichen Verwirkung bereits entstandender „Equal pay“-Ansprüche sowie die mögliche Verjährung untersucht.
Im fünften Teil (Kapitel 6)werden Handlungsempfehlungen für die Verleiher unter Beachtung der in Kapitel 4 und 5 ermittelten Ergebnisse aufgezeigt.
Der sechste Teil (Kapitel 7)schließt die vorliegende Master-Thesis mit einer Zusammenfassung aller Ergebnisse ab.
Der siebte Teil (Kapitel 8) gibteinen kurzen Ausblick auf die, über diese...