Um eine Verständnisbasis zu schaffen und ein mehr oder weniger umfassendes Bild von der Anorexia nervosa entstehen zu lassen sowie die Ernsthaftigkeit und das zerstörerische Potenzial der Essstörung zu verdeutlichen, wird im Folgenden das Erscheinungsbild der Anorexie vorgestellt und danach auf die epidemiologischen Daten, den möglichen Verlauf und die komorbiden Störungen, die bei den Erkrankten zu Tage treten können, eingegangen.
Nun werden die Veränderungen, die sich im Laufe der Krankheit vollziehen, dargestellt. Das Wissen darüber kann sowohl einem Außenstehenden als auch einem Professionellen eine wertvolle Hilfe dabei leisten, die Essstörung Anorexia nervosa zu erkennen und zu identifizieren.
Das zentrale Merkmal der Anorexia nervosa ist das extreme Untergewicht (BMI[5] ≤ 17,5 kg/m2), das durch die Betroffenen selbst herbeigeführt wird (vgl. BZgA 2012b, URL). Häufig fallen die erkrankten Mädchen durch ihren extrem abgemagerten Körper auf (vgl. ebd., Kock 2008: 15). Dies sind jedoch Mädchen und junge Frauen, deren Krankheit schon einige Zeit besteht (vgl. BZgA 2012b, URL). Sie zählen zu den extremen Fällen und befinden sich bereits im fortgeschrittenen Stadium (vgl. Kock 2008: 15).
Auf die Mangelernährung und die lang andauernde unzureichende Nährstoffzufuhr reagiert ihr Körper mit der Einsparung der Energie. Er reduziert seinen Grundumsatz und verbraucht für die Versorgung der Organe die geringstmögliche Energiemenge, was dazu führt, dass die Betroffenen weniger an Kalorien benötigen, um ihr Gewicht zu halten. Gleichzeitig brauchen sie aber auch weniger Kalorien, im Vergleich mit einem gesunden Menschen, um weiter an Gewicht zu verlieren. Kock spricht hier von einem „Teufelskreis“, in dem die erkrankten Mädchen gefangen sind, weil sobald die Nährstoffzufuhr nur leicht erhöht wird, die sofortige Gewichtszunahme eintritt (vgl. ebd.). Genau davor haben aber die Betroffenen große Angst und streben schonungslos danach, dies zu verhindern (vgl. Vandereycken & Meermann 2003: 20).
Diese Energiesparprozesse des Körpers sind unmittelbar mit den gesundheitlichen Folgen und somatischen Veränderungen verbunden (vgl. Kock 2008: 15, Biedert 2008: 11). In der Literatur wird unter anderem von den Schwindelgefühlen, Verdauungs- und Kreislaufregulationsproblemen, Durchblutungsstörungen und dem daraus resultierenden Frieren sowie den kalten Händen und Füßen berichtet. Außerdem treten bei den Betroffenen Herzrhythmusstörungen, niedriger Blutdruck, Unruhe, Schwäche und niedrige Körpertemperatur auf (vgl. Kock 2008: 15, Biedert 2008: 11, Jeong 2005: 12). Überdies führt die mangelhafte Nährstoffzufuhr zu trockener Haut und brüchigen Haaren (vgl. BZgA 2011: 43, Jeong 2005: 12). Bei schweren Fällen haben die Hormonstörungen die Flaumbeharrung im Nackenbereich und auf den Unterarmen sowie die Konzentrationsstörungen und Amenorrhoe zur Folge (vgl. Kock 2008: 15). Außerdem lassen sich in Fällen extremer Abmagerung Wasseransammlungen in den Beinen (Ödemen) erkennen (vgl. Jeong 2005: 12). Eine weitere mögliche physische Veränderung stellt die Osteoporose, eine Verringerung der Knochenmasse und –dichte, dar, die aufgrund vom Kalzium- und Vitamin-D-Mangel verursacht werden kann. Zudem können je nach Dauer der Erkrankung Wachstumsstörungen auftreten. Das Schlimmste dabei ist, dass sich beim chronischen Krankheitsverlauf das Wachstum in vielen Fällen nicht mehr nachholen lässt (vgl. BZgA 2011: 44).
Neben den physischen wird die Magersucht von vielfältigen psychischen Veränderungen begleitet, die unter anderem das Essverhalten, den Bezug zu Essen und Gewicht, die Körperwahrnehmung, zwischenmenschliche Beziehungen, Selbstwertgefühle, körperliche Aktivitäten sowie Leistungsorientierung betreffen (vgl. Kock 2008: 15 ff., Baeck 2007: 72 f., Vandereycken & Meermann 2003: 19 ff., Cuntz & Hillert 2008: 54 f., Biedert 2008: 11).
Das auffällige Essverhalten und der Bezug zu Essen und Gewicht
Die Betroffenen haben panische Angst, zuzunehmen und deshalb wiegen sie sich ständig (vgl. Baeck 2007: 72). In manchen Fällen geschieht dies sogar zwanzig bis dreißig Mal am Tag (vgl. Gerlinghoff u.a. 1999: 84). Mit dem weiteren Fortschreiten der Anorexie übernimmt die Waage die Herrschaft über die Erkrankten. „Sie richtet über Gut und Böse, über Leistung oder Versagen, Freude oder Enttäuschung“ (ebd.: 83).
„Immer mehr Gefühle wurden durch Zu- und Abnahme von wenigen hundert Gramm, nicht Kilos, bestimmt“ (Zitat aus Gerlinghoff u.a. 1999: 134).
Obwohl das angestrebte Gewicht, das meistens bereits unterhalb der medizinischen Norm liegt, erreicht wird, wird hartnäckig weiter versucht, Kilos zu verlieren (vgl. Vandereycken & Meermann 2003: 20). Die Zufriedenheit mit dem erreichten niedrigen Gewicht hält nur kurz an und „in ihrem Bemühen, noch dünner zu werden, scheinen sie [die Betroffenen, Anm. O.B.] keine Grenzen zu kennen“ (ebd.).
Die Gedanken der Mädchen kreisen andauernd ums Essen. Sie zählen Kalorien, die sie zu sich nehmen und überlegen, wie sie noch mehr Kalorien einsparen können. Während sie mit Begeisterung meistens kalorienreiche Speisen für andere kochen und zubereiten, schränken sie ihr eigenes Essen extrem ein. Zwecks Gewichtsreduzierung erarbeiten sie einen speziellen Essplan und unterscheiden Nahrungsmittel zwischen „verbotenen“ und „erlaubten“ bzw. „gesunden“. Verboten sind zucker- und fetthaltige Lebensmittel, darunter auch Grundnahrungsmittel wie Brot und Nudeln. Sogar beim „erlaubten“ Joghurt wird der fettreduzierte, wenn überhaupt, verzehrt. Die erkrankten Mädchen haben immer alle möglichen Ausreden parat, um den gemeinsamen Mahlzeiten mit anderen auszuweichen und die Kontrolle nicht zu verlieren (vgl. Kock 2008: 16 ff., Cuntz & Hillert 2008: 54 f., Vandereycken & Meermann 2003: 20 f., Biedert 2008: 11, Baeck 2007: 72). Hierzu eine Patientin:
„Ich vermeide Verabredungen, weil ich möglicherweise in Versuchung gerate, etwas zu essen“ (Zitat aus Cuntz & Hillert 2008: 53).
Die Betroffenen beteiligen sich gerne an den Gesprächen über das Essen, exquisite Restaurants und Gerichte, doch nur solange, bis es ihre eigene Nahrungszufuhr nicht betrifft. Sobald das Letztere geschieht, blocken sie ab oder fangen an, zu lügen. Sie verheimlichen von den anderen, wann, was und wo sie gegessen haben und ziehen es vor, alleine zu essen (vgl. Kock 2008: 20). Dabei lassen sie sich viel Zeit. Sie zerkleinern erstmals minutiös die Nahrung und sortieren sie dann auf ihren Tellern. Manche Mädchen wärmen nach jedem Bissen das Essen erneut auf, andere nehmen in großen Mengen Wasser und Salat zu sich, um den Hunger zu verdrängen (vgl. Cuntz & Hillert 2008: 55, Kock 2008: 20).
Die Körper-Schema-Störung
Die erkrankten Mädchen nehmen ihren eigenen Körper, besonders den Bauch, die Hüften und Beine, verzerrt wahr. Trotz des extremen Untergewichts fühlen sie sich zu dick. Kock spricht von dem Realitätsverlust in Bezug auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers. Je mehr die Betroffenen abnehmen, desto verzerrter wird ihre Wahrnehmung und desto größer die Angst vor dem Dick-Werden (Kock 2008: 15 f., Reich 2003a: 12). Neben dem Körper werden auch die Hunger- und Sättigungsgefühle gestört wahrgenommen (vgl. Kock 2008: 15).
„Ich habe mich nie als zu dünn empfunden, vor dem Zunehmen hatte ich Angst. Außerdem hatte ich auch Angst, dass ich nicht mehr aufhören kann zu essen, sobald ich damit anfange. Ich hatte kein Sättigungsgefühl …, wenn ich mich voll stopfte, dann hab´ ich gegessen bis mir der Magen wehtat“ (Zitat aus Kock 2008: 15).
Die körperlichen Aktivitäten, übermäßige Leistungsorientierung und keine Krankheitseinsicht
Ungeachtet des starken Untergewichts behaupten die erkrankten Mädchen und jungen Frauen, dass sie sich gut und fit fühlen. Sie bemühen sich bis zuletzt, überdurchschnittliche Leistungen zu vollbringen, sei es in der Schule, im Studium oder im Beruf. Geleitet von dem intensiven Wunsch, möglichst viele Kalorien zu verbrennen, treiben sie exzessiv Sport bis zur völligen Erschöpfung. Sie sind ständig in Bewegung, sodass sie für die Angehörigen nahezu „unverwüstlich“ erscheinen (vgl. Cuntz & Hillert 2008: 54 f., Vandereycken & Meermann 2003: 21, Biedert 2008: 11).
„Sitze nie, wenn du stehen, stehe nie, wenn du gehen, gehe nie, wenn du...