In diesem Kapitel werden die theoretischen Grundlagen gelegt, um in den folgenden Kapiteln die Arbeitsmärkte in den Volkswirtschaften von Deutschland, Großbritannien und Finnland zu analysieren und zu Erscheinungen auf dem Arbeitsmarkt, die vor allem Ältere[1] betreffen, Erklärungen zu liefern. Die relevanten Theorien werden kurz erläutert und ihr jeweiliger Bezug zu älteren Teilnehmern am Wirtschaftsleben wird dargestellt.
Der Arbeitsmarkt ist im Sinne der neoklassischen Theorie ein Markt wie jeder andere. Es herrschen Angebot und Nachfrage nach Gütern, welche mittel- bis langfristig zu einem Marktgleichgewicht führen.[2] Grundannahme ist dabei der sogenannte Homo oeconomicus, welcher ein einzelnes Wirtschaftssubjekt darstellt, das versucht, seinen eigenen Nutzen zu maximieren (Eigennutzprinzip). Es werden dazu mehrere Prämissen an das Wirtschaftssubjekt sowie an den Markt gestellt. So ist der Marktteilnehmer vollkommen informiert, handelt vollkommen rational, kann unendlich schnell auf Veränderungen reagieren und ist uneingeschränkt mobil. Auf dem Markt herrschen Privateigentum, vollkommene Konkurrenz, Transparenz und Homogenität. Als Allokationsinstrument dient der Preis, welcher das Handeln der Marktteilnehmer beeinflusst und diese zu einem Bieterprozess veranlasst, bis ein Gleichgewichtspreis entsteht, der für alle Marktteilnehmer ein Optimum darstellt.[3]
Überträgt man das neoklassische Modell auf den Arbeitsmarkt, so ergibt sich im Prinzip ein ähnliches Bild. Es wird hier nur ein spezieller Markt betrachtet, auf dem ausschließlich das Gut „Arbeit“[4] gehandelt wird, welches von den Unternehmen nachgefragt und von den Arbeitern angeboten wird. Der Preis ist der Lohn[5], der für die Arbeit von den Unternehmen gezahlt bzw. von den Arbeitern verlangt wird. Die speziellen Prämissen auf dem neoklassischen Arbeitsmarkt sind:
Alle Akteure verhalten sich rational (es wird immer so gehandelt, dass der eigene Nutzen maximiert wird, z.B. werden „Bauchentscheidungen“ oder Fairnessprinzipien ausgeblendet)
Vollkommene Konkurrenz der Arbeitgeber und Arbeitnehmer (es existieren keine Wettbewerbsbeschränkungen oder Barrieren)
Alle Akteure sind homogen (sie sind gleich produktiv und jederzeit austauschbar)
Vollkommene Transparenz (alle sin über die Arbeitssituation, wie z.B. Arbeitsbedingungen und Lohnsätze, vollkommen informiert)
Die Arbeitnehmer sind uneingeschränkt mobil (sie wechseln sofort dorthin, wo sie bessere Arbeitsbedingungen finden)
Unendlich schnelle Reaktionsgeschwindigkeit (der Lohn passt sich augenblicklich neuen Bedingungen an)
Die Unternehmen setzen ihren gewinnmaximalen Output immer ab[6]
Verhalten sich alle Teilnehmer nach diesen Prämissen, so befinden sich das Arbeitsangebot und die Arbeitsnachfrage in einem Gleichgewicht: Auf dem Markt herrscht Vollbeschäftigung bei einem Gleichgewichtslohn. Laut neoklassischer Theorie kommt es nur zu einer kurzen Arbeitslosigkeit aufgrund überhöhter Reallöhne, die dann durch den Druck der arbeitslos gewordenen Arbeitnehmer sinken (sie wollen wieder arbeiten und bieten ihre Arbeitskraft zu einem Lohn unterhalb des momentanen Reallohnsatzes an), was zu einem neuen Gleichgewicht zwischen Arbeitsangebot und -nachfrage mit einem niedrigeren Gleichgewichtslohn führt.
Abbildung 1: Neoklassischer Arbeitsmarkt[7]
Vor allem in Bezug auf ältere Arbeitnehmer ist interessant, dass es laut neoklassischer Theorie nur dann zu längerer Arbeitslosigkeit kommt, wenn sich ein Arbeitnehmer freiwillig dafür entscheidet. Dies wirft die Frage auf, wann es sich ein Wirtschaftssubjekt leisten kann, freiwillig arbeitslos zu sein, also auf Einkommen zu verzichten, das es eigentlich zur Befriedigung seiner Bedürfnisse, oder einfach gesprochen, zum Leben (Nahrung, Wohnen, sonstiger Konsum etc.) braucht. Natürlich kann es darauf verzichten, wenn es ein Transfereinkommen bezieht, das zur Befriedigung der individuellen Bedürfnisse reicht. Im Falle eines Älteren wären das z.B. eine vorzeitige Rente, Vorruhestandsgeld oder das Arbeitslosengeld bis zur Rente. Diese „Störungen“[8] könnten ein Grund sein, warum sich ältere Erwerbspersonen entscheiden, nicht mehr zu arbeiten.
Zur Erklärung einer freiwilligen Arbeitslosigkeit älterer Arbeitnehmer (bei Transfereinkommen) kann auf mikroökonomischer Ebene die Grenznutzentheorie herangezogen werden. Schaut man sich die Alternativen an, die ein einzelnes Wirtschaftssubjekt hat, dann kann es bei einem gegebenen Zeitbudget („der Tag hat nur 24 Stunden“) zwischen Arbeit und Freizeit bzw. Konsum wählen. Es wird angenommen, dass Arbeit Arbeitsleid verursacht, also einen negativen Nutzen bringt, und nur Freizeit einen positiven Nutzen stiftet. Ebenfalls als Nutzen stiftend wird der Konsum angesehen, den sich ein Arbeitnehmer mit seinem Einkommen leisten kann. Die beiden Nutzen stiftenden Güter sind Substitutionsgüter, d.h., möchte der Arbeitnehmer von dem einen Gut mehr, muss er auf das andere verzichten.[9] Zur Verdeutlichung: Er könnte also entweder seine gesamte, zur Verfügung stehende Zeit, arbeiten, hätte dann keine Freizeit mehr und könnte dafür in Höhe seines gesamten Realeinkommens konsumieren, oder er geht gar nicht mehr arbeiten, hat somit maximale Freizeit, aber kann sich keinen Konsum mehr leisten. Welche Kombination beider Güter wählt man nun? Natürlich die, die den Nutzen maximiert. Die Aufteilung beider Güter wird durch das Marginalprinzip bestimmt. Der zusätzliche Nutzen (Grenznutzen), der mit der letzten Arbeitseinheit erreicht wird (ausgedrückt in möglichen Konsum) muss gleich dem entgangenen Nutzen der letzten geopferten Einheit Freizeit sein. Man tauscht beide Güter also so lange aus, bis beide Grenznutzen gleich sind.[10] Wie wichtig einem Freizeit oder Konsum ist, muss jedes Individuum selbst entscheiden. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist das Alter eine Determinante, die dieses, und auch viele andere Verhältnisse von Substitutionsgütern, bestimmt. Die Grenzen dieses Austauschverhältnisses werden durch die sogenannte Budgetgerade gekennzeichnet, die die beiden Extreme (maximale Freizeit oder maximaler Konsum) verbindet.[11] Abbildung 2 verdeutlicht diesen Sachverhalt. Vor allem kann gezeigt werden, warum Individuen, wenn sie ein Transfereinkommen erhalten, dazu neigen können, sich aus dem Arbeitsleben zurückzuziehen.
Abbildung 2: Budgetgerade ohne und mit Transfereinkommen[12]
Erhält man ein Transfereinkommen, so hat man, wenn man das gleiche Arbeitspensum leistet, mehr Realeinkommen (Y/Pm) zur Verfügung, um zu konsumieren. In der Abbildung wird dies durch die Verschiebung der Budgetgerade von BG nach BGm verdeutlicht. Geht man aber davon aus, dass ein Individuum nur einen bestimmten Konsum (C*) braucht, um seine Bedürfnisse zu befriedigen, welches auch durch das zweite Gossensche Gesetz[13] implizit gesagt belegt werden kann, dann kann sich ein Individuum leisten, sein Freizeitpensum zu erhöhen, also weniger zu arbeiten (Verschiebung von F zu Fm), wenn es ein Transfereinkommen bezieht. Reicht das Transfereinkommen sogar, um C* zu gewährleisten, muss nicht mehr gearbeitet werden.
Natürlich betrifft dieser Sachverhalt nicht nur Ältere. Diese beziehen jedoch mit der Rente auf jeden Fall ein Transfereinkommen, und der empfundene Nutzen von Freizeit nimmt im Gegensatz zur Bedeutung von Arbeit und Einkommen mit zunehmendem Alter zu.[14] Die kann z.B. durch die Abnahme der physischen und auch psychischen Leistungsfähigkeit erklärt werden und den daraus erwachsenden Bedarf an Erholung. Eine Theorie findet sich in dem Differenzmodell, welches das Defizitmodell (in der Wissenschaft) abgelöst hat. Das Defizitmodell besagte, dass die Abnahme der Leistungsfähigkeit mit dem Alter quasi eine Gesetzmäßigkeit ist und unbeeinflussbar und irreversibel vonstatten geht. Das Differenzmodell bestätigt die Annahme einer Leistungsminderung mit zunehmendem Alter, geht jedoch von einem individuellen aber keinem automatischen Verlauf eines jeden Menschen aus.[15]
Eine der bedeutendsten Theorien in der Personalwirtschaftslehre – und wie in diesem Abschnitt gezeigt wird, die wohl bedeutendste Theorie, die ältere Arbeitnehmer betrifft – ist die Humankapitaltheorie, die auf Gary S. Becker aus dem Jahr 1962 zurückgeht. Ansätze, den „Wert eines Menschen“ bzw. den Wert der menschlichen Arbeit zu ermitteln, gab es schon wesentlich früher. Doch erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Humankapital (HK) als das begriffen, als was es heute verstanden wird: als die Fähigkeiten, Kenntnisse, Qualifikationen etc....